Von Sonja Margolina:
Auf einer Tagung begegnete ich einem Bulgaren, der in Berlin promoviert wurde und in einer Parteistiftung arbeitet. Sein Berufsweg war exemplarisch für Ostblock-Zeitgenossen, die als Heranwachsende dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems beigewohnt hatten und mit einer bis dahin undenkbaren Selbstverständlichkeit die Vorteile der Bewegungsfreiheit genießen dürften. Wir unterhielten uns über die Abwanderung des Bildungsnachwuchses aus Bulgarien und anderen postsozialistischen Ländern.
Kurz vor diesem Gespräch habe ich mir den Dokumentarfilm „Sofias letzte Ambulanz“(2012) im Berliner Off-Kino „Krokodil“ angeschaut. Dessen Regisseur Ilian Metev ist ein Bulgare, der nach London ging. Das Kamera-Team begleitete eine der wenigen übrig gebliebenen Notambulanzen in Sofia bei ihren Einsätzen. Deren Mannschaft – ein übermüdeter, unterbezahlter Arzt um die 50, eine ältere Krankenschwester und ein Fahrer – könnten ihren Lebensunterhalt im Ausland oder in einer privaten Klinik verdienen, aber sie retten Menschenleben in den gottverlassenen, buckligen, unbeleuchteten Gassen. Der Zerfall sozialer Strukturen, Anonymität, Hoffnungslosigkeit begegnen dem Zuschauer auf Schritt und Tritt. Fast trotzig erfüllen die Mediziner ihre Pflicht, obwohl sie psychisch erschöpft sind und jeden Tag daran denken, hinzuschmeißen. Am Ende ist die Krankenschwester nicht mehr dabei.
Man verlässt das Kino niedergeschlagen, auch weil man weiß, dass die bulgarische Hauptstadt ein typisches Bild postsozialistischer Zustände in vielen Ländern darstellt. Nun fragte ich den bulgarischen Politologen, ob er sich vorstellen könnte, dass jemand, der im Westen studiert oder arbeitet, vielleicht irgendwann zurückkehren könnte, um in Bulgarien zu arbeiten? Er grinste: „Ja, wenn sein Vater einen Ministerposten innehat“.
Im Ostblock war Bewegungsfreiheit Hochverrat. Auf die Flucht in den Westen stand in der Sowjetunion die Todesstrafe. Das Wort „Mauerschütze“ sprach für sich. Die Bevölkerung der jeweiligen Diktaturen war auf unbestimmte Zeit, vielleicht auf die Generationen eingesperrt. Weder im Westen noch im Osten rechnete man sich ernsthaft mit einer baldigen Grenzöffnung. Deshalb konnte das Verlangen nach Bewegungsfreiheit als ein wirkungsvolles ideologisches Instrument im Kampf gegen den Kommunismus eingesetzt werden. Das Recht, sein Herkunftsland zu verlassen, wurde als Menschenrecht anerkannt. Zuerst kam es den Minderheiten zugute. Juden in der Sowjetunion kämpften für die Ausreise in ihre historische Heimat, wobei der zahlenmäßig größere Anteil jüdischer Emigranten in die USA ging. Deutsche Minderheiten aus Ost- und Südeuropa wanderten in die Bundesrepublik aus. Nach der Grenzöffnung 1989 wurde die ethnische Entmischung im Wesentlichen vollendet.
Die Ironie der Geschichte bestand jedoch darin, dass Freiheitspredigten an die eingesperrten Völker verpflichteten. Gleich nach dem Mauerfall drehte sich das Blatt um. Nun zitterte man im Westen in Erwartung der Flüchtlingswellen aus den postsowjetischen Ländern. Doch abgesehen von Jugoslawien blieb die befürchtete Flut aus. Dennoch merkt man inzwischen, dass die Abwanderung, insbesondere der Bildungselite samt Nachwuchs und des qualifizierten Mittelstands, tiefe Lakunen in den Gesellschaften osteuropäischer Länder hinterließ, die nun inmitten der europäischen Systemkrise zum Vorschein kommen.
Abwanderung der Demokratie
Russische Soziologen führen das wiederholte Scheitern der Modernisierung in Russland auf eine „Kastration der Elite“ zurück. Ob als traditionelle Autokratie oder kommunistische Diktatur, pflegten autoritäre Regime die nachwachsende Schicht liberaler Intellektueller, die als potenzielle Revolutionäre und Bedrohung für ihre Besitzstände wahrgenommen wurden, periodisch zu dezimieren.
Als eklatantes Beispiel dafür galt das berühmte „Philosophen-Schiff“, das 225 herausragende Naturwissenschaftler und Philosophen – die geistige Elite Russlands – 1922 nach Stettin befördert hatte. Unter damaligen Umständen war die Ausweisung der liberalen Elite eine humanitäre Geste von Lenin, der ansonsten mit dem kurzen Prozess nicht zimperlich war. Bald darauf schlossen sich die Grenzen. Auf politische Gegner und nichtangepasste Gelehrten wartete der Gulag.
Die „Kastration der Elite“, das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, muss aber nicht ausschließlich durch Repressalien eines totalitären oder autokratischen Regimes erfolgen. Die Elite kann sich auch freiwillig abschaffen. Dieser Prozess ist in vielen osteuropäischen Ländern zu beobachten.
Erst heute,da es gar keine Grenzen mehr gibt oder nur solche, die auch für die Einwohner von Nicht-EU-Staaten leicht zu überwinden sind, wird die formative Rolle der Grenzen bei der Stärkung der Zivilgesellschaft und Demokratie erkennbar.
Im geschlossenen System des Sozialismus war das oft lebensgefährliche Engagement der liberalen Elite auf die Demokratisierung des eigenen Landes ausgerichtet, in dem sie und ihre Kinder weiter leben wollten. Dafür, nicht für die Möglichkeit, ihr den Rücken zu kehren, wurde ein hoher Preis bezahlt. Ihr wurden Karrieren und Freiheit geopfert. Die Autarkie beförderte den Widerstand, sie erzeugte einen Gegendruck, der vielleicht ungenügend war, um das System zum Fall zu bringen, aber genug, um quasi als Maulwürfe der Geschichte zu wirken und das Land für diesen Augenblick vorzubereiten. Der Widerstand war an den eigenen, oft kleinen Nationalstaat, an das unterdrückte Volk, an die nationale Überlieferung und Kultur gebunden.
Nach der Wende wurde die nationale Bindung insbesondere beim Nachwuchs entwertet. Der berufliche Aufstieg und die Zukunft der Kinder im Westen erhielten einen höheren Wert als der politische Kampf gegen korrupte Seilschaften und kriminelle Oligarchen. Sowohl die Neureichen als auch ihre liberalen Opponenten schickten ihre Kinder ins Ausland. Anstelle der repressiven „Kastration der Elite“ trat die Flucht der Elite ein. Anfangs glaubte man noch, sie würden nach der Ausbildung zurückkehren, um die jungen, noch fragilen Demokratien zu stärken. Vereinzelt geschah das auch. Doch der Aderlass war gigantisch. Drei Millionen Polen und eine Million Bulgaren haben nach der Wende das Weite gesucht. Auch Russland kehren im Durchschnitt jährlich 200.000 Bürger – überwiegend Akademiker – den Rücken.
„Die Emigration bleibt eines der größten Probleme. Mehr als zweihunderttausend Slowaken verließen im vergangenen Jahrzehnt ihre Heimat“, schreibt der Schriftsteller Michal Hvorecky in der SZ vom 10/11.Oktober. „Nicht nur Pflegekräfte…,, sondern auch Ärzte, Juristen, Wissenschaftler. Die Slowakei hat kein Problem mit Migranten, sondern ein riesiges Problem mit den eigenen Emigranten. Um das zu vertuschen, sind Politiker zu allem bereit…. Populismus, Nationalismus, Xenophobie blühen, verstärkt durch die Finanz- und Demokratiekrise“.
Im Sozialismus wurde die widerspenstige Elite von oben „kastriert“. Die negative Auslese zugunsten angepasster Aufsteiger mit einem Durschnitts-IQ war die Regel. „Wir sind der Deutschen Dummer Rest“ (DDR), spotteten die Ossis – zur Melodie von „wir sind des Geiers schwarzer Haufen“ – über sich selbst angesichts der unaufhaltsamen Republikflucht. Heute schafft sich die Elite von „unten“ ab, indem sie ihren Staat verlässt. Die Motive sind meistens pekuniärer Natur, die im Sozialismus kaum eine Rolle spielten. Doch die Entwertung des Nationalstaates und Enttäuschung über den eigenen sozialen Status tragen auch zum Unwillen bei, sich im eigenen Land zu engagieren. Die Schicht, die den dumpfen, neofaschistischen und kleptokratischen Kräften die Stirn bieten könnte, dünnt sich aus. Die Wirtschaft und damit auch die Zivilgesellschaft werden geschwächt.
Den Folgen wohnt man in Ungarn und in Bulgarien, aber umso mehr in Russland bei, wo die quasi stalinistische Willkür des Putin-Regimes die liberale Bildungselite in Scharen aus dem Land treibt. Immer öfter verwandeln sich demokratisch gewählte Regierungen in eine Art hybrider Semi-Diktaturen, die von Viktor Orbán plastisch als „illiberale Demokratien“ charakterisiert werden. Die Ausdünnung der Elite und mit ihr der Teufelskreis des „gesellschaflichen Downshifting“ stabilisieren postkommunistische Seilschaften.
Migranten kommen selten zurück, es sei denn, der Vater hielte ein lukratives Pöstchen für das Kind parat.
Die Bewegungsfreiheit mag ein Menschenrecht sein, Zukunft ist das bestimmt nicht.
Sonja Margolina ist Autorin von “KALTZEIT: Ein Klimaroman”(2013), “Brandgeruch”(2011) und anderer Werke
sorry, besseres Schriftbild hier:
@Deutscher Geist
“Zukunft? Die BRD als Vorbild?”
Weiß ich nicht. Sollte ich aber mit dem ‘System Putin’ vergleichen, ja – als kleineres Übel.
So ähnlich, wie ein Katholik ultramontan denkt. Nicht alles auf eine Karte setzen, nicht ausgeliefert sein. Das mögen Sie vielleicht verwerflich finden, aber eine Regierung oder Gesellschaft, die sich vor allem über die Begriffe Heimat, Patriotismus, Nationalität definiert, bzw. über die Schwäche derer, die das nicht tun, ist mir suspekt. Ich sage damit nicht, daß man sich nicht irgendwo ‘heimisch’ fühlen kann, wenn sich die ‘Heimat’ als solche bewährt hat, aber das ist eine persönliche Angelegenheit. Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, ihre Ärzte, Wissenschaftler und Intellektuellen zu halten, hat es nicht besser verdient. Das sind Gesellschaften, die Helden brauchen (s. Artikel) und deren Regierungen taugen i.d.R. nichts.
@Deutscher Geist
„Zukunft? Die BRD als Vorbild?“
Weiß ich nicht. Sollte ich aber mit dem ‚System Putin‘ vergleichen, ja – als kleineres Übel.
So ähnlich, wie ein Katholik ultramontan denkt. Nicht alles auf eine Karte setzen, nicht ausgeliefert sein. Das mögen Sie vielleicht verwerflich finden, aber eine Regierung oder Gesellschaft, die sich vor allem über die Begriffe Heimat, Patriotismus, Nationalität definiert, bzw. über die Schwäche derer, die das nicht tun, ist mir suspekt. Ich sage damit nicht, daß man sich nicht irgendwo ‚heimisch‘ fühlen kann, wenn sich die ‚Heimat‘ als solche bewährt hat, aber das ist eine persönliche Angelegenheit. Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, ihre Ärzte, Wissenschaftler und Intellektuellen zu halten, hat es nicht besser verdient. Das sind Gesellschaften, die Helden brauchen (s. Artikel) und deren Regierungen taugen i.d.R. nichts.
Das Hauptproblem in Ihrer Geschichte ist doch, dass dieser Arzt in Sofia so extrem unterbezahlt ist und seine Arbeit nicht angemessen gewürdigt wird. Wenn er vernünftig bezahlt werden würde und seine Tätigkeit entsprechend geschätzt werden würde, wäre er schnell nicht länger der einzige, der seinen Dienst verrichtet.
Ich weiß leider kaum etwas über Bulgarien, aber die medizinische Versorgung gehört jedenfalls, also auch in Bulgarien, zu den vornehmsten Aufgaben des Staates. Dafür muss unbedingt genügend Geld bereitgestellt werden. Hier hat auch jede Marktwirtschaft ihren Sinn verloren. Wenn nicht genügend Geld da ist, muss der Staat welches beschaffen, durch Steuererhöhungen, ein vernünftiges Finanzamt, Kredite, Abspeckung anderer Ausgaben (z.B. der Rüstung) und werweißwas sonst noch alles.
Dies scheint in Bulgarien nicht zu geschehen.
Davon abgesehen bietet der „Brain Drain“ auch eine Chance für die Daheimgebliebenen, vorausgesetzt, dass der Staat sein Problem erkennt und angeht. Denn es werden prinzipiell gute Stellen frei, die keine „Spielzeuge der Gesellschaft“ sind wie z.B. die IT-Branche, sondern Brot & Butter, d.h. unbedingt besetzt werden müssen. Normalerweise hocken ja die „Gebildeten“ auf solchen Stellen (Ärzte, Lehrer, Professoren…) und vererben sie an ihre Nichten und Neffen. Wenn die weg sind, ergibt sich eine Chance für alle anderen. Die müssen dann eben ausgebildet werdne, um diese dem Bedarf nach offenen Stellen schnell zu besetzen bzw. neu zu schaffen.
Für die Auswanderer ist die Auswanderung in ein besseres Land ebenfalls gut und für das Land, in dem die „Gebildeten“ aufgenommen werden, sowieso, denn dieses spart sich die Bildungskosten.
Kurz: Der „Ist-Zustand“ sieht immer hoffnungsloser aus als er „ist“.
Wie kann man nur von der Heimattheorie auf die Blut-und-Boden-Ideologie schließen? Nein, Klaus J. Nick, dann schon eher Blut und Eisen.
Und wenn die „liberale Bildungselite“ versagt, einfach den „dumpfen Kräften“ die Schuld geben. Diese Faschisten wollen nicht im Menschenrechtsparadies leben, dieses „Pack“!
Schon das Wort Zivilgesellschaft, dann die Wirtschaft über alles. Vom Menschsein reden, in der letzten Ambulanz seine Pflicht tun, sich nicht korrumpieren lassen, finde ich interessanter.
Zukunft? Die BRD als Vorbild? Für Osteuropa?
„Doch die Entwertung des Nationalstaates und Enttäuschung über den eigenen sozialen Status tragen auch zum Unwillen bei, sich im eigenen Land zu engagieren. Die Schicht, die den dumpfen, neofaschistischen und kleptokratischen Kräften die Stirn bieten könnte, dünnt sich aus. Die Wirtschaft und damit auch die Zivilgesellschaft werden geschwächt.“
Dem ist so. Es entstehen immer wieder neue Jahrgänge, die sich engagieren, scheitern und daraufhin das Land verlassen. Es ist immer Viertel vor Wandel und doch tut sich nix. Damit sind auch Modelle, die das Entstehen einer Mittelschicht zur Bedingung haben, immer wieder zum Scheitern verurteilt. Spätestens beim Sprung vom Kleinunternehmer zum Mittelstand stellt sich die Frage, ob man Teil der Kleptokraten oder Weihnachtsgans sein will.
Die offene Migrationsgesellschaft der westlichen Länder (die wollen ja alle explizit genau diese Gruppe haben, die qualifizierte Zuwanderung) und der Nationalismus der Herkunftsländer (gegen Neokolonialismus) verstärken diesen Effekt noch.
Das ist alles richtig. Nur, Bulgarien ist seit über einer Generation Teil des Westens. Es geht mir nicht darum, die Westbindung in Frage zu stellen, aber die Systemfrage, oder was die richtige Entwicklungsstrategie sei, drängt sich nach 25Jahren Westkurs durchaus auf (Stichwort: das come back des Kreml). Appelle, Strukturreformen und Hausaufgaben zu machen, sind alle richtig. Aber auch wohlfeil. Oder?
..also wenn ‚Liberale Bildungselite‘ ein Oxymoron ist oder wird, @Deutscher Geist, dann kann ich nur jedem dringend abraten, ein Studium aufzunehmen. Oder zu emigrieren. Ich sehe nur, daß Ihre Blut-und-Boden-Ideologie jeden (selbst-) denkenden Menschen vergrault.
Weswegen Sonja Margolina richtig liegt.
Man kann es den Menschen nicht verdenken, wenn sie eine bessere Zukunft woanders suchen. In der Vergangenheit haben auch einmal viele Menschen Deutschland verlassen (va. im 19. Jh.) und sind ausgewandert.
„Liberale Bildungselite“ = Oxymoron. Eine geldgeile Charakterlosigkeit der Postmoderne. Schnorrer an der Zitze des Spekulationskapitals. Heimatlose Marionetten, zum Verschleiß dem lberalen System in den Rachen geworfen. Das Böckenförde-Dilemma läßt grüßen.
Nach dieser Theorie sitzt Putin in der letzten Ambulanz.
Auch wenn die liberalen Opportunisten nicht mehr geheilt werden können, dann doch zumindest befreit von ihrer anmaßenden Selbstüberschätzung.