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Die Abenteuer des braven Soldaten Karl

Mein Onkel Karl, nach dem ich benannt wurde – mein voller Name lautet Alan Carl Posener (meine Mutter bestand auf dem „C“) – wurde 1898 in Berlin geboren und starb 1946 in Adelaide, Australien.

1915, mit knapp siebzehn Jahren, meldete sich Karl freiwillig. Mein Vater schreibt in seinen Memoiren, „Heimliche Erinnerungen“ (Siedler 2004), aus denen ich auch im folgenden zitiere: „ Mit dem Gefühl, dass das geliebte Vaterland jede Hand bräuchte, die ein Gewehr halten könnte, war auch der Glaube verbreitet, dass nach dem Sieg das deutsche Volk, wenn es einmal gesehen hätte, wie seine Juden zu den Waffen geeilt waren, endlich vom Antisemitismus geheilt sein würde.“

Es kam bekanntlich anders, und zwar gründlich. Aber ich greife vor.

Karl diente in einem Artillerieregiment an der Westfront. Als er eines Nachmittags am Feldtelefon eingesetzt war, hörte er, wie sein Batterieführer vom Major angerufen und von diesem gefragt wurde, ob es unter den Abiturienten – nur die kamen für die Offizierslaufbahn in Frage – „ehrlose Leute, geistig Zurückgebliebene oder Juden“ gebe, die man selbstverständlich zurückstellen müsse. „Karl, siebzehn Jahre alt, jüdischer Kriegsfreiwilliger und deutscher Patriot, ging schnurstracks zum Major und stellte ihn zur Rede.“

Ein Fehler. Er wurde sofort zu einem Beobachtungsposten vor den Linien abkommandiert, wo er kurz darauf von einer einschlagenden Granate verschüttet wurde. „Als man ihn ausgrub, war er mit den Nerven am Ende.“ Heute würde man von posttraumatischem Stress reden, damals sprach man in England von „shell shock“, in Deutschland von einem „Bombenschaden“.

Nach einigen Zwischenstationen kam er im Winter 1917 nach Berlin ins „Haus Schönow“. (Zufällig lebe ich heute gar nicht weit von dieser Anstalt.) Der Leiter der Institution, ein Professor Henneberg, las Karl den Befund vor. Darin beschrieb Henneberg den  Jungen als „typisch jüdischen Degenerierten“ beschrieben, „dem das Wenige, was er je an Charakterfestigkeit besessen haben mag, im Krieg abhanden gekommen ist.“

Mein Großvater, dem Karl von der Diagnose erzählte, stellte Henneberg – immerhin in Gegenwart des Patienten – zur Rede. Was mit der Krankenakte passierte, weiß ich nicht, aber Karl wurde als „garnisonsverwendungsfähig“ entlassen. Als es zur entscheidenden Offensive im Frühjahr 1918 kam, wurde er wieder an die Front versetzt, an den Abschnitt Montdidier, wo seine ganze Batterie beim Rückzug ausgelöscht wurde. Karl überlebte als Einziger, weil er wieder einmal auf einen vorgeschobenen Posten geschickt worden war. Nach der Schlacht bei Albert wurde er endlich zur Offiziersausbildung zugelassen – in der Not musste das liebe Vaterland nun auch auf Juden und andere Degenerierte zurückgreifen – und erlebte das Kriegsende auf dem Lehrgang in Hagenau, wo er und einige andere Kadetten vom Soldatenrat festgesetzt wurden, weil sie sich weigerten, die Rangabzeichen von den Uniformen herunterzureißen.

Während die revolutionären Soldaten in der Bahnhofsgaststätte mit ihren Gefangenen auf Befehle warteten, entdeckten sie die Schnapsvorräte und Karl ein Klavier. Er spielte, sie tranken, und gegen Mitternacht konnte er sich fort schleichen und auf einen Güterzug Richtung Berlin springen.

 

Mir scheint, diese kleine, tragikomische Geschichte macht einiges klar. Dumme, ja verbrecherische Offiziere gibt und gab es in jedem Heer. Dumme und verbrecherische Lazarettärzte auch. Und Deutschland hatte damals kein Monopol am Antisemitismus. Und doch glaube ich, dass dies im britischen Heer so nicht passiert wäre.

Der Dichter Siegfried Sassoon etwa – gewiss, nur „Halbjude“, aber im Glauben der Väter erzogen – wurde selbstverständlich Offizier; und auch nach seiner hochverräterischen Erklärung gegen den Krieg 1916 kam er nicht vors Kriegsgericht, sondern – mit der Begründung, er leide unter „shell shock“ – in eine Nervenanstalt, deren Leiter sehr bald erkannte, dass Sassoon keineswegs verrückt war und dafür sorgte, dass Sassoon auf eigenen Wunsch frontverwendungsfähig geschrieben wurde und nach Frankreich zurückkehren konnte, wo er sich wie zuvor – ohne seine Einstellung zum Krieg geändert zu haben – durch Tapferkeit auszeichnete.

Während die „Kriegsschuldfrage“ relativ akademisch bleibt, ist die Frage keineswegs akademisch, was da für Gesellschaften gegeneinander Krieg führten. Und warum die deutsche Gesellschaft, anstatt die Leistungen der jüdischen Kriegsfreiwilligen wie Karl zu würdigen, in weiten Teilen nach dem Krieg erst recht einen aggressiven Antisemitismus pflegte und die Juden als Kriegsgewinnler und Bolschewiki, Pazifisten und Zersetzer der deutschen Moral, Kultur und Rasse attackierte.

Man kann das weder mit dem Schandfrieden von Versailles erklären noch mit der Inflation oder der Wirtschaftskrise – und auch nicht mit der Tatsache, dass es unter den russischen und jüdischen Revolutionären viele Juden gab, was das Bürgertum sozusagen aus Furcht vor der Vernichtung zum Präventivschlag in Gestalt des Holocaust trieb, wie es Ernst Nolte behauptet. Auch in Großbritannien waren die Zwischenkriegsjahre hart; auch dort kannte man den Namen Trotzki; und doch hatte dort – obwohl eine Form des milden Antisemitismus durchaus gesellschaftsfähig war – der auf Ausschluss der Juden aus der Gesellschaft zielende, aggressive Antisemitismus, wie er östlich des Rheins und nördlich der Alpen gepflegt wurde, keine Chance. Die von Berlin und Wien ausgehende Moderne, der Fortschritt von Wissenschaft und Industrie in den Jahren seit der Reichsgründung, der Stolz auf den preußischen Rechtsstaat und das deutsche Bildungsbürgertum übertünchten, wie mir scheint, die Tatsache, dass die „verspätete Nation“ in vielerlei Hinsicht noch rückschrittlich war. Eine Tatsache, die ein Thomas Mann etwa zu Beginn des Krieges geradezu feierte. Franzosen und Engländer hatten eine höhere „Zivilisation“, gewiss; die Deutschen dafür eine tiefere Kultur.

 

Karl wurde Arzt und arbeitete am Krankenhaus Moabit und in der klinischen Forschung an der Charité. Das von Otto Warburg (Nobelpreis 1931), Erwin Negelein und Karl Posener 1924 vorgelegte Papier „Über den Stoffwechsel der Carcinomzelle“, in dem zum ersten Mal der später so genannte „Warburg-Effekt“ beschrieben wurde, gilt als wegweisend für alternative Krebstherapien und wird seit der experimentellen Bestätigung einiger dort gemachter Vermutungen 2006 in Jena wieder verstärkt in der klinischen Forschung und Medikamentenentwicklung rezipiert. Als Karl er von den Nazis aus seinem Amt entfernt wurde, ging er mit seiner nichtjüdischen Frau nach England, wo er am Imperial College in London lehrte. 1939 wanderte er nach Australien aus, wo er als Dozent an der Universität in Adelaide arbeitete. Karl starb an den Spätfolgen einer Verwundung, die er sich beim Entladen eines brennenden Munitionszugs 1915 zugezogen hatte. Er hatte keine Kinder.

 

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54 Gedanken zu “Die Abenteuer des braven Soldaten Karl;”

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    Dear Alan

    Karl Posener is my distant relative through his grandmother Agnes Ehrenbaum Posner. The surname was originally POSNER. I have the Ehrenbaum lineage up several generations, if you are interested1 I would very much like to be in contact with you, as obviously we are related too!

    Sincerely,

    Judith Elam

    1. avatar

      Dear Judith, I hate to disappoint you, but Karl’s grandmother was Cato van Meerloo from The Hague. She married my great-grandfather Joseph Posener and had five children: Moritz, Louis, George, Julius (my father) and Mathilde. The Poseners were never „Posners“.

  2. avatar

    Lieber Robert, danke, aber:
    „Das Krankenbuchlager Berlin wird mit Ablauf des 31.12.2013 geschlossen. Anfragen, die nach diesem Datum eingehen können nicht mehr beantwortet werden.
    Das LAGeSo ist weiterhin bemüht alle Unterlagen des KBL an den Bund abzugeben, um den Zugang zu den Personenunterlagen wieder zu ermöglichen.“

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