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Das Jagger-Richards-Songbuch (5): Lady Jane

In welcher Sprache soll man singen? Vor diesem Dilemma standen die ersten britische Rock-Gruppen, die sämtlich als Cover-Bands begannen. Ihre Vorbilder, Elvis und die Everlys, Chuck Berry und die Chicagoer Bluesmänner, sangen in diversen amerikanischen Dialekten, die zu unterscheiden wahrscheinlich die Engländer – die ihrerseits sehr wohl zwischen sechs oder sieben heimatlichen Dialekten und Soziolekten unterscheiden konnten – überfordert hätte.

Frühere britische Nachahmer amerikanischer populärer Musik hatten die Sprache transponiert. Die britischen Jazz- und Salonsänger der 1920er und 1930er Jahre wählten die Sprache ihres Oberklassenpublikums: Paul McCartney parodiert sie im Lied „Honey Pie“. Die Dixieland-Bands, die in den 1950er Jahren einen Boom erlebten, übernahmen die Tradition, wie man etwa beim Liverpooler Jazz-Sänger und Kulturkritiker George Melly hören kann, mischten aber zuweilen etwas vom jeweiligen Lokaldialekt bei. Der Erfinder und Popularisator des Skiffles, Lonnie Donegan, der als Banjospieler in Chris Barbers Dixieland-Kapelle anfing, sang in einem ganz eigenen Dialekt, einem Londoner Cockney mit schottischem Einschlag, etwa auf „My Old Man’s A Dustman“ – Mein Alter ist’n Müllmann. Auf den allerersten Aufnahmen der „Quarrymen“, der späteren Beatles, die als Skiffle-Gruppe anfingen, hört man, wie John Lennon, der als Mittelschichtkind natürlich „the Queen’s Englisch“ sprechen sollte und konnte, Lonnie Donegans Hit „Rock Island Line“ – komponiert vom amerikanischen Blueser Leadbelly – im Geiste Donegans im Liverpooler Dialekt singt, wie zwölf Jahre später den Song über die Hure „Maggie Mae“ auf dem Beatles-Album „Let it Be“.

Doch mit dem Rock’n’Roll übernahmen Gruppe wie die Beatles auch den Dialekt ihrer amerikanischen Vorbilder, wenn auch ein wenig verschämt, so dass meistens so etwas wie ein „mittelatlantischer“ Duktus dabei herauskam. Einige Gruppen – wie etwa Gerry And The Pacemakers oder Herman’s Hermits – gaben das gleich wieder auf und nutzten den heimischen nordenglischen Dialekt; andere – wie Eric Burdon von den Animals, Van Morrison von Them oder Mick Jagger von den Rolling Stones – entwickelten einen Kunstdialekt, der irgendwie amerikanisch klang, zugleich aber Elemente ihrer Herkunft bewusst oder unbewusst mitnahm: Newcastle bei Burdon, Belfast bei Morrison, Südlondon bei Jagger. Später entwickelte etwa Sting einen eigenen Stil, der aus dem jamaikanischen Englisch der von ihm bewunderten und zunächst kopierten Ska-Bands abgeleitet ist.

Das Problem als solches war nicht neu. Opern sang man bis ins späte 18. Jahrhundert fast ausschließlich auf Italienisch; Messen auf Lateinisch; Lieder auf Deutsch. Die Singstimme ist nicht die Stimme der Person, sondern der Persona. Übrigens auch in der amerikanischen populären Musik. Frank Sinatra, Dean Martin und Co. bemühten sich um ein möglichst neutrales Englisch, wie die Filmstars ihrer Zeit; Elvis jedoch imitierte den Akzent der Bluesmänner und Gospelprediger, deren Musik er appropriierte: „Weeell since mah babuh lef‘ me, ah foun‘ a new place tuh dwell …“.  Und während die meisten Folk-Singer der 1950er und 1960er Jahre die Musik glätteten und – man denke an das Kingston-Trio oder Peter, Paul and Mary – die Songs im fast akzentfreien amerikanischen Englisch ihres gebildeten Ostküstenpublikums vortrugen, trieb Bob Dylan etwa die Identifikation mit den Hillbillies, Wanderarbeitern und Driftern so weit, dass er nicht nur beim Vortrag alter Lieder aus dieser Tradition deren Sprachduktus imitierte, sondern auch in seinen eigenen Songs einbaute: „The light I never knowed …“ Als ich mit 15 das erste Mal einen Song von Dylan im Radio hörte, dachte ich, der wäre ein uralter Typ, mindestens 40, den man irgendwo im ländlichen Kentucky ausgegraben hätte.

In Deutschland stellte – und stellt sich – die Frage natürlich auch. Cover-Bands sangen und singen in einem mehr oder weniger teutonisch eingefärbten Englisch: meine Lieblinge waren die Berliner „Lords“, deren Eigenkomposition „Poor Boy“ etwa so daherkam: „Wenn ai woss born, ju no, ai kudnt wok or goh, mai maser wörkt oll deh …“ und so weiter. Und wenn man Deutsch sang: Wie? Viele entschieden sich für den heimischen Dialekt, um authentischer zu klingen (und um Silben zu sparen); Udo Lindenberg wiederum erfand wie Bob Dylan einen sofort wiedererkennbaren und leicht zu parodierenden Kunstidiolekt, der ihn freilich auch gefangen hält.

Als britische Gruppen wie die Beatles, Kinks und Rolling Stones mit dem Covern amerikanischer Originale aufhörten und anfingen, ihr eigenes Material zu schreiben, stellte sich die Frage, in welchem Idiolekt sie diese Songs singen sollten. Die meisten entschieden sich, ihren mittelatlantischen Dialekt beizubehalten, der in britischen Ohren amerikanisch, in amerikanischen britisch (und darum für beide fremd und sexy) klang.

Einige haben aber auch mit anderen Möglichkeiten gespielt: Ray Davies von den Kinks etwa sang „Dedicated Follower Of Fashion“ 1966 im Stil der frühen britischen Jazz- und Kabarettsänger, und behielt den affektierten Akzent in Songs wie „Sunny Afternoon“ bei. Ginger Baker von Cream sang „A Mother’s Lament“ 1967 und Steve Marriott von den Small Faces „Lazy Sunday Afternoon“ 1968 im schönsten Cockney.  Zu den ersten, die mit anderen Sprach-Möglichkeiten spielten, gehörten die Rolling Stones. Das Album „Aftermath“, aufgenommen 1965 und 1966, beginnt mit „Mother’s Little Helper“, gesungen mit einem leicht Südlondoner Einschlag; dann kommt „Stupid Girl“, gesungen in jenem pseudoamerikanischen Idiolekt, das Jagger erfunden und perfektioniert hat („stoopid“ statt, wie Engländer sagen: „styoopid“; „Im a-talkin“; usw. usf.);  und dann kommt dieser Song: „Lady Jane“, in dem Jagger den Akzent eines englischen Aristokraten aus dem späten 18. Jahrhundert imitiert.

Und das aus künstlerischer Notwendigkeit, denn der Song ist ein Jane-Austen-Roman in drei Strophen oder ein Menuett, bei dem sich in jeder Strophe die bepuderte, mit Perücken, Samt und Seide angetane Figurenkonstellation ändert.  In der ersten Strophe bittet der Sänger – erfolgreich, wie man sehen wird – Lady Jane unterwürfig um ihre Hand und beteuert seine ewige Liebe. In der zweiten verabschiedet er sich von Lady Anne, mit der er anscheinend eine längere Affäre gehabt hat, die er nun abfällig als „abgelaufenes Schauspiel“ bezeichnet. In der dritten unterhält er sich mit seiner wahren Liebe Marie, Annes Kammerzofe, und klärt sie über die wahren Motive seiner kommenden Ehe mit Lady Jane auf: „Ihr Stand ist richtig; mit ihr ist das Leben sicher.“ Die Beziehung mit Marie wird er vermutlich fortsetzen; so sind alle drei Frauen betrogen.

Wie „Mother’s Little Helper“ ist auch Lady Jane eine Anklage gegen die Doppelmoral der britischen Kleinbürger Anfang der 1960er Jahre, die der Jugend die beginnende sexuelle Revolution als unmoralische Zügellosigkeit ankreideten, während sie selbst, wie schon die amoralische Aristokratie des vorviktorianischen Englands, Sex und Ehe als Geschäft begriffen. Was natürlich in Deutschland nicht anders war: Vor der evangelischen Kirche in Tegelort, wo ich als Teenager zur Schule ging, hing lange ein Plakat, das ein Mädchen mit mehreren Jungen zeigte. „Wer wechselt, wird bald Kleingeld“, stand darüber. Deutlicher hätte man den jungen Frauen nicht sagen können, dass ihre „sexuelle Gunst“, wie man sich damals ausdrückte, nichts weiter als eine Ware darstellte, deren Wert durch Verknappung möglichst erhöht werden sollte. Jungen hingegen gestand man zu, dass sie „Erfahrungen sammeln“ wollten, ja mussten. Darunter die Erfahrung, dass Mädchen, die „es taten“, weniger wert seien als jene, die es angeblich nicht taten.

Dadurch, dass Jagger – auch und gerade durch den übertriebenen Akzent seines aristokratischen Taugenichts – die Geschäftsgrundlage der Eheschwüre seines Protagonisten bloßlegt, oder, um mit Karl Marx zu reden, „dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“ hat, zeigt er die andere Seite jener „Langeweile“, an der „alle Mütter“, wie es in „Mother’s Little Helper“ heißt, zugrunde gehen.

Dieser Song, der so verspielt und anachronistisch daherkommt, ist daher neben „Satisfaction“ eine der radikalsten Kritiken des falschen Bewusstseins der muffigen Nachkriegsjahre, das zu ändern die historische Aufgabe des Rock And Roll war.

Wie sang Chuck Berry: „Hail, hail Rock and roll / Deliver me from the days of old.“

 

My sweet Lady Jane
When I see you again
Your servant am I
And will humbly remain
Just heed this plea, my love
On bended knees my love
I pledge myself to Lady Jane

My dear Lady Anne
I’ve done what I can
I must take my leave
For promised I am
This play is run, my love
Your time has come, my love
I pledge my troth to Lady Jane

Oh, my sweet Marie
I wait at your ease
The sands have run out
For your lady and me
Wedlock is nigh my love
Her station’s right my love
Life is secure with Lady Jane

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7 Gedanken zu “Das Jagger-Richards-Songbuch (5): Lady Jane;”

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    Nachtrag:
    …und im Vergleich dazu: ist ein langweiliges Leben als Nicht-Produkt (oder weniger Produkt) mit paar Mothers Little Helper nicht sogar heute die weniger doppelmoralische Wahl?

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    Vielleicht drehe ich wieder eine Schleife zu viel und es ist keine Liedinterpretation. Lady Jane zeigt die Dominanz kommerzieller Aspekte in der Beziehung. Sexuelle, weibliche Gunst als Ware. Stupid Girl behandelt oberflächliche Wesen. Nun ist der Muff der 60er verschwunden, den Ruhm kann dem Rock and Roll keiner nehmen. Durch das Netz wabern nun leicht oder gar nicht bekleidete junge Frauen, Mädchen, die aber im Namen der Eigenbestimmtheit genau leben, was die Stones kritisiert haben. Weibliche Sexualität als Ware. Positiv könnte man sagen, dass es bei einigen kein Kleingeld mehr ist, sondern richtig Kohle und sie (hoffentlich) ihnen auch zugutekommt. Jetzt ist es allerdings nicht so, dass die Leistungsgesellschaft dazu zwingt, Frauen können heuet (im Gegensatz zur muffigen Zeit) auch angezogen Geld selbstbestimmt verdienen. Vielmehr dient zum Beispiel Onlyfans eher der Finanzierung des Stupid Girl Lifestyles. Die Fitness-Videos der Jungs sind ja nicht viel anders. 9% Körperfett und 100 Selfies…und die Inszenierung der Beziehungen der Influenzier…was ich via meiner Töchter von Daggi B gesehen habe, hätte in Lady Jane eine eigene Textzeile verdient. Nicht alle, nicht flächendeckend…mein Eindruck ist, dass der Muff der 60er durch Steroide ersetzt wurde. Es ist ein Fortschritt, dass Frauen ihren Körper nun selbstbestimmt vermarkten können, aber an dem weiblichen Körper als Ware hat sich ja dann nichts geändert. In Sozialen Medien sind alle Teilnehmer Produkte, ich kenne mich da etwas beruflich aus. Und diesmal möchte ich nicht das System beschuldigen, denn ausgerechnet die, die sich von den Zwängen des 9-17 befreit haben, haben sich ja komplett durchkommerzialisiert. Ihre Liebe, ihr Körper…alles ist viel mehr Produkt als es das Leben eines Bankangestellten je war. Unter Folter würde ich vielleicht zugeben, dass schon die heiligen Sex Pistols…nein, so ganz neu ist das alles nicht. Ob das politisch korrekt ist, als alter Sack über Frauenthemen zu reden, ist mir egal, weil man nach wenig Recherche feststellen kann, dass hinter fast jeder nackten jungen Frau ein reicher Mann steht, man kann gerne über die reden. The game is rigged, ob mit oder ohne meine Meinung. Und die mediale Feier der LGBTQBC kann auch spärlich seinen kommerziellen Charakter verbergen. Lady Gaga ist brutalster Kommerz, ob mit oder ohne Regenbogenfahne und der Eintrittspreis ist die Offenlegung von Sexualität und die zur Schau Stellung des Körpers. Wie gesagt, die Situation ist anders als in den 60igern. Es gibt eine Wahl und die Optionen für eine junge Frau, einen jungen Mann, sind unvergleichbar besser als damals. Lady Jane ist heute digital auf Tinder. Warum benehmen sich die (besser viele, es sind bei weitem nicht alle) Leute, als ob die Stones nie gesungen hätten und nennen es dann Freiheit?

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      Weil es Freiheit ist. Die Willensfreiheit schließt die Freiheit ein, Morde zu begehen. Niemand sagt, dass die Freiheit nett, moralisch, erhebend oder dergleichen wäre. Sie folgt aber aus der Menschenwürde.

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    Das Album „Aftermath“ wurde erst 1966 veröffentlicht. „Lady Jane“ ist erst der dritte Titel, der zweite ist „Stupid Girl“.

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      So, ich habe das verbessert. Übrigens ist „Stupid Girl“ ganz großartig. Nur leider textlich so politisch unkorrekt, dass man den Song nicht mehr spielen kann. Vielleicht, wenn man eine Girl Group wäre. Nächstes Leben.

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