avatar

Russland spricht

 

 Aus aktuellem Anlass gebe ich hier ein Gespräch wieder, das ich 2005 oder 2006 in Jerusalem mit einem Mitglied der neu-alten russischen Nomenklatura geführt und in meinem Buch „Imperium der Zukunft“ 2007 abgedruckt habe.

Wjatscheslaw Nikonow ist der Enkel des alten Stalin-Vertrauten Wjatscheslaw Molotow. Ein derart intimes Familienverhältnis zu einem Bürokraten des Todes würde man in Deutschland vermutlich eher vergessen machen wollen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich etwa der Enkel Joachim von Ribbentrops, der mit Molotow den Hitler-Stalin-Pakt aushandelte, mit einer solchen Verwandtschaft hausieren ginge. Dass Nikonow, der einen Moskauer Think-Tank leitet und sich selbst als „Guru der jungen Putin-Leute im Kreml“ bezeichnet, bei jeder Gelegenheit genau das tut, sagt einiges über ihn aus. Und es sagt einiges über das Verhältnis des heutigen Russland zu seiner totalitären und imperialen Vergangenheit, dass diese Verwandtschaft als Empfehlung gilt.

Ich treffe Wjatscheslaw Nikonow in Jerusalem anlässlich einer Konferenz über die künftige Erweiterung der Europäischen Union. Es geht den Veranstaltern eigentlich um Israel, aber sie haben Vertreter weiterer Beitrittskandidaten eingeladen, einen Professor aus Ankara zum Beispiel – und aus Moskau Nikonow.

Bei Couscous und Rotwein kommen wir ins Gespräch. Am Nachmittag hat Israels Außenministerin Tsipi Livni die müden Konferenzteilnehmer elektrisiert mit der spontanen Bemerkung, in den Beziehungen ihres Landes mit der EU dürfe es keine Denkverbote geben: „The sky is the limit.“ Nikonow ist sichtlich belustigt über die „Europhorie“ der Teilnehmer, aber auch sichtlich verärgert über die Zumutung, als Vertreter eines Beitrittskandidaten eingeladen zu sein.

„Russland ist nicht auf dem Weg zur Europäischen Union“, sagt er. „Die Chance gab es, Anfang der 1990er Jahre. Aber Europa hat diese Chance verspielt. Wir haben den Franzosen damals eine großeuropäische Lösung angeboten. Europa hätte dadurch eine Supermacht werden können, heute wäre es vielleicht die einzige Supermacht. Aber Europa mangelte es damals an Politikern, die groß denken. Stattdessen setzten sie auf die Nato-Erweiterung. Also auf die amerikanische Option statt auf die russische. Russland hat daraus seine Schlussfolgerungen gezogen. Heute setzt Russland nur auf sich. Wir sind nicht mehr bereit, über unsere Souveränität mit irgendjemandem zu verhandeln. Wenn wir jetzt über die europäische Integration reden, meinen wir etwas anderes als damals. Integration ist keine Einbahnstraße. Verstehen Sie?“

Molotows Enkel wedelt mit seiner Gabel und zeigt auf die Einrichtung des Jerusalemer Restaurants, das von marokkanischen Juden betrieben wird: die maurischen Bögen, die arabischen Schriftzüge an der Wand. „Wissen Sie, was das hier ist? Das ist die Europäische Union. Wissen Sie, was der beliebteste Name für neugeborene männliche Kinder in Brüssel heute ist? Mohammed. Und wissen Sie, wie die größte europäische Stadt heißt? Moskau. Verstehen Sie? Think big! Auf solchen Konferenzen wie heute halten die Leute Vorträge über europäische Werte, aber wo ist Europa noch Europa? In Brüssel oder in Moskau? Wer kämpft noch für Europas Werte? Allenfalls die Amerikaner, und die sind dabei, im Irak aufzugeben. Wir haben in Tschetschenien einen islamistischen Aufstand besiegt. Think big!”

Wir bestellen noch eine Flasche Rotwein von den Golan-Höhen. „Verstehen Sie, mir geht es nicht um Idealismus”, sagt Nikonow. „Mir geht es um reinen Opportunismus. Dem Opportunismus gehört die Zukunft. Ich appelliere also an den berühmten europäischen Opportunismus. Denn ihr braucht uns mehr, als wir euch brauchen. Die Autarkie ist für uns eine echte Option, für euch nicht. Mit sieben Prozent Wachstum schon im siebenten Jahr hintereinander wird Russland bis zum Jahr 2020 Deutschland als größte Volkswirtschaft des Kontinents ablösen. Wer ist unser wichtigster Handelspartner heute? China. Wer sind unsere Handelspartner der Zukunft? Indien und die anderen asiatischen Tiger. Unsere Geschäftsleute sind heilfroh, dass ihnen die sozialistische Bürokratie nicht im Wege ist. Ich meine die in Brüssel. Nirgendwo macht man es den Geschäftsleuten schwerer als in der EU. Und wissen Sie, wer mir das sagte? Michail Chodorkowski.“ Nikonow sagt das ohne einen Anflug von Ironie.

„Den haben nicht die Brüsseler Bürokraten ins Arbeitslager nach Sibirien geschickt, sondern Sie“, werfe ich ein wenig verärgert ein. „Das stimmt“, sagt Nikonov. „Das haben allerdings wir getan.“ Und er schmunzelt zufrieden. „Wie gesagt, Sie brauchen uns nicht zu mögen. Aber Sie sollten mit uns rechnen. Russland ist dazu bestimmt, vielleicht dazu verurteilt, ein unabhängiger Machtpol zu werden, wie die USA, wie China, wie die EU. Und wir sind jetzt stärker als die alte Sowjetunion. Wissen Sie warum? Weil wir ein echter russischer Nationalstaat geworden sind. Jetzt sind 83 Prozent unserer Bevölkerung Russen, in der alten Sowjetunion waren es nur 43 Prozent. Wir wissen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Verstehen Sie?“

„Für uns im Westen sieht es aus, als ob Putin das alte Zarenreich wieder errichten will“, sage ich.

Meinem Gesprächspartner steigt die Zornesröte ins Gesicht. „Das ist die alte westliche Doppelmoral. Wie sollen wir denn eure Politik nennen? Die Ausdehnung der Nato bis an unsere Westgrenze? Die Stationierung eurer Truppen in Zentralasien? Die Besetzung Afghanistans? Warum sind die Araber, die euch angreifen, Terroristen, aber die Tschetschenen, die uns angreifen, Freiheitskämpfer? Warum sollen wir akzeptieren, dass die Nato und die EU ohne Legitimation durch den Sicherheitsrat Krieg gegen Serbien führen? Warum sollen wir akzeptieren, dass sie anschließend die Provinz Kosovo vom christlichen Serbien abtrennen, um es muslimischen Terroristen zu geben? Wie kann es angehen, dass EU und Nato Serbien aufteilen, uns aber verbieten wollen, vergleichbare Lösungen für Abchasien, Südossetien oder Transnistrien anzustreben?“ Die Rede ist von den georgischen und moldawischen Provinzen, die den Anschluss an Russland suchen.

„Aber reden wir nicht von Recht und Anstand, reden wir von dem, was ihr Europäer am besten versteht, vom Geschäft. Wir sind nicht nur euer drittwichtigster Absatzmarkt. Wir sind der größte Energieproduzent der Erde, noch vor Saudi-Arabien. Wissen Sie, wir wollen gern ein zuverlässiger Lieferant für Europa sein. Aber wie jeder Lieferant brauchen wir zuverlässige Kunden. Wenn die EU einen Kalten Krieg in Sachen Energie haben will, könnte es in Europa eines Winters sehr kalt werden.“

Die Weinflasche ist leer. „Das klingt beinahe wie eine Kriegserklärung“, sage ich. Nikonov steht auf und klopft mir freundlich auf die Schulter. „Nein, mein Freund, im Gegenteil: das sind unsere Friedensbedingungen.“

 

2007 habe ich mich gefragt, ob sich Putin noch als autoritärer Modernisierer erweisen werde, der Russland – wenn auch mit unappetitlichen Mitteln – schließlich in Richtung kapitalistische Demokratie führen könne. Ich schrieb:

 

Wahrscheinlicher ist angesichts der gewaltigen inneren Widersprüche Russlands die Entstehung eines quasi-faschistischen, aggressiven Imperiums an der Ostgrenze der Europäischen Union. Dieses Imperium wird alles tun, um den Beitritt der Ukraine und Weißrusslands zur europäischen Zone der Freiheit, der Rechtstaatlichkeit und des Wohlstands zu verhindern; die fortgesetzte Zerreißprobe, unter der die Ukraine seit der „Orangenen Revolution“ leidet, wäre da ein Vorspiel nur. Vom Baltikum zum Balkan verfügt Russland über Kräfte, die Unruhe stiften und die Ordnung Europas zersetzen können, wenn es den Interessen der Führung dient. Außerdem sollte man die Möglichkeit einer künftigen Sammlung der national-sozialistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen, islamophoben und amtiamerikanischen Kräfte Europas unter russischer Führung nicht ausschließen – eine populistische Sammlungsbewegung, die das Elitenprojekt Europa ernsthaft gefährden könnte.

(…)

Will Europa seine politische Handlungsfähigkeit beibehalten, ist die energiepolitische Unabhängigkeit von Russland der Schlüssel. Die Diversifizierung der Energiequellen, zum Beispiel durch Pipelines über die Türkei nach Zentralasien; die Weiterentwicklung neuer Produktions- und Transporttechnologien, zum Beispiel Windparks und Flüssiggas; die massive Förderung des Energiesparens, des Netzauzsbaus und experimenteller Energiequellen wie etwa der Fusionstechnik sind wichtige Aufgaben Europas.

(…)

Ebenso wichtig wie energiepolitische Unabhängigkeit ist die Solidarität mit den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa. Deren Nationalismus mag für manche postnational fühlende Alt-Europäer anachronistisch erscheinen; deren Gesellschaften, die weder die westliche Kulturrevolution der „Swinging Sixties“ noch die Horizonterweiterung durch massive Zuwanderung erlebt und die im Widerstand gegen den Kommunismus oft prämoderne Formen der Religiosität, der Geschlechter- und Familienbeziehungen konserviert haben, mögen für postmodern sozialisierte Alt-Europäer oft geradezu abstoßend wirken. Aber die Herausforderung des Europäischen Imperiums besteht nicht zuletzt darin, mit solchen kulturellen Ungleichzeitigkeiten fertig zu werden. (…) Völlig falsch wäre freilich die Vorstellung, Osteuropa könnte oder sollte gar kulturell und vor allem in seinem historischen Bewusstsein einfach „westeuropäisiert“ werden. Vielmehr muss das alte Europa die Erfahrungen der neuen Mitglieder im Osten mit fünf Jahrzehnten kommunistischer Diktatur endlich begreifen als „Große Erzählung“, die neben die Erzählungen vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, von der Shoah und dem Widerstand gegen Nazi-Deutschland, vom Wiederaufbau und vom Kalten Krieg tritt und die zukünftige Identität Europas stiftet.

In dieser neuen Großen Erzählung spielen Nationalismus, Religion und Tradition, Links und Rechts, Amerika, Russland und Europa eine ganz andere Rolle als in den Erzählungen, die das westeuropäische Bewusstsein beherrschen (…)

Schließlich darf Europa nicht darauf verzichten, die Demokratiebewegungen in der Ukraine und Weißrussland zu fördern und die Souveränität der demokratischen Staaten Moldawien und Georgien gegen russische Zersetzungsversuche zu unterstützen. Wird die russische Führung das als Provokation empfinden? Schon möglich. Auf jeden Fall wird sie so reagieren, als hielte sie das für eine Provokation. Aber eine Staatsführung, die demokratische Nachbarn in sicheren Grenzen als Provokation empfindet, spricht über sich selbst das Urteil.

 

Wenn ich das 2007 schon wissen konnte, und ich bin kein origineller Denker, wieso wurden wir Europäer von der Entwicklung in der Ukraine so überrascht?

 

 

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

101 Gedanken zu “Russland spricht;”

  1. avatar

    Eine wirkungsvolle Sicherheitsgarantie wäre eine Integration in die NATO. Die Ukraine befindet sich nicht in der NATO, also gibt es hier auch keine Sicherheitsgarantie. Die Tatsache, dass z.B. Polen sich zurecht sicher fühlen kann, zeigt doch genau das Gegenteil: dass es Sicherheitsgarantien gibt, die wirkungsvoll sind. Insofern zeigt die Ukraine das genaue Gegenteil: was passiert, wenn es eben KEINE Sicherheitsgarantie gibt?

    Theoretisch müsste der Iran aus der Krise in der Ukraine also das genaue Gegenteil folgern und sich so schnell wie möglich um eine wirkungsvolle Sicherheitsgarantie bemühen. Aber die iranische Regierung denkt, dass die Atombombe viel wirkungsvoller ist als die beste Sicherheitsgarantie, zumal dem Iran sowieso kein anderer Staat eine Sicherheitsgarantie gibt, solange er ein klerikalfaschistischer Staat ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top