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Schirrmacher, Ratzinger und die Frage, was „Ego“ heute bedeutet

„Würden Sie es als Beleidigung empfinden, wenn man Sie heute als links bezeichnet?“ fragte devot der „Spiegel“-Redakteur Jan Fleischhauer seinen Interviewpartner Frank Schirrmacher. (Fleischhauer hasst bekanntlich alles, was links ist, weil es ihn an seine Kindheitsleiden  unter einer linken Mutter erinnert; es sei denn, es ist Jakob Augstein, dem Fleischhauer attestiert, kein Antisemit zu sein. Was natürlich gar nichts damit zu tun hat, dass Augstein Miteigentümer des „Spiegel“ ist.) Schirrmacher antwortete vieldeutig: „Beleidigung? Darauf käme ich sowieso nicht. Ich finde auch nicht, dass ich mich verändert habe.“

Schirrmacher hat natürlich Recht.

Er ist kein Linker geworden. Sein neues Buch, „Ego“, wiederholt nur Topoi, die Konservative schon seit dem 19. Jahrhundert gegen die „seelenlose Moderne“ vorbringen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Im Augenblick, da Joseph Ratzinger als Papst zurücktritt und damit das Scheitern der von ihm intendierten konservativen Revolution eingesteht, erscheint ein Buch, das die zentralen Aussagen Benedikts zur Gestalt der Gesellschaft wiederholt und bestätigt: Schirrmachers Schauerroman.

Der Plot von „Ego“ ist schnell erzählt: Im Kampf gegen das Imperium des Bösen entwickeln Forscher in geheimen Verliesen eine Art geistigen Virus, der die Menschen in hemmungslose Egoisten verwandelt, was das kollektivistische Imperium wunschgemäß untergräbt. Nach dessen Zusammenbruch werden die einst vom Militär bezahlten Forscher nun von Banken und Hedgefonds angeworben und wenden ihren Virus in Gestalt von Algorithmen auf das Wirtschaftsgeschehen an. Über die allgegenwärtigen und global vernetzten Computer infiziert es die gesamte Gesellschaft. Das Modell des „homo oeconomicus“ schafft sich vampirähnlich Menschen nach seinem Bilde, Replikanten, Cyborgs, algorithmengesteuerte Egoisten. In der Folge kollabiert die Gesellschaft.

Nur ein kleines gallisches Dorf … Nein, das ist eine andere Geschichte. Es muss heißen: Nur ein tapferer Frankfurter Feuilletonist… Aber bis dahin ist „Ego“ inhaltsgetreu referiert.

Joseph Ratzinger ist, anders als Schirrmacher, kein hemmungsloser Konsument von Horrorromanen und Hollywood-Katastrophenfilmen. Und wenn, würde er sie von der Wirklichkeit zu unterschieden wissen. Er ist zwar ein wenig gebrechlich, aber nicht dement. Und doch ist seine Analyse des Zustands unserer Gesellschaft – und der Gründe für diesen Zustand – verblüffend ähnlich der Analyse Schirrmachers. Nicht, dass man ein Plagiat unterstellen möchte. Nur mangelnde Originalität.

Hören wir Schirrmacher:

„Je erfolgreicher im Kalten Krieg die Verteidigungsexperten in den Denkfabriken mit ihren Ratschlägen waren, je effizienter ‚gegenseitige Abschreckung’ und ‚massive Vergeltung’, zwei der strategischen Leitsätze des Kalten Kriegs, funktionierten, desto mehr konnte sich diese Logik als gutes Rezept für jede Art zwischenmenschlicher Verhandlungen durchsetzen. (…) Die Moderne hatte – mit Sigmund Freud & Co. und mit wachsenden moralischen Widersprüchen des kapitalistischen Systems – das „Ich“ aufgelöst. Die Entschlossenheit, mit der nun zum Weltgesetz erhoben wurde, dass rational sei, was einem selbst nutzt, machte Nummer 2“ – das ist Schirrmachers Kürzel für den ganz und gar egoistischen Menschen – „zu einer willkommenen Alternative.“ (S. 62 und 66)

Sehen wir darüber hinweg, dass es widersprüchlich ist, von der Auflösung des Ichs zu reden und gleichzeitig den Sieg des Ego zu proklamieren; sehen wir darüber hinweg, dass Sigmund Freud eben nicht das Ich aufgelöst hat, sondern ganz im Gegenteil der Maxime folgte: „Wo Es war, soll ich werden“. Sehen wir also darüber hinweg, dass Schirrmacher salbadert, statt zu argumentieren; das sind wir ja von ihm gewöhnt. Hören wir nun Joseph Ratzinger:

„Die beiden großen Rationalismen der Welt, der westlich-positivistische und der östlich-marxistische, haben die Welt in eine tiefe Krise geführt“, sagte er schon 1978 bei einem Besuch als päpstlicher Legat in Ekuador. Schon zu Zeiten des Kalten Krieges also bewahrte der Vatikan eine entschiedene Neutralität beim Kampf der Systeme. Und nachdem der „östlich-kommunistische Rationalismus“ (als sei es „rational“, anzunehmen, dass die Welt mittels des Klassenkampfs auf einen neuen Garten Eden zusteuere, aber lassen wir das) zusammengebrochen war, stellte Ratzinger bei seiner allgemein als Bewerbungsrede aufgefassten Predigt bei der Messe „pro eligendo papa“ 2005 fest: „Der Relativismus, also das ‚Hin-und-her-getrieben-Sein vom Widerstreit der Meinungen’ erscheint als die einzige Einstellung, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist.“ Das ist Schirrmachers „Auflösung des Ichs“ durch Freud „& Co“ (sprich die jüdische Wissenschaft der Psychoanalyse). Und Benedikt weiter: „Es konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse lässt.“ Nur das Ich und seine Bedürfnisse: Ego. Das „Weltgesetz“, des „westlich-positivistischen Rationalismus“ (Ratzinger), demzufolge „rational sei, was einem selbst nutzt.“ (Schirrmacher).

Nun ja. Es würde hier zu weit führen, sich zu fragen, ob die Gesellschaft wirklich so ist. Sie ist es ja nicht. Hier sei nur angemerkt, dass von konservativer Seite umgekehrt oft geklagt wird, die Bundesrepublik sei von einem „grünen Mainstream“ beherrscht, von weichherzigen Gutmenschen, die um ihrem weltfremden, gesinnungsethischen Programm genüge zu tun, die wirtschaftlichen Grundlagen der Republik aufs Spiel setzen. Aber so sind Konservative. Ihr Argumentationsmuster lautet: Kopf, ich gewinne, Zahl, du verlierst.

Bemerkenswert an Ratzingers Kritik des west-östlichen Rationalismus ist der Relativismus, der beide Rationalismen gleichsetzt und keinen Wesensunterschied zwischen Diktatur und Demokratie sieht. Ganz ähnlich ist es auch bei Schirrmacher. Während er im Rückblick auf den Kalten Krieg die Sowjetunion verniedlicht, verteufelt er den Westen. Die westliche Furcht vor dem Kommunismus nennt er die „Paranoia der damaligen Zeit (die noch nicht wusste, was wir heute im Rückblick historisch wissen)“. (S.23) Dabei wissen wir inzwischen, dass wir mehrmals noch näher am Atomkrieg dran waren, als es uns „Paranoikern“ damals vorkam. Er unterstellt dem Westen, ihre Paranoia – und die „rationale Spieltheorie“ – habe dazu geführt, grundsätzlich nicht zu glauben, dass jemand uneigennützig handelt, zum Beispiel wenn „die Russen eine Abrüstungsinitiative starten“. (S.27) Dabei hat die Spieltheorie, die den Russen immerhin das rationale und  eigennützige Interesse des Überlebens unterstellt, direkt zum Atomtestabkommen von 1963 geführt. Bei Schirrmacher aber sollte die Spieltheorie nur „den besten Weg berechnen, um die Russen einzuschüchtern“. (S.36)  Und nach dem Ende des Kalten Krieges habe sich ein „ökonomischer Imperialismus“ etabliert, bei dem die ganze Welt „einer vorherrschenden Schule vor allem angelsächsischer Ökonomen“ unterworfen worden sei.

Ja, das klingt oberflächlich nach linker Ideologie, ist es aber nicht.

Was nach dem Ende des Kalten Krieges passierte, war nicht etwa eine Veränderung des Kapitalismus, sondern die Aufkündigung des Bündnisses zwischen dem reaktionärsten Teil des konservativen Lagers und dem liberalen Westen. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und dem Niedergang der faschistischen Bewegungen in Europa schlossen sich die ehemaligen Sympathisanten der Faschisten, die Reaktionären und  Erzkonservativen dem Kreuzzug des Westens gegen den Kommunismus an. Das war einerseits logisch, weil der Kommunismus – dessen Aggressivität ja kein paranoider Wahn, sondern politische Wirklichkeit war – tatsächlich gefährlicher war als der „angelsächsische“ Liberalismus. Andererseits war es nützlich, weil man mittels der „Totalitarismustheorie“ so tun könne, als beweise man seine Abscheu gegen jene Bewegungen, mit denen man gestern noch sympathisierte, indem man gegen diejenigen kämpfte, gegen die man immer schon gekämpft hatte. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzog auch die Katholische Kirche eine Wende und stellte sich eindeutig auf den Boden der westlichen Demokratie und der liberalen Werte, die bis dahin als Häresie bekämpft worden waren. Die Pius-Brüder verließen die Kirche, weil sie diese Wende nicht mitmachen wollten.

Nach 1989 aber und mit dem Sieg „angelsächsischer“ Ideen – Liberalismus, Individualismus, Rationalismus, Pluralismus – musste das antikommunistische Bündnis brüchig werden. Die Rechte kündigte es auf: Mit als erster übrigens Papst Johannes Paul II., dem man nachsagte, er wolle zwei Revolutionen rückgängig machen, die russische und die französische, und dessen Ideologe und Vollstrecker Joseph Ratzinger. Es galt, Vatikan II vergessen zu machen. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Rehabilitierung der Pius-Brüder zu den Prioritäten des Papstes gehörte. Mit der Krise von 2008 ff. wagt die antikapitalistische Rechte, die sich bislang hauptsächlich mit Kulturkritik einen Namen machte, nun auch die Formulierung einer Gesamtkritik am „westlich-positivistischen Rationalismus“. In diesen Rahmen gehört „Ego“.

Keine Sorge, lieber Jan Fleischhauer: Frank Schirrmacher ist nicht links. Er ist der konservative Kulturkritiker geblieben, der er immer schon war. Angesichts der Tatsache, dass sich eine antikapitalistische Rechte formuliert, müssen sich allerdings einige Leute, die mit ihrer neuen rechten Gesinnung gern kokettieren, bald fragen, wo sie wirklich stehen wollen.

 

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