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Reifeprüfung oder Abgang … und wohin eigentlich?

Ein  Ritual macht wieder von sich reden ist, fraglich, ob es stattfinden kann: Die Abiturprüfung. Was soll da eigentlich passieren? Es lohnt sich, die Pressefotos der Prüfung einmal genauer unter die Lupe zu nehmen:

Eine Bildinterpretation

Wir blicken ausschnitthaft in einen großen Saal, in dem Einzeltische in acht Kolonnen aufgebaut sind. Jeder Tisch ist mit einem jungen Menschen besetzt, der, ausgestattet mit dem immer gleichen Set an Materialien, vor einer Aufgabe sitzt. Beginn und Ende der Tischreihen lassen sich in dem Ausschnitt nicht ausmachen. Es ist kein Zentrum erkennbar, auf das die Veranstaltung ausgerichtet wäre, kein Administrator oder Referent. Es sind auf jeden Fall sehr viele vereinzelt platzierte Kandidaten und jeder scheint zu wissen, was zu tun ist. Der vorherrschende Eindruck: Jede und jeder sitzt hier als Teil einer Masse, ist aber mit sich und seiner Aufgabe allein. Kollektivität und Vereinzelung gehen Hand in Hand.

Diese Aufnahme aus der Vogelperspektive lässt kaum einen Hintergrund erkennen, dafür aber deutlich den Untergrund, auf dem sich diese Szene abspielt. Es ist der Boden einer Turnhalle. Die Markierungen von Volleyball- und Basketballfeldern zeigen, was hier vor und nach der Prüfung passiert:  Mannschaftsspiele, in denen es um Teamplay, Energie, blitzschnelle Entscheidungen, Risikobereitschaft und schäumende Emotionen geht.

Was für ein Kontrast: Unterkühlte Vereinzelung auf dem Boden rasanter Mannschaftsspiele!

Zum Vergleich werfen wir noch einen Blick auf das chinesische Pendant des Abiturs, die Abschlussprüfung GaoKao:

Erkennen Sie die grundlegenden Unterschiede zum deutschen Abitur?

Nicht wirklich?

Eben!

Die Begründung für dieses eigenwillige Setting ist schnell bei der Hand: Jede soll nachweisen, dass sie „ihren Stoff beherrscht.“ Zum Abschluss meiner Schulzeit am Gymnasium wurde mir vor 50 Jahren ein „Zeugnis der Reife“ ausgestellt. Reifeprüfungen mögen bei der Herstellung von Käse oder im Gemüseanbau ihre Berechtigung haben. Was „Reife“ in der Entwicklung eines Menschen bedeutet, dürfte kaum jemand erklären können. Fest steht dagegen, dass ich mit diesem Zeugnis in der Hand ein Grünschnabel war. Inzwischen haben die Kultusminister sich von der Hybris dermaßen umfassender Menschenurteile verabschiedet und bezeichnen den gleichen Vorgang bescheidener, aber lateinisch(!), als „Abitur“, also als „Abgang“. Allerdings ein Abgang mit Folgen: „Mit dem Bestehen der staatlichen Abschlussprüfung wird die allgemeine Hochschulreife zuerkannt.“

Die Abiturprüfung gilt als Krönung der Schullaufbahn und den jungen Menschen wird eingeredet, nun sei das Schlimmste überstanden und das krachende Leben könne beginnen. Abibälle, Mottowochen, Abizeitungen und Abigags ernähren einen ganzen Industriezweig, der von dieser Illusion lebt.

Nüchtern betrachtet wäre dagegen Bescheidenheit am Platz. Fast ein Drittel der erwartungsfrohen Abiturientinnen bricht später ein Studium wieder ab. Und längst wird der Anspruch der „allgemeinen Hochschulreife“ durch die Praxis der Universitäten delegitimiert. Sie entscheiden mit eigenen fachspezifischen Tests über den Zugang zum Studium. Das Abitur mag man auch mit dem Durchschnitt von 3,0 bestehen, eine realistische Chance auf einen Studienplatz ergibt sich in vielen Fächern erst, wenn eine Eins vor dem Komma steht. Auf der internationalen Bühne wird dem Abitur längst von anderen Prüfungen der Rang abgelaufen. In der angloamerikanischen Welt öffnet der Internationale Baccalaureat (IB)[1] die Tore vieler Universitäten, die vom „Abitur“ noch nichts gehört haben. Eine wachsende Zahl von Gymnasien in Deutschland bietet das IB als zweiten Abschluss neben dem Abitur für besonders ehrgeizige Schülerinnen mit internationalen Ambitionen an.

Und es geht auch ganz ohne Abiturprüfung: Mit dem „Meisterstudium“ ist seit über 10 Jahren in Deutschland ein akademischer Bildungsweg ohne gymnasialen Schulabschluss eröffnet worden. Grundlage der Anerkennung ist eine hohe berufliche Qualifikation. Na bitte, das geht auch!

Trotz dieser Entwicklungen verteidigen die Bundesländer das Abitur als Ziel und Zweck des Gymnasiums (und der gymnasialen Oberstufe an Gesamtschulen). Und so werden denn pubertierende 7. und 8. Klässler in der Pandemie über Monate hinweg mit einem Platz am Küchentisch mit dem Laptop im Homeschooling abgefertigt, während die Abiturientinnen im Präsenzunterricht auf die Prüfung vorbereitet werden. Man könnte einwenden, dass 12 Jahre Schule ausreichen müssten, um eine abschließende Prüfung zu bestehen. Traurige Wahrheit ist aber, dass in den Wochen vor dem Abitur eine Presskur veranstaltet wird, mit der das Wissen und Können vermittelt werden soll, das nach dieser Prüfung nur zu oft schnellstens wieder vergessen werden kann.

Schüler, die das Glück einer guten Schule mit guten Lehrkräften hatten, konnten in ihrer Schulzeit phantastische Lernerfahrungen machen: Sie haben mit einem Team zusammen Energiesparmodelle für den Haushalt entwickelt oder eine Schülerfirma gegründet, haben Praktika bei einem TV-Sender oder bei Coca Cola gemacht, durften als junge Reporter den Abgeordneten ihres Wahlkreises interviewen, haben auf der Schulbühne gestanden oder sind mit der ganzen Klasse und dem Mathematiklehrer ein halbes Jahr um die Welt gesegelt. Mit der Abiturprüfung wird eine Re-Infantilisierung eingeleitet.

Junge Menschen mit vielfältigen eigenen Erfahrungen und Leistungen, längst an selbständiges Arbeiten gewöhnt, wandern in den letzten Schulwochen trotz der Pandemie wieder in die Klassenräume, um bei den Lehrkräften jeden Krümel eines Hinweises auf die anstehenden Prüfungen aufzusammeln. Selbständigkeit und Risikofreude werden durch Prüfungsangst und Subalternität abgelöst. Alle Lernerfahrungen münden in den Flaschenhals drei bis fünfstündiger Prüfungen, in denen die Kandidaten mit dem Duden, ein paar Blättern Schreibpapier und einem Aufgabenblatt in der Turmhalle sitzen; ohne Internet, ohne ein Team von Mitschülern. Diese Form konzentrierter Einzelarbeit hat in der Ausbildung eines Menschen sicher AUCH seine Berechtigung, ebenso wie Singen im Chor, das Auswendiglernen von Gedichten, die nächtelange Arbeit an einem Essay und der Aufbau eines Experiments.  Als beherrschende Form der Abschlussprüfung zementiert sie leider die schlechtesten Relikte eines Unterrichtsverständnisses, das längst überholt ist: Stofforientierung, Vereinzelung, Learning for the test. Wenn das Abitur Standards der Ausbildung und der Leistungen sichern soll, so erfüllt es diese Aufgabe also leider so, dass niedrige pädagogische Qualität – auf Seiten des Unterrichts – und reproduzierendes Lernen -auf Seiten der Schüler –  zur Norm erhoben wird.

Eine Veranstaltung, die zum Selbstzweck geworden ist, könnte leichten Herzens abgeschafft werden. Vorbild hierfür könnten die Highschools in Nordamerika sein, die ihren Schülern eine erfolgreiche Schullaufbahn ohne gesonderten Test mit dem Abschluss der letzten Klasse bescheinigen. Aber eine abschließende Leistungsschau dient nicht nur der Beurteilung der Schülerinnen, sondern in mindestens gleichem Maß der Selbstbestätigung der Institution und ihrer Lehrkräfte. Also nichts gegen das Abitur, aber bitte nicht so wie gehabt.

Wer sich an einer Kunstakademie bewirbt, bringt zur Vorstellung die „Mappe“ ist Proben ihres Lernens und Könnens mit. Dies könnte auch das Vorbild für einen zeitgemäßen Schulabschluss sein: Arbeitsproben, die den Lernfortschritt in ausgewählten Fächern dokumentieren, verbunden mit einem Essay, in dem Schülerin und Schüler ihre Schullaufbahn – und ihre Erfahrungen mit der Schule – reflektieren. Das wäre dann für alle Beteiligten aufschlussreicher als die Noten von 1 bis 6. Die mögen vielleicht beim Eiskunstlauf noch ihre Berechtigung haben, aber nicht am Ende der Schulzeit.

[1] Träger des IB ist eine private Organisation, die sich mit hohen Lernanforderungen, wissenschaftstheoretischen Prüfungselementen und sozialen Aufgaben für die Absolventen erfolgreich verkauft.

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Über Friedrich Broeckelmann

Friedrich Broeckelmann, Jg. 1952, war Gymnasiallehrer und Bildungsbeamter bei der Kultusministerkonferenz (KMK). Sein Arbeitsschwerpunkt lag an Deutschen Auslandsschulen und bei der Deutschförderung im Ausland. Bis zu seiner Pensionierung war er als Fachberater für den Osten Kanadas in Toronto ansässig. Heute betreut er als „Senior Experte“ in NRW Sprachprüfungen für jugendliche Zuwanderer.

Ein Gedanke zu “Reifeprüfung oder Abgang … und wohin eigentlich?

  1. avatar

    Die Kritik an der Abschlussprüfung scheint auf den ersten Blick und mit dem Hintergrund moderner, kompetenzorientierter Rahmenlehrplänen und Unterrichtsmethoden schlüssig zu sein. Betrachten wir allerdings den Ablauf des Großteils der deutschen, wie internationalen Studiengänge und der dortigen, internen Prüfungsverfahren, so stellt man schnell fest, dass eben diese Prüfungen sich weitestgehend kaum von der Abschlussprüfung unterscheiden. Erinnere ich mich an mein erst kürzlich abgeschlossenes Studium zurück, so ist die gesamte Studienzeit davon geprägt, vor Prüfungen tage- und nächtelang Wissen aus Skripten, Büchern und Papern akribisch und bulimisch in mich aufzusaugen, um dieses in stundenlangen schriftlichen Prüfungen, auf mich allein gestellt und doch im Kollektiv mit meinen Kommilitonen, auf das Papier zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt trifft die Betitelung „allgemeine Hochschulreife“ wohl durchaus zu. Denn ohne die Fähigkeit, sich eben in einer solchen Art und Weise auf Prüfungen vorzubereiten, wird wohl jede Aussicht auf Erfolg im Studium im Keim erstickt.
    Bloß Kritik an der Abschlussprüfung der schulischen Laufbahn zu äußern, nicht aber die Praxis von Universitäten und Hochschulen auf den Prüfstand zu stellen, scheint mir daher zu kurzsichtig.

    Der Verweis auf das IB ist zwar durchaus interessant, die Untermauerung einer Kritik an Abschlussprüfungen dadurch für mich aber nicht erkenntlich, da auch das IB die schulische Laufbahn durch Abschlussprüfungen beendet. Obgleich die deutlich stärkere Berufsorientierung während der schulischen Laufbahn wohl ein großer Vorteil zum deutschen Standardmodell darstellt. Das Pflichtfach: Theory of Knowledge klingt auf den ersten Blick extrem interessant und wäre wohl eine gute Ergänzung beziehungsweise Alternative zum wahllosen Umfang von Fachangeboten an deutschen Schulen. Um ein klareres Urteil dazu, aber auch zum IB im Allgemeinen zu Fällen fehlt mir allerdings jegliche, über kurze Internetrecherche hinausgehende Expertise.

    Der Vergleich zur chinesischen Abschlussprüfung ist für mich zwar klar ersichtlich, inwiefern das eine sinnvolle Kritik sein soll allerdings umso weniger. Vermutlich könnte man ein beliebiges Land und seine Prüfungen unter die Lupe nehmen und würde nahezu immer ein ähnliches Bild bekommen. Dies bestärkt für mich allerdings lediglich, die offenbare Alternativlosigkeit zum bestehenden Modell. So scheint die Abschlussprüfung schlichtweg abzuschaffen keine echte Alternative zu sein und würde meiner Meinung nach ein falsches Bild der Lebensrealität im Folgestudium abbilden.

    Viel mehr stellt sich mir die Frage, ob es wirklich förderlich und notwendig ist, die Mär vom großartigsten aller Ziele: dem abgeschlossenen Studium, immer weiterzuspinnen. Die Alternativen zum Studium existieren und haben sich im Laufe der Jahre deutlich besser entwickelt als das immer gleiche Prozedere in deutschen Oberstufen und an Universitäten oder Hochschulen. Die Methoden sind veraltet, die Absolventen nicht zwangsläufig mit Kompetenz gesegnet, wenn sie Etappe für Etappe hinter sich gebracht haben. Lediglich der Einzug in die Kaste von vermeintlichen Aristokraten ist mit Vollendung der schrill und bunt klingenden Studiengänge sicher. Darüberhinaus die Rechtfertigung für Firmenleiterinnen und -leiter, nicht-studierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schlechter zu bezahlen, weil sie bei gleicher Leistung und Kompetenz leider den notwendigen Abschluss nicht auf dem Papier stehen haben.

    Hiermit möchte ich meine Kritik an Ihrem Artikel mit meiner Kritik an allgemeinen gesellschaftlichen Gepflogenheiten und dem Wunsch nach erklimmbaren Hierarchien, die durch vorgegebene Leitern bestiegen werden können beenden und meinen Wunsch nach einer Gesellschaft äußern, in der Menschen nach ihrem Können und Willen etwas zu leisten entlohnt werden und nicht nach Titeln auf bestempelten Papieren.

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