Am 6. Dezember 2015 wurde durch Wahlen ein Experiment beendet, das ein ganzes Volk in die Verelendung gestürzt hatte: der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela. Die Parlamentsfraktion der sozialistischen Partei des Präsidenten Nicolás Maduro PUSV wurde halbiert, das konservative Oppositionsbündnis MUD gewann haushoch und erreichte 109 von 167 Sitzen im Parlament. Zusammen mit den drei Mandaten einer indogenen Minderheit erreicht die Opposition im Parlament eine verfassungsändernde Mehrheit. Damit kann sie die undemokratischen Dekrete des Präsidenten stoppen.
Was waren die Gründe für diesen Erdrutschsieg der Opposition? Hätte ein bekennender Freund des Kapitalismus ein Zerrbild des Sozialismus zeichnen sollen, es hätte in der Realität Venezuelas eine genaue Entsprechung gefunden. Nach 17 Jahren „Chávismo“ (abgeleitet von der Politik von Hugo Chávez) steht das Land am Abgrund.
Die Staatskasse ist leer, harte Devisen sind nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Das Land hat mit 200% die höchste Teuerungsrate der Welt. Die meisten der über 2000 enteigneten Betriebe arbeiten nur noch auf Sparflamme. Die eingesetzten sozialistischen „Líderes“ sind unfähig, einen Betrieb ordentlich zu führen. Der Devisenmangel verhindert die Einführung notwendiger Güter, Ersatzteile und Rohstoffe. Die Schlangen vor den Supermärkten sind bis zu 500 m lang. In Scharen verlassen die Menschen ihre Arbeitsplätze, um sich in die Schlangen einzureihen. In den Betrieben und Verwaltungen ist das anscheinend kein Problem, weil es dort ohnehin kaum etwas zu tun gibt. Die Supermärkte werden von Polizisten und von sozialistischen Aktivisten („colectivos“) bewacht, um Plünderungen zu verhindern. Gleichzeitig wachen sie darüber, dass die leeren Regale nicht fotografiert werden. Die Fotos würden – über die sozialen Netzwerke in alle Welt verschickt – den Offenbarungseid eines abgewirtschafteten Regimes allzu sinnfällig dokumentieren. Ein wenig erinnert die Situation in Venezuela an die Endphase der DDR. Während es schon überall im Gebälk knirschte und der Einsturz des Gebäudes drohte, versicherte sich die herrschende Clique der SED, die Fäuste reckend, des ewigen Fortbestands des Sozialismus („Vorwärts immer, rückwärts nimmer“). Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings. Während es in der totalitären DDR erst einer Massenflucht seiner Bewohner bedurfte, um das System kollabieren zu lassen, hatten die Menschen in Venezuela die Chance, in weitgehend freien Wahlen ihre Stimme zu erheben. Und sie taten es ausgiebig: Die Wahlbeteiligung betrug 74,25% – ein Spitzenwert.
Venezuela hat nach Schätzungen von Experten die größten Erdölvorräte der Welt. Dieser Rohstoff sicherte bisher 4/5 der Exporterlöse des Landes, die Hälfte der Staatseinnahmen und ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Seit dem Absturz des Ölpreises gerät alles aus den Fugen: Der aufgeblähte Staatshaushalt bräuchte, um im Gleichgewicht zu sein, einen Ölpreis von 162 Dollar pro Barrel. Seit einem Jahr liegt der Preis aber unter 50 Dollar, was die Staatstätigkeit weitgehend lähmt. Hinzu kommt, dass der staatliche Ölkonzert PDVSA auf Verschleiß fördert. Die komplexen Förderanlagen werden, weil benötigte Ersatzteile nicht mehr eingekauft werden können, nicht mehr gewartet, neue Fördergebiete werden nicht mehr erschlossen. Deshalb ist die tägliche Fördermenge auf den niedrigsten Wert seit 2003 gesunken.
Die Wirtschaft außerhalb des Ölsektors ist durch die Verstaatlichungspolitik der Sozialisten massiv geschwächt worden. Viele Betriebe sind ins Ausland abgewandert. Selbst Waren des täglichen Bedarfs können nicht mehr im Inland produziert werden. Und für Exporte fehlen die nötigen Devisen. Selten ist eine funktionierende Wirtschaft in nur 17 Jahren so gründlich ruiniert worden wie die Venezuelas.
Der Wahlerfolg der Opposition ist auch den Armen in den Slums von Caracas zu verdanken, die in Scharen ihrem ehemaligen Wohltäter – der sozialistischen Regierung – untreu geworden und zur Opposition übergelaufen sind. Seit der Ölpreis im freien Fall begriffen ist, kann die Regierung die Alimentierung der Armen nicht mehr in voller Höhe gewährleisten. In der Krise rächt es sich bitter, dass weder Chávez noch Maduro eine nachhaltige Armenpolitik betrieben haben. Sie förderten durch Warengutscheine den Konsum, statt in das Bildungssystem und die berufliche Ausbildung zu investieren, damit die Kinder der Armen für immer aus der Armutsfalle entkommen können. Die bittere Erkenntnis ist: Wenn die Einkaufsgutscheine ausbleiben, sind die armen Familien so arm wie zuvor.
Von Lateinamerika-Experten wird der Sieg der Opposition in Venezuela als Fanal gewertet, dass die Zeit des Latino-Sozialismus zu Ende gehen könnte. Am 22. November 2015 gewann der Konservative Mauricio Macri die Präsidentschaftswahlen in Argentinien und beendete die lange Ära des sozial-nationalen Kirchnerismus, einer Spielart des Peronismus. Das Land war seit dem Staatsbankerott 2002 nicht wieder auf die Beine gekommen. Mit immer neuen Winkelzügen hatten die beiden Kirchners versucht, den Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten. Die Schuldigen suchten sie vornehmlich bei amerikanischen Hedgefonds („Geierfonds“), die die Argentinier in die Armut trieben. Das Volk war zum Schluss dieser schrillen Tiraden überdrüssig und vertraute lieber auf den ökonomischen Sachverstand eines erfolgreichen Unternehmers.
Auch in Brasilien hat die Götterdämmerung begonnen. Die sozialistische Präsidentin Dilma Rousseff ist angeschlagen. Im Parlament läuft ein Amtserhebungsverfahren gegen sie. Ihre Zustimmungswerte in der Bevölkerung sind inzwischen einstellig. Einige ihrer Minister und zahlreiche sozialistische Abgeordnete sitzen wegen Korruption auf der Anklagebank oder schon hinter Gittern. Der Korruptionsskandal um den staatlichen Erdölkonzern Petrobras hat die ganze Wirtschaft erschüttert. Im letzten Quartal schrumpfte das BIP um 4,5%. Für das ganze Jahr 2015 wird mit einem Minuswachstum von 3,5% gerechnet. Auch für das Jahr 2016 sagen die Experten noch ein Schrumpfen des BIP um 2,3% voraus. Damit sind alle Sozialprogramme der Regierung gefährdet. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die sozialistische Regierung den Offenbarungseid leisten muss.
In Venezuela hatte sich die rabiate Form eines räuberischen Sozialismus etabliert, der ohne jedes Ethos agierte und nur auf Bereicherung der herrschenden Clique bedacht war. Dabei waren die Übergänge zwischen Staat, Militär und organisiertem Verbrechen fließend. So ermittelt die amerikanische Justiz gegen den Parlamentspräsidenten Diosdado Cabello wegen des Verdachts, ein Drogenkartell zu führen, in das auch das Militär verwickelt ist. Die Sozialisten à la Chávez handeln nach der Devise: Wenn wir schon an der Macht sind, nehmen wir uns das, was uns zusteht. Wir stehen schließlich auf der richtigen Seite der Geschichte. Fatal wirkt sich aus, dass die Regierung die „Colectivos“ bewaffnet hat, damit sie „die Revolution verteidigen“. Dies hat zu einer beispiellosen Verrohung des zivilen Lebens im Lande geführt. Seit Beginn des sozialistischen Experiments vor 17 Jahren hat sich die Kriminalität in Venezuela fast versechsfacht. Die Mordrate in Venezuela gilt als eine der höchsten der Welt, die Gewalt im Land ist außer Kontrolle. Allein in Caracas wurden in einem Monat (im Dezember 2014) 468 Morde registriert.
Warum arten die lateinamerikanischen Sozialismen immer derart aus, dass sie schon nach kurzer Zeit die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft ins Chaos stürzen? Ihnen fehlt das Verantwortungsethos, das die deutsche Sozialdemokratie seit ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts auszeichnet. Den sozialdemokratischen Führern ging es ernsthaft darum, der Arbeiterklasse aus ihrem Elend herauszuhelfen – und zwar dauerhaft. Deshalb waren Bildungsprogramme („Wissen ist Macht“) immer wichtige Bestandteile sozialdemokratischer Programmatik und praktischer Politik. Spätestens mit dem Godesberger Programm von 1959 nahm die SPD endgültig Abstand von der Verstaatlichung privater Betriebe. Sie hatte gelernt, dass eine nachhaltige Sozialpolitik zugunsten der Armen nur möglich ist, wenn eine funktionierende Marktwirtschaft für eine ausreichende Verteilungsmasse sorgt.
Der größte Irrtum von Karl Marx war nicht seine Prophezeiung der Selbstzerstörung des Kapitalismus durch immer verheerendere Krisen. Es war seine Kritik am „Gothaer Programm“ der 1875 entstandenen Sozialdemokratie, das Ferdinand Lassalle verfasst hatte. In einer vor Wut schäumenden Polemik bezeichnet Marx den Text als „durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm“. Während Marx an seinem Begriff vom kapitalistischen Ausbeuterstaat („Ausschuss der herrschenden Klasse“) festhält, fordert Lassalle einen „Volksstaat“, heute würde man sagen, einen Sozialstaat, der Stück für Stück die Reformen ins Werk setzt, die zur Emanzipation der arbeitenden Klasse nötig sind. Was sich in dieser Kontroverse manifestiert, ist der Gegensatz von Reform und Revolution, der noch Jahrzehnte lang die Arbeiterbewegung spalten sollte (Kommunismus hier – Sozialdemokratie dort). In Lateinamerika hat sich die sozialdemokratische, reformistische Spielart des Sozialismus leider nie durchgesetzt. Nur wilde Latino-Formen der sozialistischen Revolution konnten das Feld erobern. Wie es endet, kann man in Cuba und neuerdings auch in Venezuela besichtigen.
Als Michail Gorbatschow 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, Deutschland besuchte, besichtigte er u.a. auch das VW-Werk in Wolfsburg. Zur Verblüffung der Presse sagte er anschließend, im Grunde sei in der BRD der Sozialismus verwirklicht, den sich die Kommunisten immer erträumt hatten. Wenn sich die Arbeiter von VW die hochwertigen Autos, die sie bauen, auch selbst kaufen können, könne man doch wohl vom „Wohlstand für alle“ sprechen. Mit anderen Worten: In der weltumspannenden Kontroverse zwischen Reform und Revolution hat die Reform und mit ihr die Sozialdemokratie endgültig gesiegt.
Den Latino-Revolutionären müsste man zurufen: Werdet endlich Sozialdemokraten!
Gorbatschow hatte Recht: Bei VW ist der Sozialismus verwirklicht. Die Folge: Überbezahlung der Arbeiter in Wolfsburg, so dass die wichtigsten Komponenten an billigeren Standorten produziert werden, Lustreisen und Huren aus Brasilien für den Betriebsrat, teure Luxusmodelle als Spielwiese für Piech und Konsorten, im Ergebnis eine miese Umweltbilanz für die Gesamtflotte, so dass die Planerfüllung in Sachen Schadstoffbegrenzung durch Tricksereien vorgetäuscht wurde, wie das in der DDR üblich war. Kein Modell, dem man in Venezuela oder sonstwo nacheifern sollte.