Nicht nur meine atheistischen Freunde waren verstört, als ich vor vierzehn Jahren ein Buch über Maria veröffentlichte, die Mutter des Jesus aus Nazareth. Noch verstörter waren die wenigen unter ihnen, die das Buch auch lasen. Hatten sie von mir, einem zuweilen lautstarken Kritiker der Religion, eine Destruktion oder Dekonstruktion der Mariendogmen der Katholischen Kirche – unbefleckte Empfängnis, immerwährende Jungfräulichkeit und leibliche Aufnahme in den Himmel – erwartet, verbunden vielleicht mit einem Angriff auf die unseligen Auswirkungen des Marienkults für das Bild der Frau in katholisch geprägten Ländern, so wurden sie enttäuscht.
Vielmehr habe ich in jener Rowohlt-Monographie nicht nur die theologische Schlüssigkeit der Marien-Lehre im Rahmen der christlichen Gedankenwelt betont, sondern auch, ja vor allem die anrührende Gestalt der Muttergottes – ich benutze keine Anführungszeichen – und ihre Bedeutung für die Zivilisierung des Abendlands hervorgehoben. Wie mir scheint, kann ihre Geschichte, wie sie Matthäus erzählt (1,18 – 25), auch bei einem religiös unmusikalischen, agnostischen oder atheistischen Menschen zu jenem Prozess der charakterlichen Entwicklung beitragen, die ich Herzensbildung nenne.
Da ist ein höchstens vierzehnjähriges Mädchen, das plötzlich schwanger wird – es weiß selbst nicht so richtig, wie. (In katholischen Darstellungen der Verkündigung sitzt Maria züchtig und allein im Studierzimmer bei der Lektüre der Thora. In Nazareth, erhebt sich heute eine große katholische Basilika über der Grotte, wo der Engel erschien; doch die griechisch-orthodoxen Christen zeigen einem den Brunnen, wo Miriam dem wahrscheinlich sehr irdischen Engel beim Wasserholen begegnete.) Auf diesen „Ehrverlust“ steht als Strafe, damals im jüdischen Palästina wie heute in so manchem muslimischen Land, der Tod durch Steinigung. Ihr Verlobter denkt daran, sie heimlich zu verlassen. Und zwar aus Liebe, weil dann die Schuld auf ihn geschoben werden kann: Wenn der Verlobte seine Braut schwängert und verlässt, bleibt nach jüdischer Auffassung die Ehre des Mädchens unangetastet. Doch während er noch die Vorbereitungen zur Flucht trifft, hat Joseph einen Traum, in dem ihm gesagt wird, er solle bei Maria bleiben, ihr Kind sei etwas Heiliges. Und Joseph – mein Lieblings-Heiliger – tut das dann auch und stellt offensichtlich keine weiteren Fragen. Wer von uns heutigen, aufgeklärten Männern wäre so großherzig?
http://www.welt.de/kultur/article121036225/Ich-bin-Bischof-Herr-hol-mich-hier-raus.html
Man muss nicht darüber streiten, ob sich das alles wirklich so zugetragen hat. Vieles an den Geschichten über Jesus ist nachweislich erfunden – so etwa die Geburt in Bethlehem wegen einer Volkszählung und damit auch die Karawanserei, in der kein Platz war, Stall, Futterkrippe, Ochs und Esel, Stern, Schäfer und Magier aus dem Morgenland und überhaupt alles, was die märchenhafte Bildwelt eines christlichen Weihnachtens ausmacht. Aber auch diese Fiktion, wie jede große Erzählung, trägt zur Herzensbildung bei. Man kann schlechterdings Europa ohne die Heilige Familie nicht denken.
Nicht zuletzt dank dem Ur-Mythos der Weihnachtsgeschichte, bei der Gott selbst unter ärmlichsten Verhältnissen zur Welt kommt – und natürlich dank der ebenfalls großen – und wohl in groben Zügen wahren – Geschichte, die den Messias als Aufrührer am Kreuz sterben lässt – ist ein sozialer, ja ein linker Zug in die Geistesgeschichte Europas und Amerikas eingeschrieben.
https://starke-meinungen.de/blog/2010/12/21/frohe-weihnacht-allerseits/
Die griechische Tragödie wollte die Bürger der Polis durch „Furcht und Mitleid“ von ungesunden Affekten reinigen; sie mittels Katharsis zur Menschlichkeit erziehen. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Grunderzählung des Christentums für den Westen.
Nun kann man einwenden, dass weder Aeschylus noch die Evangelisten Wirkung gezeigt hätten: die Geschichte des antiken Griechenland und des christlichen Europa ist voll von Gemeinheit und Blut. Christen halten zwar gern den Atheisten vor, dass die zwei atheistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts – der Kommunismus und der Nationalsozialismus – Millionen und Abermillionen Opfer geordert haben. Doch erstens waren jene Bewegungen eher pagan-gnostisch als genuin atheistisch; und zweitens haben – gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung – die Religionskriege des 17. Jahrhunderts in Europa prozentual mehr Opfer gefordert als die Diktaturen des 20. Von den vielen Verbrechen, die etwa Karlheinz Deschner in seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“ dokumentiert hat, ganz zu schweigen. Mit der Herzensbildung scheint es also bei den Christen nicht sehr weit her zu sein.
Doch sind die Geschichten da. Und sie haben durch die Jahrhunderte Menschen zum Widerstand gegen die Unmenschlichkeit motiviert, von den frühen Christen, die gegen die Gladiatorenkämpfe, die Tötung weiblicher und behinderter Neugeborener und ähnliche Brutalitäten aufbegehrten, über William Wilberforce und seine Mitstreiter gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel, die Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller, Martin Luther King und seine Leute bis hin zu den rebellischen Pastoren der DDR.
Mir scheint, dass sich Atheisten, Agnostiker und religiöse Ignoranten nicht nur eines ästhetischen und literarischen Vergnügens begeben, wenn sie die Religion – ich spreche hier nur von der christlichen, weil ich sie am besten kenne, aber das gilt auch vom Judentum, vom Islam und von den vielen anderen Schöpfungen der unerschöpflichen menschlichen Fantasie und Sehnsucht – in Bausch und Bogen als Unsinn abtun oder ihr mit Desinteresse oder Feindschaft begegnen. Der Philosoph Alain de Botton hat darüber ein Buch vorgelegt, und mein einziger Einwand dagegen ist, dass ich es selbst gern geschrieben hätte. Wer diese Geschichten nicht kennt, verzichtet überdies auf eines der schärfsten Mittel im Kampf gegen die real existierende Religion: den Vergleich der praktizierten Hartherzigkeit vieler religiöser Menschen mit der Herzensbildung, dem Mitleiden mit aller Kreatur, die ihre Religion von ihnen theoretisch verlangt.
Mir scheint überdies, dass viele Atheisten – besonders die Funktionäre jener Vereine, die so etwas wie die atheistische Kirche ausmachen – einen etwas verkniffenen, unfrohen, unduldsamen und – so paradox es klingt – also protestantischen Zug an sich haben. Die Vernunft, so scheint es, ist in ihren Köpfen an die Stelle Gottes getreten; und wie Jahwe oder Allah ist die Ratio ein eifersüchtiger Gott, der keinen anderen neben sich duldet.
Dabei ist der Atheismus keineswegs eine rein rationale Angelegenheit. Er gründet – denkt man an das „Prometheus“-Gedicht des jungen Goethe oder an die französischen Existenzialisten – im trotzigen Entschluss, sein Leben so weit es nur geht selbst zu verantworten und sich der süßen Versuchung falscher Tröstungen zu widersetzen. Das ist ja eine sehr emotionale Angelegenheit. Und ein richtig verstandener Atheismus führt durchaus zu einer Herzensbildung, die sich kaum von jener eines richtig verstandenen Christentums unterscheidet. Hier sind einige Elemente dieser atheistischen Herzensbildung, die mir wichtig erscheinen:
1. Demut. Atheisten tun manchmal so, als würden sie alles wissen, weil sie ja den „Märchen“ der Religion abgeschworen und den harten Fakten der Wissenschaft vertrauen. Aber abgesehen davon, dass manche religiöse Menschen – man denke etwa an die Jesuiten – durchaus imstande sind, die Wissenschaft so zu denken, als gäbe es keinen Gott, und Gott, als gäbe es keine Wissenschaft – besteht die naturwissenschaftliche Haltung zur Welt eben nicht in der Selbstzufriedenheit jener Kleingeister, die sich selbst auf die Schulter klopfen, weil wir es doch „so herrlich weit gebracht“ hätten. Vielmehr besteht sie vor allem in der Fähigkeit zu staunen und in der demutsvollen Erkenntnis, dass mit jedem Fortschritt unseres Wissens auch die Unsicherheit und das Nichtwissen wachsen. Es sind ja die Religiösen, die behaupten, alles zu wissen, einschließlich solcher Dinge, die man schlechterdings nicht wissen kann, nämlich wozu der ganze Kosmos da ist, was der Schöpfer des Universums mag und nicht mag, will und nicht will, was nach dem Tod los ist, warum es das Böse gibt und so weiter und so fort.
2. Toleranz. Nur Religiöse kennen die Wahrheit. Atheisten leben in einer Welt der versuchten Annäherung an die Fakten, der stetigen Selbstüberprüfung und der Infragestellung eigener und fremder Gewissheiten, die ein Papst Benedikt XVI als „Diktatur des Relativismus“ verunglimpft hat, die aber Grundlage der Demokratie ist. Denn die Abwesenheit des Wahns, die Wahrheit zu kennen, macht Toleranz – außer gegenüber der Intoleranz – zur ersten Bürgertugend.
3. Leben für den Augenblick. Jesus forderte seine Anhänger auf, so zu leben, als sei jeder Tag ihr letzter. „Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung?“ (Matthäus 6,25) „Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ (Matthäus 6,34) Allerdings halten sich die wenigsten Christen an diesen Ratschlag. Und während Christen darauf hoffen können, im Jenseits das wiedergutzumachen, was sie hier versäumt haben (und Hindus und Buddhisten auf die Wiedergeburt setzen), gehen Atheisten davon aus, dass man nur eine Chance bekommt; dass ein verfehltes Leben nicht wieder gut zu machen ist. Grund genug, sich rechtzeitig zu überlegen, was wirklich wichtig ist. Und das ist das Hier und Jetzt. Nicht im Sinne eines hemmungslosen Konsums oder Sinnesrauschs. Die Erfahrung lehrt, dass menschliche Beziehungen – Liebe und Freundschaft – das Wichtigste im Leben sind.
4. Soziales Engagement und Achtung der Menschenwürde. Aus der Erkenntnis, dass jeder nur ein Leben hat, folgt wiederum, dass man auch das Leben anderer nicht angeblich höheren Zwecken opfern darf, sei es dem Ruhm Gottes, sei es einem geschichtlichen Determinismus, sei es der idealen Gesellschaft. Kants kategorischer Imperativ, demzufolge jeder Mensch als Zweck an sich, nicht als Mittel zum Zweck anzusehen ist, macht eigentlich nur im Kontext einer radikalen Diesseitigkeit Sinn. Auch die Armut ist für Atheisten kein „tiefer Glanz von Innen“, wie für Rilke, kein Scheck auf das Wohlergehen im Jenseits, sondern ein Skandal – eine Sünde – angesichts der Einmaligkeit des Lebens.
5. Anrührbarkeit. Atheisten weinen im Kino. Nein, Quatsch, das tun andere auch. Aber mir scheint, dass Demut, Toleranz, Leben für den Augenblick und Achtung der Menschenwürde den Menschen offen machen für die Erfahrungen, die Probleme und Leiden, aber auch die Freuden und – ja auch – Offenbarungen anderer Menschen. Religiöse Intoleranz ist eine Spezialität religiöser Menschen. Es waren ja nicht Atheisten, die Multi-Kulti für tot erklärten, sondern Leute, die das angeblich „jüdisch-christliche“ Erbe des Abendlands gegen die Vorstellung ausspielten, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Mir scheint überdies, dass vielen religiösen Menschen dieses Angerührt-sein-Können durch das Leben selbst abgeht. Sie sind auf eine Weise durchgeistigt, die fast schon lebensfeindlich ist. Mich wollte einmal – angeregt durch mein Marien-Buch – ein Funktionär des Opus Dei missionieren. Ich ließ mich auf das Gespräch ein; ja, ich hätte mich gern bekehren lassen. Doch als der Mann auf den Himmel zu sprechen kam, fragte ich, ob dort auch für meine Katze Platz sei. Die Frage war ernst gemeint, aber der Priester sah mich entgeistert an. Tiere hatten für ihn keine Seele, und die Tierliebe hatte in seiner Welt und darum auch in seinem Himmel keinen Platz. Dem Mann fehlte es nicht an theologischer, wohl aber an Herzensbildung.
(Eine kürzere Fassung dieses Essays erschien im humanistischen Magazin „diesseits“ Nr. 104, 5/2013 )
Quasi auf der Rückseite der Zuversicht befindet sich Angst. (Ich komme darauf, weil meine jüngste Tochter auch diese Nacht wieder aufgewacht ist und Angst hatte; unbestimmte Angst vor der Dunkelheit. Wenn sie sich dann ins elterliche Bett legt, ist es mit der Angst meist vorbei. Mit dem Schlaf der Eltern allerdings auch.)
Hierzu muss man sagen, dass die Gläubigen auf ihrem dicken alten Dampfer bedeutend hochseetüchtiger sind als die Ungläubigen in ihren ausgesetzten kleinen Nussschalen. Die haben echte Probleme. Die Agnostiker sitzen womöglich in der Hafenkneipe und schauen dem Treiben zu, aber spätestens mit der Familiengründung ist es mit dem beschaulich abseitigen Leben vorbei. Da muss man dann Farbe bekennen, und mit demselben versteckten Unernst, den ich den zweifellos Gläubigen hinsichtlich der Bedeutung der weltlichen Dinge attestierte, bringe ich den lieben Gott zum Einsatz. Mit beschränkter Haftung. – Jedenfalls: Die Gläubigen sollten die Ungläubigen mit einem Mindestmaß an Achtung begegnen, so wie man Schiffbrüchige beobachtet, denen man nicht helfen kann. Freiwillig setzt sich niemand ungeschützt der Angst aus.
@Marit: Der Glaube hat viel mit Entscheidung zu tun, ja. Atheismus auch, wie Herr Posener dargelegt hat. Das stimmt. Aber wieso sollte es unfruchtbar/illusionär sein, wenn zwei Leute, die sich jeweils für etwas anderes entschieden haben, hinischtlich ihrer Beweggründe austauschen? (Der Begriff „existenziell“, den man hier benutzen könnte, führt nicht weiter; es gibt keinen Graben zwischen existentiellen und akzidentellen Dingen. Der Unterschied ist fließend.)
Lieber Herr Posener,
warum schreiben Sie JHWE und Allah? Als Stilmittel oder sind es für sie zwei verschiedene Götter?
@ Roland Ziegler: Mir würde es nicht einfallen, das Vertrauen in Gott anzutasten.
Ich würde mich auch eher zu den Braven rechnen – mit einem kleinen Zweifel daran, ob ich wirklich nur brav oder nicht auch einfach ein bissen ein existenziell fauler Sack bin. Sie verstehen. 😉
ich selber habe sogar ein vergleichbares Vertrauen (an die sinnreiche, aber rätselhafte Einrichtung der Welt), ohne allerdings eine Religion zu haben
Na, das ist schon ziemlich Deismus und Aufklärung. „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“
… kann man hier an Märzensbach ablesen
Mein Ein-wort-Kommentar dazu, käme nicht durch die Zensur.
—
Zum Thema war’s das erstmal für mich, glaube ich.
@KJN & R.Z.
… wirklich meine Herren, ‚Rationalität des Heilens‘ in Präimplantationsdiagnostik und Abtreibung sehen und geliebte Katze in den Himmel.
no comment
Dass umgekehrt die großen Metaphysiker in ihrer Herrlichkeit es an Respekt für uns kleine Geister mangeln lassen, kann man hier an Märzensbach ablesen.
Sie bezeichnen den anspruchsvollen Atheismus, der statt der Existenzfrage das Vertrauen zu Gott negiert, als „Machtkampf“. Diese Art Atheismus liegt mir tatsächlich fern. Mir würde es nicht einfallen, das Vertrauen in Gott anzutasten. Dieses Vertrauen scheint mir noch das beste an den Religionen, und ich selber habe sogar ein vergleichbares Vertrauen (an die sinnreiche, aber rätselhafte Einrichtung der Welt), ohne allerdings eine Religion zu haben. Dieses kleinformatigere Vertrauen in die Welt ermöglicht es mir, das große metaphysische Vertrauen der Gläubigen zu respektieren.
@ Ziegler
Nietzsche habe ich hier „missbraucht“, um klar zu machen, dass die wechselseitige „Inspiration“ zwischen Christentum und Atheismus eine Illusion bleibt, wenn damit gemeint ist, dass ein wenig Herumvagabundieren an der Peripherie des jeweils anderen Erfahrungsraumes eine neue Erfahrung bringt.Dazu muss man sich schon einlassen, sich durchkämpfen, sich entscheiden.Denn, so paradox es klingen mag, auch Glaube hat viel mit Entscheidung zu tun.Atheismus natürlich auch.
Meine Empfehlung: zur Herzensbildung und geistigen Erbauung taugt die Betrachtung eines Kunstwerkes,ein Gedichtband, Musik etc etc. in diesem Falle besser oder ebenso gut.Denn was sollte der Atheist in den Evangelien anderes finden, als eine Art von ästhetischem Genuss?
@EJ: Das wissen zu wollen, geht nur, wenn man es nicht weiß; insofern ist das üblicher Atheismus, ja. Mir ist unklar, wie man Atheist sein und trotzdem etwas vom „lebendigen Gott“ wissen kann, wie Sie nahelegen. Meinen Sie z.B. die unmittelbare, lebendige, existentielle Liebe, die man für seine Familie empfindet? Dann weiß ich etwas vom „lebendigen Gott“ und wurde in gewisser Weise sogar „vom Blitz getroffen“ und habe sogar „mein Leben (radikal) ändern“ müssen, das nämlich vor meiner Familiengründung sehr anders (aber durchaus nicht unglücklich) verlief. Meinen Sie so etwas? Es wäre einfach nur eine andere Ausdrucksweise.
@ Roland Ziegler: Für mich würde ich es als bedeutend ansehen, ob ein Gott – nicht nur vulgär-ominös, sondern konkret so, wie es beschrieben wird: dreifaltig, mit einem am Kreuz gestorbenen Sohn, einer jungfräulichen Mutter und anderen Wundern – existiert bzw. vorstellbar ist.
Das wissen zu wollen, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen, ohne fürchten zu müssen, „vom Blitz getroffen“ zu werden und sein Leben (radikal) ändern zu müssen, weiß nichts vom „lebendigen Gott“ bzw. setzt bereits den Tod Gottes voraus.
Die nur theoretische – nicht-existenzielle – Neugierde des „Vulgäratheisten“ kann sich allenfalls noch auf den bereits nicht mehr lebendigen Gott des Deismus beziehen, auf den risikolosen, bestenfalls schaubaren Gott der Aufklärung, aus dem in bemerkenswerter Weise nichts (mehr) hervorgeht.
Ja, vermutlich ist das der übliche Atheismus.
@ Alan Posener Ähm, EJ, ich glaube, Sie haben den Existenzialismus falsch verstanden.
Ähm, APO, ich glaube, das war ein sehr diskussionsfördernder Hinweis! Danke!
@R.Z.:“Sie treiben mich noch stärker als Christpop aus ihrem Gotteshaus.“
Mich auch, lieber Roland Ziegler, mich auch.
@Märzenbach
„sentimentales Getue, will heißen, die Abwesenheit echter Gefühle“
Wer beurteilt das, was „echt“ ist? Sie?
„Guter Mann, sie verkaufen sich hier als Atheist! Was palavern Sie von dem Begriff “Seele”?…Sprechen Sie als Grieche? Oder als Jude?“
Ist das für Atheisten, Griechen, Juden ein verbotenes Thema?
Merken Sie eigentlich nicht, was da gerade mit Ihnen durchgeht?
@ Märzenbach: Nun ja, natürlich will ich „meine Nichtigkeit interessant erscheinen lassen“. Schuldig, euer Ehren, ich bin Publizist.
ansonsten spricht aus Ihrem Beitrag einen Hass, der ganz und gar unchristlich ist.
Alle Ihre Unterstellungen kann ich gut verkraften, außer jener der Lüge. Sie unterstellen mir das, weil ich es vermeide, von „Wahrheit“ zu reden, und Sie dagegen halten, es gebe „eine objektive Sachwahrheit“.
Das ist ein Streit um Begriffe. Ich meine „Wahrheit“ in einem metaphysischen Sinn. Was Sie als „Sachwahrheit“ beschreiben, ist einfach eine Tatsachenfeststellung wie: „Dieser Tisch ist rund.“ Sie hätten auch argumentieren können, dass ich doch auch vor Gericht schwöre, „die Wahrheit“ zu sagen. Aber das ist die subjektive Wahrheit gegen die subjektive Lüge. Wenn ich vor Gericht sage: „Der Tisch (an dem wir etwa einen strittigen Vertrag schlossen) war rund“, dann wird diese Aussage nicht dadurch zur Lüge, dass der Tisch tatsächlich achteckig war. Ich habe mich lediglich geirrt. Es ist doch klar, dass ich hier „Wahrheit“ in einem anderen Sinn gebrauche. Das als „Lüge“ zu bezeichnen, ist unhöflich und böswillig.
…Sie haben doch die Reaktion des opus-dei-Menschen auf die geliebte Katze gelesen? Zu solchen Gläubigen hatte ich mich äußern wollen. Sie treiben mich noch stärker als Christpop aus ihrem Gotteshaus.
@KJN: Deshalb sprach ich ja auch von den „zweifellos“ Gläubigen. Es gibt auch andere Gläubige. Meist schwanken die Leute doch zwischen Gläubigkeit und Ungläubigkeit hin und her. Hier gibt es nicht nur schwarz oder weiß, sondern jede Menge Graustufen. Wir diskutieren aber meist nur die (kaum vorhandenen) Idealtypen und betrachten den Rest als „vulgär“.
Ja, Bach hat viel Musik zur Lobpreisung eines Höheren geschrieben, aber auch viel Auftragsarbeit zur Lobpreisung weltlicher Herrscher oder einfach nur so, zum Vergnügen. Denken Sie an die berühmter d-Moll-Chaconne, die Goldberg-Variationen, Anna Magdalenas Notenbüchlein, das Wohltemperierte Klavier… Er hat SEHR viel Liebe in die Tonsetzerei und die muskalische Kindererziehung gesteckt, die ja beides nicht mit der Gottesliebe identisch sind. Jedenfalls nicht nach klassisch-christlichen Maßstäben. (Andere Komponisten haben sich kaum für die Gottesliebe interessiert und waren ausgesprochene Zweifler.)
oje..
Err.: ..zeitgeist-typische Anmaßung..
„Menschen-Gerechtheit“ hingegen soll so. Nicht „Menschen-Gerechtigkeit“ – die gibt’s nämlich wohl nicht.
Herr Posener, Ihr Bemühen, den Atheismus als attraktiv zu verkaufen ist fruchtlos und nichts wert. Ihr atheistischer Kaiser hat keine neuen Kleider, er ist so nackt wie ehe und je. Im Text agieren Sie
1. mit Unterstellung ( „Es sind ja die Religiösen, die behaupten, alles zu wissen, einschließlich solcher Dinge, die man schlechterdings nicht wissen kann..“). Ein platter Allgemeinplatz!
2. mit Lüge („Nur Religiöse kennen die Wahrheit.“) Selbst Sie kennen eine objektive Sachwahrheit.
3. mit pathetischem Augenrollen („Aus der Erkenntnis, dass jeder nur ein Leben hat, folgt wiederum, dass man auch das Leben anderer nicht angeblich höheren Zwecken opfern darf“). Reden wir mal über die Praxis der Abtreibung in demokratischen und sozialistisch/kommunistischen Gesellschaften.
4. mit Pathologisierung der „Anderen“ („Denn die Abwesenheit des Wahns, die Wahrheit zu kennen, macht Toleranz – außer gegenüber der Intoleranz – zur ersten Bürgertugend.“) Ihre Toleranz gilt nur in Bezug auf Gleichgeschaltete und den Gleicheren unter den Gleichen, wehe einem vertikalen Weltverständnis! (Dagegen: Liebe Deine Feinde! Dreht sich Ihnen bei dem Gedanken schon der Magen um?)
5. sentimentales Getue, will heißen, die Abwesenheit echter Gefühle („Doch als der Mann auf den Himmel zu sprechen kam, fragte ich, ob dort auch für meine Katze Platz sei“) Guter Mann, sie verkaufen sich hier als Atheist! Was palavern Sie von dem Begriff „Seele“? Sprechen Sie als Grieche? Oder als Jude? Oder reden Sie da einfach substanzlos vor sich hin?
Diese Liste ist nicht vollständig und nicht abgeschlossen, aber für die Mühe eines kleinen Kommentars soll es genügen.
Mein Fazit: Ein enttäuschender Beitrag aus ihrer Feder, aber Enttäuschung trägt ja zur Wahrheitsfindung bei. Um Aufmerksamkeit zu erregen bedienen Sie sich verkürzter christlicher Termini, um Ihre propagierte Nichtigkeit interessant erscheinen zu lassen.
@blonderhans: Man kann ja von Luther halten, was man will; seine musikalische Bedeutung lässt sich nicht abstreiten. Niemand in der Kirche hat die Bedeutung der Musik je höher eingeschätzt als Luther, und er hat Bach inspiriert, wofür allein ihm die Welt dankbar sein muss. Und es war ein anderer, katholischer Taufgottesdienst, auf dem ich die verheerende Wirkung von Christpop zuletzt erleben musste. Der lutherische Taufgottesdienst hat wie gesagt gute Orgelmusik gemacht.
@R.Z. „Die zweifellos Gläubigen sind abgesichert; ihre Sicherung besteht darin, ihr irdisches Dasein nur als eine Existenz auf Probe zu betrachten… usw. usf.“
Nein! Das mag für einige vergeistigte, jenseitsbezogene Christen und Muslime so gelten, aber es kann weit mehr sein: Z.B. das (demütige) Eingeständnis, eben die Welt nie komplett erklären zu können und damit viele unerwartete Chancen und Möglichkeiten zuzulassen (kein Determinismus). Eine Immunisierung gegen Positivismus, Technokratie und Machbarkeitswahn bei gleichzeitiger Ermutigung, sich die Welt im Sinne einer erahnten Menschen-Gerechtheit untertan zu machen. Die einzige teleologische Philosophie gegen den Absturz in totalitären und/oder konsumistischen (jeder des anderen Serviceleister) Massenwahn und der einzige Garant für Individualität. Und „Anspruchsvoller Atheismus“ (EJ) ist zetgeit-typische Anmaßung. (Ich selber bin berufsbedingt Agnostiker, aber nun arbeitet man ja nicht immer.)
Und was die Musik betrifft: J.S.Bach z.B. hat seine zur Lobpreisung eines Höheren komponiert. So entsteht sowas.
@ Alan Posener
„Der Atheist ist nicht deshalb Atheist, weil er keine Zweifel zulässt, sondern weil er sich angreifbar machen will. Leben, als gäbe es keine Götter; argumentieren, als gäbe es keine Götter; kurz und gut: etwas wagen. Das ist, wie ich schon sagte, eine nicht allein rationale, sondern eine emotional-affektive Entscheidung. Es spricht nicht für Ihre Toleranz, dass Sie die Würde dieser Haltung nicht anerkennen.“
Lieber Herr Posener,
wie tolerant oder intolerant ich bin läßt sich schwerlich aus meinen wenigen Zeilen zu diesem Thema schließen.
Falls ich mißverständlich war, zur Richtigstellung, ich wollte in keinster Weise eine atheistische Haltung abwerten.
Ich habe einige Atheisten kennengelernt, und die meisten davon glauben mit der gleichen Inbrunst an die Nichtexistenz Gottes wie andere an ihre jeweilige Gottheit glauben.
Im Grunde genommen beneide ich die Menschen die glauben können, denn dieser Glaube gibt ihnen eine Gewissheit, die ihnen das Leben leichter macht.
Auch hier unterscheiden sich Atheisten und Theisten jeglicher Konfession nicht voneinander.
Auf mich würde in der Tat am ehesten noch die Bezeichnung Agnostiker zutreffen, aber möglicherweise aufgrund meiner katholischen Erziehung halte ich es mit Leon Blum:
Ich glaube es, weil ich es hoffe.
..oder eigentlich vertraut der anspruchsvolle Atheist weniger sich und den Menschen als der prozesshaften Welt, die so ist wie sie ist und sich permanent entwickelt, ohne dass er sie restlos verstehen geschweige denn etwas Fundamentales an ihrer Entwicklung ändern kann. Auch dieses ist eine bescheidende Haltung, die sich in einem Punkt mit dem Gläubigen trifft, der ja auch an die Sinnhaftigkeit und grundsätzliche Unantastbarkeit der der Welt glaubt. Er führt sie allerdings auf Höheres zurück, das er durch Offenbarung erkennbar setzt – und hier trennen sich die Wege wieder.
@R.Z.
… oi, oi, oi … werter R.Z., Sie sind ja ein konservativer ’non-Atheist‘ … gut so! 😉
… die Lutheraner beten derweil (schon wieder) Totenköpfe an. Nun ja.
Ähm, EJ, ich glaube, Sie haben den Existenzialismus falsch verstanden. Großes Thema jedenfalls.
@EJ: Ja, meinem (unmaßgeblichen, da theologisch ungeschulten) Verständnis nach ist der Glaube wesensmäßig Vertrauen. Ganz wie Sie ausführen. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ – ein wundervoller Satz. Die Existenz oder Nicht-Existenz stellt kein Problem dar; die Existenz wird zwar mit ausgesagt, ist aber überhaupt nicht Kern der Aussage. Sondern dass ich mit guten Absichten bewacht werde und mir nichts wirklich Schlimmes passieren kann. Nur scheinbar Schlimmes.
Dieses wird nun vom anspruchsvollen Atheisten bezweifelt. Er befürchtet, dass doch etwas wirklich Schlimmes passieren kann und dass er deshalb selber wachen muss, weil es ssonst keiner, schon gar kein Gott tut. Der anspruchsvolle Atheist vertraut auf den Menschen als Wächter, weniger auf sich persönlich.
Probleme habe ich dagegen, den Vulgäratheisten zurückzuweisen. Er ist mir zu alltäglich und zu lebendig. Mir scheint, dass ich mich selber als Vulgäratheisten bezeichnen muss. Für mich würde ich es als bedeutend ansehen, ob ein Gott – nicht nur vulgär-ominös, sondern konkret so, wie es beschrieben wird: dreifaltig, mit einem am Kreuz gestorbenen Sohn, einer jungfräulichen Mutter und anderen Wundern – existiert bzw. vorstellbar ist.
Mir ist dabei bewusst, dass es sich um eine Religionstechnik handelt. Die Technik jeder Religion besteht darin, den Geist zu verknoten, ganz wie eine Massagetechnik: etwas Unverstehbares auszusagen, um einen Entspannungszustand zu erreichen, in dem man dann die Offenbarung findet. Das ist bei Zen-Koans, Bibeltexten, Koransprüchen usw. ähnlich. Nach meinem Eindruck ist dies eine menschengemachte effektive Technik.
Ich sehe mich lediglich in der Lage, einen gestaltlosen, vulgären „Glauben“ anzunehmen und mein Vertrauen hierauf zu stützen. Eine Beständigkeit, die mir durch eine Mannigfaltigkeit, z.B. durch die Musik oder durch die Liebe, vermittelt wird.
Ich fürchte also, ich bleibe im Bereich des „Irdisch-Vulgären“ hängen, und, noch schlimmer: ich fürchte, alle anderen bleiben es auch.
…“öko“menisch war wohl ein Freudscher Fehler 🙂
Die Gläubigen messen den irdischen Dingen und auch den sozialen Beziehungen zu wenig Bedeutung bei. Sie bleiben oberflächlich. Die oberflächliche Beziehung zu den Menschen zeigt sich in den grobschlächtigen Vergemeinschaftungsversuchen, wie ich sie in ökomenischen Gottesdiensten meiner Kindheit erleben musste. Jüngst wiederholte sich dies im evangelischen Gotteshaus anlässlich einer Taufe. Der Pastor war eigentlich sehr sympathisch, er sprach über wichtige Dinge auf angenehme und eindringliche Weise, z.B. über die Bedeutung des Wassers als Lebensspender oder über die Bedeutung der elterlichen Liebe zum Baby, die ohne jede Erwartung auf Gegenleistung direkt da ist. Das war durchaus schön und hörenswert für jeden. Dann aber wurden die Gemeindemitglieder aufgefordert, sich zu verknüpfen; es lagen nummerierte Tafeln auf jedem Platz, und man wurde aufgefordert, mit seinem zufälligen Nummernpartner einen Dialog zu führen. Früher, in den ökomenischen Gottesdiensten, musste man wildfremde Menschen an die Hand nehmen und eine miserable Musik mit Schlagzeug und E-Gitarre über sich ergehen lassen. Denn auch hier sind die Gläubigen oft oberflächlich: Wen interessiert schon die Musik, es kommt auf das gemeinsame Erlebnis an. (Dies war bei der Taufe übrigens besser; hier wurde sehr schöne Orgelmusik gespielt und nur teilweise dazu schlecht gesungen.)
Hierzu muss ich allen hier versammelten Christen klipp und klar sagen: Solche Faxen sind für einen agnostischen oder gar atheistischen Menschen schlicht inakzeptabel. Ich möchte keine Leute an die Hand fassen, die ich nicht kenne oder mag. Ich möchte auch keine Schrottmusik hören. Beides treibt mich aus jedem Gottesdienst heraus und verleidet mir jeden enrsthafteren Gedanken an Gott.
@ Roland Ziegler
Ich halte Ihren Einwand für wichtig. Er hat starke „atheistische Konsequenzen“. Ich komme deshalb noch mal darauf zurück: Niemand, der glaubt, würde ernsthaft sagen: “Ich halte mich an die Hypothese Gott”. Das hätte mit Glaubensgewissheit nichts zu tun.
Anders gesagt: Im Glaubensbekenntnis geht es nicht darum, die Existenz Gottes zu bestätigen – das setzte einen hypothetischen Außenstandpunkt voraus und wäre aus gläubiger Sicht absurd.
Ich kenne diese Sprache zwar eher nur aus dem (amerikanischen) Film – trotzdem: Die Logik der Glaubens-Aussage entspricht der, die Person A bemüht, wenn sie zu Person B sagt: „Ich glaube an dich.“ Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, dass A (absurderweise) die Existenz der Person B bestätigt, sondern um das Vertrauen in deren Eigenschaften und/ oder Fähigkeiten.
Das apostolische Glaubensbekenntnis sagt: „Ich glaube an Gott, den Vater/ den Allmächtigen/ den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Muslime haben zwar auch ein Glaubensbekenntnis, aber schon der Ruf „Allahu Akbar!“ übersetzt das Gemeinte hinreichend genau: Es geht im Glauben nicht darum, ob Gott ist, sondern darum, was Gott ist, nämlich der (Größte), dem ich vertrauen kann (und muss).
Ist Ihr Einwand so halbwegs richtig verstanden, hat das Konsequenzen für Ihren auf den Atheisten bezogenen Nachsatz: [Der Atheist] hält sich an eine (materialistische) Hypothese, ohne eine Glaubensgewissheit zu haben
Das mag so sein. Wäre aber doch ein echt langweiliger, weil rein theoretischer Atheismus (der „Vulgäratheismus“, von dem APO spricht?). Welchen Sinn machte es, die Existenz (eines) Gottes zu leugnen (oder zu bestätigen). Ob Ja oder Nein, was machte das für einen Unterschied für Welt und Leben?
Der Atheist, der auf sich hält, leugnet nicht Gott. Der kann ihm im Prinzip schnurz sein. Der – anspruchsvolle, der, wenn ich APO richtig verstehe: nicht-vulgäre – Atheist leugnet den Glauben an Gott, das Vertrauen auf Gott.
Der anspruchsvolle Atheist vertraut auf sich. Der anspruchsvolle Atheist sagt wie A zu B im (amerikanischen) Film: Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an mich. – Darum geht’s, denke ich. Anspruchsvoller Atheismus ist nicht Theorie, sondern Praxis. Eine Kampfansage. Ein Machtkampf.
@Marit: Nietzsche ist sicher nicht durch seinen Atheismus um den Verstand gebracht worden, sondern vermutlich durch eine Geisteskrankheit körperlichen Ursprungs, wie sie Tausende um den Verstand bringt. Wenn hier etwas schädlichen Einfluss hatte, dann nicht die Gedanken, sondern die Einsamkeit, verursacht durch die völlig verständnislose menschliche Umgebung seiner Zeit, bestehend aus – Christen.
Die zweifellos Gläubigen sind abgesichert; ihre Sicherung besteht darin, ihr irdisches Dasein nur als eine Existenz auf Probe zu betrachten. Auch ihre Liebe und ihre Furcht ist sozusagen in der Testphase, nicht wirklich ernst. Ihre eigentliche Liebe gilt ohnehin nur Gott, die Liebe zu den Menschen ist nur abgeleitet. Sie gilt nicht wirklich der Frau und den Kindern und schon gar nicht der Katze, die zwar als Gottes Kreatur irgendwie auch ein paar Krümel Sinn abbekommt, aber nicht ernsthaft zählt. Bei den Gläubigen ist nichts wirklich ernsthaft, außer natürlich ihr Glaube.
Alldieses schreckt die Atheisten (und auch die Agnostiker) vom Glauben ab, und sie wählen lieber eine fragwürdige, wackelige, himmel- und bodenlose, aber dafür sehr irdische Existenz.
Lieber Herr Posener,
wissen Sie eigentlich, dass ich Sie, obwohl Ihnen bisher leider nicht persönlich begegnet, für Ihre Art zu schreiben, zu fühlen und zu denken liebe? Sie verkörpern für mich einen möglicherweise in sich ruhenden Menschen, der jahrzehntelang glücklich verheiratet, sein Individualistenleben in aller Bescheidenheit verwirklicht, und dabei oft bemerkenswert kluge und nicht selten authentische Dinge schreibt. Sie leisten sich einen eigenen Blick auf ihre Themen. Auch darin sind sie für mich vorbildlich.
Schrieb eine mythisch-kabbalistisch anghauchte Marienlegende:
http://keinverlag.de/texte.php?text=340943
Die Marienfigur sehe ich auch überaus positiv. Marienkult wie alle religiösen oder profanen Kulte dagegen eher kritisch. Beschäftige mich mehrfach mit Göttinnen. Mythen sind sozusagen meine geheime Leidenschaft. Daher auch Märchen im Angebot und Gedichte über Mythen:
Áglaia die Glänzende (aus: Die Drei Grazien)
http://keinverlag.de/texte.php?text=246363
Apolls Lipgloss
http://keinverlag.de/texte.php?text=246160
Begegnung mit Mensa Kids ist ein autobiographischer Text, der unter anderem von der zeitlosen Aktualität religiöser Mythen handelt, in dem eine kurze Zeitreise(?), Vision(?), Kopfkino oder sogen. Eidetische Erfahrung darin geschildert und als Eidetik eingeordnet wird. http://keinverlag.de/texte.php?text=352853 Vielleicht interessiert Sie auch das Motiv Hochbegabung.
Die in ihrem Text dargestellten fünf atheistischen Werte sind auch mir sehr wichtig. Atheisten gehören oft zu meinen engsten Freunden. Fromme selten.
Herzlich
Dieter
Worüber verlor Nietzsche seinen Verstand?
Ich kann die Frage nicht beantworten, habe aber so eine Ahnung, dass es die schiere Verzweiflung war, Gott weder ganz verwerfen, noch ganz annehmen zu können.Für ihn waren das existenzielle Fragen von alles entscheidender Bedeutung.
Wer aus der Bibel anrührende Geschichten herausliest, die der Herzensbildung auch des Atheisten gut zu Gesicht stünden, der braucht um seinen Verstand nicht zu fürchten, so viel steht fest.
…allerdings riskieren sie, ihren Glauben zu verlieren, was bei den Atheisten hinsichtlich der Zuversicht nicht der Fall ist. Mangels Glauben.
@KJN: Ja, wahrscheinlich ist es diese Zuversicht, an die Möglichkeiten zu glauben und den Glauben konsequent zu verfolgen, was die Atheisten von den Gläubigen lernen können. Der Zweifel ist ja nicht das Einzige, bei weitem nicht. Aber er ist eben wichtig, weil durch ihn die Fragestellungen entstehen, die man immer wieder neu lösen muss. Er ist nicht unnütz oder gar hinderlich, im Gegenteil: Ohne ihn geht es nicht, und ihn können die Gläubigen von den Atheisten lernen.
@R.Z. „Um etwas Neues zu machen, müssen Sie aber erstmal mit dem Bestehenden unzufrieden sein, es nicht länger für gültig halten..“
..und an das Neue glauben. Das Alte wird deswegen infrage gestellt, weil man sich etwas Neues, vorstellt, wünscht oder daran glaubt. Der Zweifel am Alten existiert, weil man glaubt es besser zu wissen. Oder?
Deswegen funktioniert auch die allzu „tolerante“ Religion / Kirche nicht – ihr laufen die Mitglieder davon. (Man kann natürlich auch sagen: Ich glaube dran, was andere tun oder lassen, ist deren Sache, was nicht das Schlechteste wäre – ich meine welche Religion verlangt, daß man für alle anderen mitverantwortlich ist..). Ich will damit sagen: Zweifel allein ist doch noch keine Tugend.
@A.P
„..nicht nur im ÖD muss man zuweilen Sachen machen, von denen man weiß – na, mit ziemlicher Sicherheit, weil erfahrungsgestützt – glaubt, dass sie nicht klappen..“
Ja, leider – aber warum sind Sie denn jetzt so realistisch zu mir?
@ Roland Ziegler: Niemand, der glaubt, würde ernsthaft sagen: “Ich halte mich an die Hypothese Gott”. Das hätte mit Glaubensgewissheit nichts zu tun.
Das ist es! Deshalb geht es beim Glauben auch nicht um die Existenz Gottes, sondern um das Vertrauen auf und in Gott – pisteuein. Der – „lebendiger Gott“ – lebt nämlich und kann so und so.
@ Alan Posener: weil er sich angreifbar machen will. Leben, als gäbe es keine Götter; argumentieren, als gäbe es keine Götter; kurz und gut: etwas wagen.
Sozusagen öffentlicher Existenzialismus?
Auch wenn das leider ein wenig an Kockssens langweilige Rollenprosa erinnert (könnte ihm jemand, bitte, den dringend gewünschten Job als Tester gehobener Restauration und eine gut bezahlte Publikations-Möglichkeit in einer Ärzte-Zeitschrift o.ä. verschaffen!) – sollte der Bürger im öffentlichen Bereich nicht seine – bürgerliche – Rolle spielen und seinen Existenzialismus lieber stecken lassen, ihn zu unser aller Segen lieber in’s Private verbannen?
Atheismus in der Talkshow, die TV-Übertragung der Sonntagsmesse, das Wort zum Sonntag, auch „auf“ protestantisch – alles kein Problem. Aber kann, sollte öffentliche Kommunikation im Ernst existenziell sein? Wäre das nicht der Beginn des Religions- bzw. Bürgerkriegs?
Der Atheismus und der Glaube sind nicht Kehrseiten einer Medaille bzw. Ausdrucksformen desselben Glaubens an X bzw. Y. Niemand, der glaubt, würde ernsthaft sagen: „Ich halte mich an die Hypothese Gott“. Das hätte mit Glaubensgewissheit nichts zu tun. Aber der Atheist sagt genau das: er hält sich an eine (materialistische) Hypothese, ohne eine Glaubensgewissheit zu haben. Der Begriff Hypothese enthält bereits seinen Zweifel, der schädlich für jeden Glauben ist. Umgekehrt gibt es viele Eiferer, die sich selber kasteien, um im Glauben noch fester und zweifelloser zu werden. Als würde man durch Schmerzen den Zweifel loswerden und sich dadurch irgendwie reinigen. So etwas würde keinem Atheisten je einfallen.
Nein, der Atheist vertritt seine Hypothese, der Agnostiker vertritt keine Hypothese, und der Gläubige glaubt.
Lieber KJN, nicht nur im ÖD muss man zuweilen Sachen machen, von denen man weiß – na, mit ziemlicher Sicherheit, weil erfahrungsgestützt – glaubt, dass sie nicht klappen.
Lieber Märzenbach, hätten Sie den Text gelesen, würden Sie wissen, dass der Atheist sich eben nicht mit der Taube in der Hand zufrieden gibt. „Er, unbefriedigt jeden Augenblick“ (Goethe) fasst die Lebenseinstellung des Atheisten wohl am besten. Ich meine nicht den Vulgäratheismus der Selbstzufriedenen, sondern den Atheismus derjenigen, die eben deshalb die Religion ablehnen, weil sie diesem Vulgäratheismus so ähnlich ist.
Lieber DonGeraldo: Agnostiker MUSS man sein, wenn man wissenschaftlich argumentiert; schließlich kann die Hypothese, es gebe einen Gott, nicht wissenschaftlich widerlegt werden. Der Atheist ist nicht deshalb Atheist, weil er keine Zweifel zulässt, sondern weil er sich angreifbar machen will. Leben, als gäbe es keine Götter; argumentieren, als gäbe es keine Götter; kurz und gut: etwas wagen. Das ist, wie ich schon sagte, eine nicht allein rationale, sondern eine emotional-affektive Entscheidung. Es spricht nicht für Ihre Toleranz, dass Sie die Würde dieser Haltung nicht anerkennen.
@Don Geraldo: Ja, das stimmt.
@KJN: Um etwas Neues zu machen, müssen Sie aber erstmal mit dem Bestehenden unzufrieden sein, es nicht länger für gültig halten und deshalb überlegen, wie man es denn besser machen könnte. Unterwegs müssen Sie dann ständig beobachten, ob es denn wirklich besser wird, und im Zweifelsfall (!) korrigieren. Manchmal werden Sie auch den gesamten Plan über Bord werfen müssen. Sie übernehmen Verantwortung; das bedeutet, nicht mehr länger sicher zu sein, auch scheitern zu können.
@R.Z.
„Zweifel ist die Basis der Fantasie, die neue Erfindungen ermöglicht“
..also, wenn ich was Neues mache, glaube ich, daß das auch klappt, sonst lasse ich es. Bin ja nicht im Öffentlichen Dienst, wo ich auch Sachen machen muss, wo ich schon von vorneherein weiß, dass sie nicht klappen.
Der Atheist gibt sich mit dem Spatz in der Hand zufrieden. Der Glaubende hält den Spatz ebenfalls in der Hand und streckt sich zugleich noch nach der Taube auf dem Dach aus.
Also kann der Atheist vom Glaubenden lernen, dass ihn von oben noch etwas locken kann und dass er sich noch aufrichten und strecken kann.
Der Glaubende kann vom Atheisten lernen, wie schön sich der kleine Spatz in der Hand anfühlt und wie wertvoll dieses Leben ist.
Lieber Roland Ziegler,
die meisten Atheisten hegen keinerlei Zweifel an ihrem Glauben.
Wenn sie zweifeln würden wären sie Agnostiker, und wahrscheinlich sind auch viele Menschen die die Gotteshäuser bevölkern eigentlich Agnostiker.
R.Z.: Nach meiner Ansicht ist es insbesondere der Zweifel, den Gläubige von Atheisten lernen können.
… hi, hi, hi, … Zweifel … was nix weiter heißt, dass Sie/sie nix wissen. Und? was lernen wir daraus? … Nix!
Nach meiner Ansicht ist es insbesondere der Zweifel, den Gläubige von Atheisten lernen können. Den will man ja eigentlich gar nicht haben, deshalb glaubt man ja, je fester, desto zweifelloser. Man wiegt sich wohlig in Sicherheit. Man wähnt sich auf einer festen Grundlage. Aber der Zweifel nagt an der Grundlage. Man fragt sich, ob es denn wirklich so am besten ist, wie es ist. Und ob es stimmt, was gesagt wird. Der Zweifel ist die Basis der Fantasie, die neue Erfindungen ermöglicht. Der Zweifel ist etwas wesentlich Ungläubiges.
@A.P.: „Dabei ist der Atheismus keineswegs eine rein rationale Angelegenheit.“
Nichts, aber auch gar nichts ist eine rein rationale Angelegenheit. Religion verkörpert eher die emotionale, Naturwissenschaft die systematisch beschreibbare Weltsicht. Daher ist ja dieser Allgemeingültigkeitsanspruch für alle Belange des Lebens von der einen oder anderen Seite so töricht.
Das ist wohl noch eine Folge des Abgrenzungskampfes der Wissenschaft zu Zeiten der Aufklärung von der Theologie nach den Jahrhunderten der Scholastik.
Und daher können – selbstverständlich – Gläubige und Atheisten / Agnostiker voneinander lernen. Meine Prognose: Religion wird – auch hierzulande – wieder Zulauf erhalten.
@derblondehans: Normalerweise ist man, seit es Atheisten gibt, gewohnt zu hören, dass es Paulus oder Gott nicht gab, gibt und geben kann. Nun sagen Sie, dass es seit Paulus die Atheisten selber sind, die es nicht gibt und geben kann. Dann sind Sie wohl sowas wie ein A-Atheist? Gibt es den denn? Kann es den denn überhaupt geben?
… überhaupt, seit Paulus wissen wir, dass es Atheisten gar nicht gibt. Geben kann.
… von Atheismus/Atheisten kann nix gelernt werden. Was denn?
Das ist ein schöner Artikel, Herr Posener, den ich gerne unterschreibe. Viel zu bekritteln oder zu ergänzen hätte ich nicht, kann nur von mir berichten, dass ich zwar ungläubig bin, aber dennoch religiös musikalisch, wie viele andere auch. Also sollte man auch der religiös Musikalischen gedenken. Unter einem „religiös Unmusikalischem“ stelle ich mir einen trockenen Geist vor, der auch sonst unmusikalisch ist und sich ungern berauscht. Die Religion allerdings hat viel mit Musik und Rausch zu tun.
Die religiöse (christliche) Bilderwelt und ihre Geschichten sind voller proto- und achetypischen Strukturen, voller Angst, Hoffnung und Liebe, und meine Kinder wiederholen und variieren sie in ihren Bildern und erleben sie so nach. Nicht nur deshalb finde ich auch im Nachhinein gut, dass wir sie seinerzeit in eine katholische Kita gegeben haben, die viel besser war als alle städtischen Kitas der Umgebung (was aber auch Zufall sein kann).