Als Deborah Lippstadt im Verleumdungsverfahren freigesprochen wurde, das David Irving gegen sie angestrengt hatte, weil sie ihn einen Holocaustleugner genannt hatte, sagte sie, das Urteil sei „a victory for the sanctity of facts“. Denn Irving hat in der Tat, wie das Gericht feststellte, den Holocaust verschiedentlich geleugnet.
Mir scheint, das wichtigste Kennzeichen der Moderne ist diese „Heiligkeit der Fakten“. Sie widerspricht keineswegs jenem anderen Kennzeichen der Moderne, der durch Karl Popper formulierten Relativität aller Theorien. Denn das eine bedingt das andere. Da Fakten absolut sind, kann jede Theorie widerlegt werden, wenn die Fakten nicht zur Theorie passen. Das ist weder trivial noch selbstverständlich.
Galileo Galilei ist ja gerade deshalb eine ikonografische Gestalt der Modernen, weil die Inquisition von ihm den Widerruf von Fakten verlangte, weil sie nicht zur Theorie – zur Theologie – passten. Dabei war die Kirche bereit, die Berechnungen des Kopernikus zu akzeptieren, ja benutzte sie selbst; was sie nicht akzeptieren konnte war der Versuch Galileis, das Modell des Kopernikus durch Beobachtung zu verifizieren und als Faktum hinzustellen.
Natürlich ist die Sache nicht so einfach, wie es den Anschein hat. Oft ist es nicht leicht, zwischen einem Faktum und einer Theorie oder einem Vorurteil zu unterscheiden. Die Existenz von Rassen zum Beispiel (und nicht nur in dem banalen Sinn, dass manche Menschen schwarz sind, andere braun, rot, pink usw., sondern als Trägerinnen und Vermittlerinnen psychologischer Eigenschaften und kultureller Fähigkeiten) galt nicht nur den Nazis als Tatsache.
Fakten selbst können umstritten sein, zum Beispiel der Klimawandel oder die Existenz einer Krankheit namens ADS. Manche Fakten können nicht gewusst werden, weil es keine Mittel gibt, sie zu eruieren, das gilt etwa für historische Fragen wie „ist Jesus von den Toten auferstanden?“ oder „Wer schrieb Shakespeares Dramen?“ oder „Wollte Hitler von Anfang an die Juden physisch ausrotten?“ In dem Fall müssen Theorien aus Indizien die Fakten ersetzen.
Theorien wiederum werden selten durch den Popper’schen Idealfall einer Falsifizierung durch Fakten erledigt, sondern biologisch, indem deren Vertreter sterben oder in Rente gehen, oder durch einen Wandel der gesellschaftlichen Empfindungen oder der wissenschaftlichen Moden.
Trotzdem meine ich, dass die Heiligkeit der Fakten, der Gedanke, dass bestimmte Behauptungen nachprüfbar richtig, andere nachprüfbar falsch sind, und zwar unabhängig davon, ob sie den Priestern, Königen, Magiern oder Wissenschaftlern passen, das Grundkennzeichen der Epoche ist, die Galileo Galilei einleitet.
Und es ist ja auch kein Zufall, dass sich alle Antimodernen gerade dagegen richten.
In einem wunderbaren Gedicht schreibt der preußische Katholik Novalis:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.
Ich bin mir sicher, dass Nicolas Gomez Davila und Matthias Matussek das unterschreiben würden.
Und es ist, ich wiederhole es, ein wunderbares Gedicht – und ein gefährliches. Das Gefährliche liegt in der Entgegensetzung von „Zahlen und Kolumnen“ einerseits und wahrem Leben andererseits, und im Wunsch, „das ganze verkehrte Wesen“ – die Wissenschaft nämlich – werde „fortfliegen“.
Natürlich gab und gibt es Naturwissenschaftler, die nicht nur methodisch, sondern auch emotional und philosophisch Reduktionisten waren und sind. In der früheren DDR etwa wurde die Naturwissenschaft oft genug so gelehrt. Aber eben so klar ist es, „dass die, so singen oder küssen, mehr als die Tiefgelehrten wissen“ – nur eben nicht unbedingt etwas über Hormonen und Harmonielehre.
Es ist eben eine andere Art von Wissen, und wir haben inzwischen erfahren, dass wir einerseits wissen können, was chemisch in uns vorgeht, wenn wir uns verlieben, oder warum ein bestimmter Rhythmus uns mitnimmt, dass dieses Wissen aber keineswegs bedeutet, dass die Liebe weniger zauberhaft oder ein Lied der Rolling Stones uns weniger in die Beine und die Seele geht. Das heißt, wir wissen, dass „Zahlen und Figuren“ nicht „Schlüssel aller Kreaturen“ sind; aber wir können nicht gegen das Faktum des Genoms – oder besser: gegen die Fakten der Genetik und Epigenetik – einfach Dinge behaupten wie dass die Intelligenz erblich ist oder dass wir deshalb krank werden, weil uns Gott für unsere Sünden bestrafen will.
Das Interessante ist, dass sowohl Nationalsozialismus als auch Sozialismus – jedenfalls in seiner Marx’schen Variante – sich zwar als Kinder der Moderne präsentieren, in Wirklichkeit aber Ausdruck jener Abkehr von der Moderne sind, die Novalis als Utopie beschreibt.
Bei den Nazis mit ihrer Betonung des Mythos, der „Stimme des Blutes“, der Esoterik und der Rasse, mit ihrer Ablehnung „jüdischer“ Wissenschaft wie der Relativitätstheorie usw. ist das relativ klar, auch wenn heutige Reaktionäre genau das leugnen, wie schon Theodor Adorno mit seiner „Dialektik der Aufklärung“, die instrumentelle und existenzielle Vernunft verwechselt. Bei den Kommunisten ist das weniger klar, weil sie ja auf den Erkenntnissen der klassischen politischen Ökonomie und den Naturwissenschaften aufbauen, wenn Marx auch sowohl Adam Smith als auch Charles Darwin missverstanden hat. Man betrachte aber folgende oft zitierte Passage aus dem „Kommunistischen Manifest“:
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelasssen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Wurde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.“
Das ist, im Grunde genommen, die Klage des Novalis: die Menschen sind zu „Zahlen und Figuren“ verkommen – Marx ergänzt nur: im Kassenbuch der Bourgeoisie. Und im Kern läuft der Kommunismus auf das Versprechen hinaus, diese Reduktion des Menschen auf den homo oeconomicus, aller „frommen Schauer“ durch „egoistische Berechung“, aller sozialen Beziehungen auf „bare Zahlung“ in der kommenden kommunistischen Utopie „aufzuheben“, wie es Marx in Anlehnung an Hegel gern formulierte.
Deshalb beruht der Marxismus, man muss es eigentlich nicht betonen, nicht auf Fakten, sondern auf einem utopischen Erlösungsversprechen; und wie jede Erlösungsreligion tut sie alles Erdenkliche, um sich gegen die Fakten zu immunisieren. Kein Wunder, dass Stalin am Ende seines Lebens beim Kampf gegen die „bürgerliche Wissenschaft“ der Genetik landet. Und beim Antisemitismus, aber das nur nebenbei.
Dabei vollzieht der Marxismus nur nach, was ihm das Christentum vormacht, das ja, wie Joseph Ratzinger es einmal zutreffend formuliert hat, ursprünglich eine „physikalische Religion“ ist und sich gerade dadurch von den Sagen und Mythen der Griechen, Römer, Perser, Ägypter und Juden unterscheidet. Mehr darüber vielleicht nächste Woche.
Um aber zum Ausgangspunkt zurückzukommen: modern sein heißt vor allem die Heiligkeit der Fakten respektieren. Und jede reaktionäre Wende beginnt damit (oder endet darin), die Fakten zu leugnen – oder, was nur eine Variante davonist, die Existenz von Fakten zu bestreiten. Und zwar oft genug im Namen der Freiheit („wenn sich die Welt ins freie Leben… wird zurückbegeben“). Denn anders als es die Reaktionäre behaupten, besteht die Moderne keineswegs im Verkünden einer absoluten Freiheit. Sondern vielmehr darin, die Begrenzung des Denkens durch die Fakten anzuerkennen. Für viele ist diese Begrenzung ärger als jene durch eine noch so irrwitzige Dogmatik. Nicht die Überheblichkeit ist das Kennzeichen des modernen Menschen. Sondern die Bescheidenheit.
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@KJN: Manchmal denke ich, lass doch die Geschichte sein, kümmere dich doch lieber um das Heute. Allzu häufig bestimmt aber das Gestern und Vorgestern unser Heute. Auch die Theorien der Vergangenheit bleiben oft erhalten. Hier ein Beispiel: Als ich 1986 in Kiew war, hat mir ein Student, er hat dort zeitweise gelebt, erzählt, dass sich in Jugoslawien das Verhältnis der einzelnen Gruppen Serben, Kroaten und Bosnier verändert. Deshalb war ich kaum überrascht, als es dann zu den Kriegen in Jugoslawien kam. Auch hier waren der 2. Weltkrieg und die Rolle, die die verschiedenen Gruppen damals ausübten, von Bedeutung. Ja es stimmt, ich bin eher der Beobachter, als Politiker wohl kaum geeignet. Ist mir gerade so eingefallen, weil ich das Buch Schlimmer als Krieg von Daniel Jonah Goldhagen lese, ich wollte doch mal wissen, was er unter eliminatorischem Antisemitismus versteht. Sehr interessant dieses Buch: auch Breivik sagt immer wieder, dass seine Opfer nicht unschuldig sind, er hat sie demonisiert.
@KJN+@Lyoner: Das Buch von Elie Wiesel „Die Nacht“ habe ich nicht gelesen, weshalb es mir etwas schwer fällt dazu zu schreiben. Allerdings sollte man schon festhalten, dass es entscheidende Unterschiede zwischen Literatur und Berichten bzw. Filmen und Dokumentarfilmen gibt. Biografien sind immer und natürlich auch persönliche Erinnerungen parteilich. Erinnerungen dienen auch dem Schutz meiner eigenen Person oder Gruppe, sie werden auch von persönlichen Interessen und moralischen Einstellungen geprägt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Mensch eine Menge Ersatzerinnerungen haben kann, die erst hinterfragt werden müssen, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen, dann braucht man manchmal vor allem Zeugen bzw. man muss (Gegen-)Beweise finden. Ich habe mir z. B. den Film der „Aufenthalt“ noch einmal angesehen und konnte dann meine Erinnerungen korrigieren.
Natürlich gibt es gute Filme, die versuchen authentisch zu sein. Der von Ihnen (@Lyoner) eingestellte Film war parteilich. Ich kenne die anderen Teile nicht, doch der letzte Teil machte ausschließlich auf Emotionen und Meinung, er war voller Bilder der Israelkritik und dann auch noch die ständigen Wechsel von damals zu heute. Emotionen hat er doch geweckt.
Auch Historikern sind nicht frei von persönlichen Wertungen, sie haben eine Arbeitshypothese und kommen deshalb häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen. Da kann man sich lange drüber streiten, gleichzeitig findet man gerade bei Historikern umfangreiche Quellen, die erweitern dann doch den Horizont.
@derblondeHans: Der Massenmord an den polnischen Offizieren der Sowjets bei Kattyn war insofern ein Problem, da er ja von den Nationalsozialisten im großen Stil in der antibolschewistischen Propaganda eingesetzt wurde, diese wurde im hohen Maße mit der antisemitischen Propaganda verknüpft. Ein Blick in die deutsche Presse jener Wochen zeigt, dass in allen Blättern unter dem Stichwort Katyn die wohl schärfste antisemitische Kampagne seit Bestehen des Regimes stattfand. Peter Longerich „Davon haben wir nichts gewusst“ Er war also Teil der Mobilisierungsstrategie.
Ach Jott E Jott. Sie bringen da einen Satz gegen mich in Anschlag, von dem Sie wissen, dass ich ihn weder buchstäblich noch im übertragenen Sinne je äußern würde. Aber das macht ja nichts für einen, dem es nicht um Argumentation, sondern um Diffamierung (Sie haben ein böses Maul, werter EJ) geht. – Ich bin kein Anhänger einer Domino-Theorie, das passiert nur Gläubigen, die fürchten, dass ihr Gebäude zusammenstürzt, wenn sie einen Stein herausnehmen. Sie sind unsicher, pauvre EJ, deswegen greifen Sie zu einem Generalexorzismus.
Sie unterstellen mir Judenhass als Existenzgrundlage. Wenn ich etwas hasse, das ist jedoch nicht das richtige Wort, sondern eher: wenn ich etwas verabscheue, dann ist es ein sacrificium intellectus. Diejenigen, die das begehen, werden von mir bedauert, einige verachtet, seien es nun Deutsche, Juden oder andere human beings.
Sehen Sie guter Mann, der irgendwo in der Provinz um sein Seelenheil bibbert, meine Argumentation hat durchaus Schwachpunkte, Burkhard Wahle hat auf einen hingewiesen, indem er in Frage stellte, wie repräsentativ denn nun meine Funde und ihre Auswahl sind. Gestern auf einer Lesung sagte der wunderbare Josef Bierbichler, es gibt die Lüge, aber nicht die Wahrheit. Wenn ich hier ein Statement des renommierten Historikers Israel Gutman vorstelle, könnten Sie doch überprüfen, ob das Statement richtig zitiert wurde, ob es aus dem Zusammenhang gerissen wurde, wieweit diese Auffassung den Diskurs des Holocausts und die öffentliche Wahrnehmung bestimmt (das gleiche könnten Sie mit Elie Wiesel oder auf meinem Blog mit den Einzigwahren Freunden Israels und mit Broder machen). Wohlan, werter EJ, hic Rhodos hic salta. Ich würde gerne vermuten, dass Ihre Kräfte und Ihr Verstand der Sache gewachsen wären, allein ich zweifle. Sie ziehen es vor, sich der Prüfung zu entziehen, indem Sie denunzieren. Armer Mann.
Weder hatte ich, noch habe ich jetzt und/oder zukünftig vor – Völkermord zu leugnen. Im Gegenteil, Wahrheit ist eben keine Diktatur.
Gerade Katyn, für dessen wahre Darstellung Menschen bestraft und ermordet wurden, zeigt, dass die Lüge letztendlich auf den Leugner zurück fällt.
Und es zeigt auch, dass, wie schon geschrieben, Fakten beliebig einsetzbar sind, ihre Verbindung sie erst zu Argumenten macht, die Seiten zugeordnet werden; also von der jeweils herrschenden, sich selbst überhöhten Macht, beliebig bestimmt und instrumentalisiert werden.
Das diese Instrumentalisierung den Opfern, oder leidtragenden Angehörigen gerecht wird – bestreite ich allerdings.
Daher ist mir der 130er, denn es übrigens schon seit 1871 gibt, in gewisser Hinsicht, egal.
Warum und wie auch immer – im HTML ist (mindestens) ein „div“ zu viel.
@ KJN: „Stimmt denn dann das andere überhaupt alles?“
Es geht im eben keineswegs nur um Israel. Sein Juden-Komplex ist umfassend. Lesen Sie hier oder sein Blog. Er arbeitet konstant mit Insinuationen, Konnotationen, Subtexten. Er ist durch und durch Antisemit. Er hasst. Existenzfüllend. Er gehört zu denjenigen, die den Juden den Holocaust niemals verzeihen werden.
Erratum, es soll heißen:
Aber dadurch ist mir z.B. die Reaktion auf auf die bewusst falsche Deutung des Massenmords an den polnischen Offizieren durch die Soviets bei Kattyn, die derblondehans hier aufwarf, noch in Erinnerung – genau wie Sie befürchten: „Das versucht man „uns“ auch noch in die Schuhe zu schieben“ und „Stimmt denn dann das andere überhaupt alles?“.
Lieber Lyoner,
ich hätte nicht so intensiv auf Sie reagiert, versucht auf den Zahn zu fühlen, wenn ich nicht gerade Ihnen gegenüber ein „Mensch guten Willens“ wäre, denn vieles, was Sie bisher schrieben ist ja fundiert, folgerichtig und ich muß Ihnen wesentlich größeres historisches Detailwissen bei der Thematik zubilligen als mir. Das ist auch jedem, der hier noch mitlesen sollte, klar.
Genau deswegen aber nochmal mein (unbefangener, nennen Sie ihn von mir aus „oberflächlicher“) Eindruck: Durch Ihren Blog, durch die Fixierung (so scheint es nun mal) erweckt Ihre Beschäftigung mit dem Thema den Eindruck von parteiischem Interesse. Das halte ich für sehr schade, weil sie die Absicht, die dahinter steckt und die Sie hier – vielleicht für mich – zum ersten Mal klar zu erkennen geben mit: „„Sollten die kids historischen Ehrgeiz entwickeln, werden sie dadurch eher zu Revisionisten (für die allermeisten, das gebe ich zu, spielt eine Unterscheidung zwischen faktischem und fiktionalen eh keine Rolle). Können wir das wollen? Wenn ich sie richtig verstehe, kommt es Ihnen doch auch darauf an, dass die “Tatsachen” stimmen?“, m.E. völlig berechtigt ist: Die Diskussion über Nazis, Weltkrieg und Holocaust verfolge ich etwas notgedrungen, weil sie meist am Küchentisch stattfand, seit meiner Kindheit in der Familie mit Gästen, Freunden meines Vaters, Nachbarn aus Deutschland, UDSSR, Armenien, Niederlanden und es war mir manchmal lästig, daß soviel darüber geredet wurde. Aber dadurch ist mir z.B. die Reaktion auf auf die bewusst falsche Deutung den Massenmord an den polnischen Offizieren der Soviets bei Kattyn, die derblondehans hier aufwarf, noch in Erinnerung – genau wie Sie befürchten: „Das versucht man „uns“ auch noch in die Schuhe zu schieben“ und „Stimmt denn dann das andere überhaupt alles?“.
Nun ist der Gegenstand Ihres monothematischen Hobbys, H.M. Broder, mit seinem neuen Buch „Vergesst Auschwitz“ eigentlich in der Summe ähnlicher Meinung, wie Sie, wenn er schreibt: „Die Deutschen leiden unter dem Holocaust, wie an der Schuppenflechte“, was den Blick auf die Gegenwart (Broder meint z.B. Israel) – und ergänze mal frech – auch auf die Vergangenheit, verstellt. Tatsächlich reagiert die junge Generation (18 – 21 J.) zunehmend genervt auf die politisch korrekten Sprachregelungen und das letzlich erstarrte Ritual des Gedenkens: Jeder Geschi-LK nach Auschwitz und mein „missratener“ Nachwuchs ließ es sich nicht nehmen, seinen LK-Lehrer („Jüdinnen und Juden“) drei Oberstufenjahre mit „Nazinnen und Nazis, soviel Zeit muss sein“, zu nerven.
Die Problematik von „falschen Bestätigungen“ und Zeitzeugen überhaupt ist mir bewusst und genau deswegen erscheint mir Ihr Bezug auf mein berufliches Fachgebiet unpassend, weil sich mein Untersuchungsgegenstand normalerweise nicht wehrt. Da wäre eher Ihre Fachkenntnis gefragt. Und ich denke – nach wie vor – Rücksichtnahme auf die Traumatisierungen, sei es bei den Lagerinsassen oder bei den durch Rote Armee vergewaltigten Frauen. Daher meine Einlassungen bezüglich „kalt“. (Ich mag zwar nachts um eins Elie Wiesel mit Simon Wiesenthal verwechseln, aber „selektierend an der Rampe stehen“ sah ich Sie natürlich nicht; ich mache mir überhaupt kaum Vorstellungen von den Besuchern dieses „Salons“ und ich glaube, das ist auch gut so.)
@ KJN
Ich setze voraus, dass Sie ein Mensch guten Willens sind, ein Kredit, den Sie mir umgekehrt nicht bereit sind zu geben. Bei aller Differenz, die wir haben, glaube ich doch, dass wir uns in einem gesellschaftlich zwar marginalen, aber nicht uninteressanten Salon finden, in dem wir Streitkultur pflegen können. Sie dürfen mir glauben, dass ich dabei cum grano salis meine Gegner genau so liebe wie mich selbst.
Ich wundere mich, dass mein einfacher Ansatz, die Forschung, soweit mir möglich, zu verfolgen (ich habe mir an keiner Stelle angemaßt, „Kriminalpolizei“ zu sein) von Ihnen so monströs beurteilt wird. Dabei habe ich auf die Problematik von falschen Bestätigungen hingewiesen (Sie werden ja in Ihrem Fach, der Beurteilung der Wasserqualität, einen Zeitgenossen, der kontaminiertes Wasser aus einem beschädigten AKW trinkt, um zu zeigen, dass man dies unbedenklich tun könne, für nicht gerade sachdienlich halten) und darauf, dass die Qualitätsstandards bzw. Wahrheitskriterien so verschoben wurden, dass diese falschen Bestätigungen durchgehen können und als objektive, in unserem Zusammenhang „heilige Tatsachen“ wahrgenommen werden. Halten Sie es für so verkehrt, wenn ich darauf hinweise, dass dies der Sache eher schadet, dass dies unnötige Angriffspunkte bietet, dass man hier die Spreu vom Weizen trennen sollte (in Ihrem Fachgebiet qualifizierte Sachverständige von Wünschelrutengängern und anderen Magiern)? Ein Teil Ihrer Verwirrung geht wohl darauf zurück, dass Sie Elie Wiesel (http://de.wikipedia.org/wiki/Elie_Wiesel), auf den ich verwiesen habe, mit dem Nazijäger Simon Wiesenthal (http://de.wikipedia.org/wiki/Simon_Wiesenthal) verwechselt habe. In Bezug auf Elie Wiesel halte ich es in der Tat für problematisch, seinen Roman „Nacht“, der, um das mindeste zu sagen, „ganz tief in seinem Inneren erlebt“ wurde, als einen Augenzeugen- bzw. Tatsachenbericht („Heiligkeit der Tatsachen“) auf Schulen lesen zu lassen. Sollten die kids historischen Ehrgeiz entwickeln, werden sie dadurch eher zu Revisionisten (für die allermeisten, das gebe ich zu, spielt eine Unterscheidung zwischen faktischem und fiktionalen eh keine Rolle). Können wir das wollen? Wenn ich sie richtig verstehe, kommt es Ihnen doch auch darauf an, dass die „Tatsachen“ stimmen?
Ihre Dämonisierungen meiner Person, die soweit gehen, dass Sie mich tief in Ihrem inneren Erleben fast schon auf der Rampe der Selektion sehen, halte ich für ein Produkt Ihrer Müdigkeit und der seelischen und intellektuellen Erschöpfung.
@ Parisien
Habe ich irgendwo den Holocaust geleugnet? Den Vorwurf der „Relativierung“ verstehe ich nicht. Das würde doch einen absoluten, nicht hinterfragbaren Corpus von „Tatsachen“ voraussetzen, an dem kein Jota verändert werden darf, das wäre ein heiliger Text, ein Dogma, ein Kanon. Wie steht es nun z.B. mit Elie Wiesel in Bezug auf diesen Kanon, ist er Bestandteil, ist er Träger?
Ich stimme Ihnen zu, dass die Entrechungen, Diskriminierungen, Aussonderungen vor dem Holocaust schon schlimm genug waren; das ist keineswegs irrelevant. Hier halte ich es auch für richtig hinzweisen, dass die meisten „Volksgenossen“ bei diesem fortschreitenden Prozess gleichgültig und ohne Mitgefühl waren.
Ob nun das Gefühl oder der Verstand prioritär sind, darüber sollten wir uns nicht streiten. Sowohl das Gefühl als auch der Verstand können irren, sie müssen gegenseitig Korrektive sein. Ich mag nur keine emotionalen Massagen durch fiktionale Übertreibungen. Wieweit Sie oder ich uns zum Bösen verhalten hätten (die Menschen sind zu allem in der Lage, wenn eine Gruppe von Mitmenschen zum „Feind“ (Klassenfeind, Volksfeind, Menschenfeind) definiert wurde), lässt sich doch nicht feststellen; wir sind ja, das hat Posener so schön beschrieben, in einer Zeit mit etwas mehr oder weniger Glück alt geworden, die nicht viel mehr als die Prüfungen bereit hielt, die er beschrieben hat.
Haben Sie das schon gehört?
http://www.youtube.com/watch?v=PipX3l1tEeU
(Technische Anmerkung: Habe nur versucht, die Kursivschrift wieder auszuschalten)
@ Lyoner
Im Übrigen können Sie ja rechnen. In Europa soll es ca.9-10 Mio Juden gegeben haben, davon allein über 3 Mio in Polen. Ca. 3 Mio sollen es in die USA und ein paar andere Länder geschafft haben, ca.900 000 nach Kriegsende nach Israel. Einige waren in Europa übrig. 5-6 Mio sind demnach gestorben, ob vergast oder an Unterernährung und Erkrankungen oder erschossen, ist letztlich irrelevant. Oder haben Sie schon mal eine Grabinschrift gelesen, die lautete: Er ist „nur“ verhungert. Wenn Sie mal vor den Holocaust gehen, in die sogenannte „Reichskristallnacht“ oder die Verbote, Schulverbote, Berufsverbote, ja sagen Sie mal: Finden Sie das irrelevant? Möchten Sie, dass Ihnen oder Ihrer Tochter so etwas passiert?
Was treibt Sie an, die Zeit relativieren zu wollen?
@ KJN
Kalt? Ich glaube micht immer an die Wärme von Personen, die mit Emotionen jonglieren.. Er erklärt im gleichen comment Kerstin, dass er nicht über Emotionen begreifen möchte. Es ist also eher abstrakt, eine Faust-artige Neugier, die begreifen möchte.
Ich dagegen vertrete die Ansicht, dass der Holocaust nur über das Gefühl und nachfolgend das Mitleid begriffen werden kann und nur über Filme, die Menschen dazu bringen, sich mit den Protagonisten zu identifizieren. Das absolut Böse daran ist nicht von Zahlen abhängig und entzieht sich in seiner Natur einer wissenschaftlichen Betrachtung, einer philosophischen oder religiösen dagegen nicht.
Es ist ein Kern der menschlichen Welt. Ein Teil dieser Welt findet es zu einem gegebenen Zeitpunkt richtig, absolut Böses zu praktizieren, koordiniert. Er versucht hinterher, es nicht gewesen zu sein, sieht auch, geschehen in Nürnberg vor den Prozessen, seine Untaten ein, trotzdem hat er es, wie im Wahn, getan.
Nehmen wir Breivik. Diese 1A-Befragung, völlig sachlich, dieser eszellent und dennoch menschlich wirkenden Staatsanwältin, erweckte momentweise den Eindruck, dass plötzlich eine Einsicht in Breivik aufflackerte, sichtbar in seinem Gesicht. Der Rest ist vermutlich nur noch Panzer, Schutzschild.
Sie sagen Lyoner, er sei kalt. Möglich und auch nicht. Abstrakt, das ist alles.
@ Lyoner
Falls Sie je Zweifel an Ihrem Vorgehen bekommen, denken Sie an Will Hosenfeld, der den Pianisten rettete, an die Szene, in der Szpilman Klavier spielt und eine Hand von der Sonne beschienen ist, die andere grau im Schatten spielt, auf der Tastatur – genial von Polanski – Leben und Tod, und Hosenfeld nachdenkt. Auch von Stauffenberg lief zuerst mit den Nazis mit und auch Schindler. Es ist also der Zweifler, der hie und da ein Leben rettet, nicht der Abstrakte, nicht der Ideologe. Das Gefühl ist hier schon wichtig. Letztlich ist es auch das Gefühl, dass dem klugen Faust fehlt und zu Opfern führte. Die Religion von dem Gretchen ist völlig irrelevant, denn mit Gefühl hätte der Faust sie da rausholen können und hätte Mephisto statt dessen abgewiesen.
Gefühllosigkeit ist gefährlich. Und auch die Nazis hatten oft einen sehr abstrakten Intellekt.
@ Kerstin
Hören Sie mit dem Relativieren auf. Mir haben Sie schon geschrieben „ja, das habe ich auch gesehen etcetera“. Sie müssen niemandem irgendwas beweisen.
… man darf gespannt sein, wie sich das Gesetz in Frankreich für die Leugnung des Völkermordes an Armeniern, wenn es denn Völkermord war, in der Türkei des vergangenen Jahrhunderts entwickelt.
Man stelle sich nur einmal vor, in Frankreich wird man wegen Leugnung eines Genozids an Armeiern bestraft und in der Türkei wegen die Behauptung desselben – ebenso.
Übrigens, werter KJN, ist die Revision ein Rechtsmittel.
‚Im Nürnberger Prozeß wurden die Deutschen von der Sowjet-Union angeklagt, die für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Osteuropa zuständig, aber selbst von dem Verdacht, dieses Verbrechen begangen zu haben, keineswegs frei war. Es kam zu keinem Urteil, und der Fall Katyn verschwand von der Verhandlungsszene. Ebenso verschwand die streng geheime Katyn-Akte aus den Archiven des amerikanischen Geheimdienstes.
@Lyoner
Man kann Ihnen vieles vorwerfen, nach diesem Post jedoch keineswegs Verschleierung Ihrer Absichten, was mir zugegebenermaßen lieber ist, als Scheinheiligkeit. So wird selbst mir klar (EJ und Alan Posener haben ja schon hinreichend Stellung Ihnen gegenüber bezogen), wo Sie stehen:
“Dem voraus und begleitend ist natürlich die Erstellung einer genauen Diagnose. Wenn keine harten Fakten (Tatwaffe, DNS etc.) zur Verfügung stehen, ist sie oft nicht einfach, auch aus methodischen Gründen; oft wird z.B. der Psychoanalyse vorgeworfen, die Tatsachen (erlittenen Traumata) zugunsten einer Theorie unbewußter Wünsche nicht wahrzunehmen.“
Was festzustellen ja, um bei dem Beispiel zu bleiben, Sache der Kriminalpolizei und nicht des Therapeuten ist. Aber diese Anmaßung ist – wie ich im Folgenden behaupten werde – typisch. Wäre es nicht allzu platt, würde ich sagen „typisch deutsch“. Ich würde mich jedenfalls niemandem anvertrauen, der mir in wichtigen Angelegenheiten nicht glaubt – oder um es themenbezogener zu formulieren – jemandem, der ständig meine Integrität anzweifelt, entziehe ich meinerseits das Vertrauen. Dieses ständige Anzweifeln der Integrität, den Opfern des Holocaust gegenüber genauso wie Israel gegenüber, geschieht z.B. so:
“Sie schreiben, dass die “Tatsachen” bereits durch die Allierten “fest-gestellt” wurden. Dabei übersehen Sie, dass das Bild des Holocaust durch langjährige seriöse Geschichtsforschung mit ihren Kontroversen (Hilberg, Pressac gegen die Revisionisten…usw. usf.“
Was brauchen Sie denn noch für Beweise? Haben sich die Leichen und Sterbenden selber in den Ofen geschoben??
“ Hier finden die methodischen Zweifel von Revisionisten ihre bevorzugten Angriffspunkte,..“
Es wäre allerdings schwer zu akzeptieren, wenn vor Holocaustleugnern (Sie nennen sie „Revisionisten“) auch noch dieser (methodische) Kotau nötig wäre: Den Holocaust relativieren, damit durch „ergebnisoffene Forschung“ auch dem letzten antisemitischen Zweifler klar wird, was Sache war. Ich denke hingegen: Wer nicht sehen will, sieht auch nicht.
Aber lassen wir das – nur dies: Was Sie schreiben, wirkt kalt. Es ist die Kälte des deutschen Oberlehrers und Besserwissers, der ohne Hemmungen den überfahrenen Fußgänger auf der Trage belehrt: Wärst du mal nicht bei „rot“ gegangen, der dem Vergewaltigungs- oder Raubopfer sagt: Wer sich in Gefahr begibt…
Es fällt schwer, Ihnen aufgrund Ihrer Einlassungen hier keine – sagen wir – „Misanthropie in eine bestimmte Richtung“ vorzuwerfen. Die Kriminalpolizei und Elie Wiesel, der Nazijäger, haben/hatte allen Grund, eine gewisse Inquisition zu betreiben, um nicht Falsche zu beschuldigen; wir – Sie und ich – sind nicht in der Funktion, solcherlei Anmaßung sollten wir uns daher verkneifen. Oder glauben Sie wirklich, die Shoa wäre Alliiertenpropaganda und wir Deutsche müssten da für Aufklärung eintreten?? (-> “ Hier vermittels einer Empirie, die sich an “Tatsachen” ausrichtet, Spreu vom Weizen zu trennen, das wäre doch wünschenswert, was meinen Sie?“). Ich kann (und will) mir das bei Ihnen immer noch nicht vorstellen – die Ihnen hier vorgehaltene Obsession sehe ich allerdings schon.
Sehen Sie, das interessante an Poseners Artikel kommt dadurch erst jetzt, bzw. zu kurz: Statt über die Möglichkeiten einer „Aufklärung 2.0“, die Naturwissenschaft, Philosophie, auch Theologie einbeziehen würde, zu schreiben oder vielleicht meine eigenen Erfahrungen mit Beten beizusteuern, habe ich mich zeitaufwändig über Sie aufgeregt und muss jetzt schlafen gehen. (Natürlich sehe ich das Fenster für die Aufklärung 2.0. trotz Sloterdijks Vorstößen eher in einer kritischen Hinterfragung der Möglichkeiten der Naturwissenschaften, letztlich also der Folgenabschätzung, Erkenntnistheorie und Weiterentwicklung des Menschenbildes).
@Lyoner: Persönlich sehe ich solche Filme nicht so gern, da hier noch weitere Komponenten hinzukommen: Bilder (visuelle Reize) und die Musik als Verstärker. An Literatur finde ich die Möglichkeiten des Perspektivwechsels (Konfliktparteien) und des indirekten Zuhörens interessant, ohne eine Verpflichtung der Parteinahme, also eher ein inneres Verhandeln. Außerdem erfährt man eben doch mehr über den inneren Zustand der dargestellten Personen, ich denke, auch deren inneres Verhandeln ist besser darstellbar.
@ KJN
Ich stimme Ihnen prinzipiell nicht zu. Mir reicht es, wenn die „Fakten“ seriös erhoben wurden und, indem sie bisher Falsifikationsverfahren und dem methodischen Zweifel standgehalten haben, plausibel und belastbar sind. Darüber hinaus halte ich ein sacrificium intellectus und sei es im Dienste einer höheren Idee, sei es des Fortschritts, des Friedens auf Erden oder der Humanität für schädlich. Die Wirkungen dieser Opfer für die gute Sache sind hinlänglich beschrieben.
Natürlich wird, wie Sie schreiben, ein guter Therapeut die Tatsachen berücksichtigen, darüber hinaus wird er nicht konfrontativ das Narrativ des Patienten in Frage stellen. Dem voraus und begleitend ist natürlich die Erstellung einer genauen Diagnose. Wenn keine harten Fakten (Tatwaffe, DNS etc.) zur Verfügung stehen, ist sie oft nicht einfach, auch aus methodischen Gründen; oft wird z.B. der Psychoanalyse vorgeworfen, die Tatsachen (erlittenen Traumata) zugunsten einer Theorie unbewußter Wünsche nicht wahrzunehmen. M.E. ist hier die richtige therapeutische Haltung, dies offen zu lassen, sich nicht zu identifizieren und nicht Partei zu ergreifen. Das kann man natürlich anders sehen.
Sie schreiben, dass die „Tatsachen“ bereits durch die Allierten „fest-gestellt“ wurden. Dabei übersehen Sie, dass das Bild des Holocaust durch langjährige seriöse Geschichtsforschung mit ihren Kontroversen (Hilberg, Pressac gegen die Revisionisten, Goldhagen und seine Gegner, Longerich bis zu Timothy Snyders Bloodlands u.a.m.) immer wieder in wesentlichen Aspekten umgeschrieben wurde. Darüber hinaus – und hier setzt meine Kritik an – gab es eine inflationäre Ausweitung von holocaust studies und Lehrstühlen, die mit ihren pseudowissenschaftlichen Ansätzen einen großen impact auf die öffentliche Meinung hatten. Dies darf nicht erstaunen, wenn der Wahrheitsbegriff so verschoben wird wie z.B. durch den von mir weiter oben zitierten Israel Gutman, Historiker am Yad WaShem, ich wiederhole:
„“Wilkomirski hat eine Geschichte geschrieben, die er ganz tief in seinem Inneren erlebt hat, […]. Selbst wenn er nicht Jude ist, ist die Tatsache, dass ihn der Holocaust so tief berührt hat, von größter Bedeutung. […]. Er ist kein Betrüger. […]. Sein Schmerz ist echt.”
oder durch Elie Wiesel, den prominentesten Zeugen des Holocaust,
„Die einen sagen, Hiob hat sehr wohl gelebt, nur sein Leiden ist eine rein literarische Erfindung. Dem halten andere entgegen: Hiob hat niemals gelebt, aber er hat sehr wohl gelitten.“
Diese Kriterien mögen einem literaturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch oder der Frömmigkeit des Glaubens wohl genügen, ein Historiker sollte jedoch schon wissen wollen, ob etwas, was „ganz tief im Inneren erlebt wurde“ auch im „Äußeren“, der objektiven Welt geschah. Dies ist nicht nur das Problem von Außenseitern wie Wilkomirski, sondern auch von führenden Vertretern wie Wiesel. Hier finden die methodischen Zweifel von Revisionisten ihre bevorzugten Angriffspunkte, wenn sie z.B. befragen, wieweit Elie Wiesels „Nacht“ mehr Dichtung (subjektive Wahrheit) oder mehr Wahrheit (objektive Wahrheit) ist. Hier vermittels einer Empirie, die sich an „Tatsachen“ ausrichtet, Spreu vom Weizen zu trennen, das wäre doch wünschenswert, was meinen Sie? Oder fällt mit bestimmten Narrativen auch die Faktizität des Holocaust?
Humanismus, sagt Sloterdijk, ist ein Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei. Hinsichtlich der Problematik einer nostalgischen Restauration hat Sloterdijk die m.E. erhellende Schrift „Regeln für den Menschenpark“ geschrieben. Wo sehen Sie denn die Lichtung für eine Aufklärung 2.0?
@ Kerstin
Sie schreiben: „Wörter, Sätze, Bilder. ja auch Emotionen erwerben wir auch durch Bücher. Literatur ist eine Quelle von Bildern und Emotionen, wir leben in den Figuren, sie können uns eine fremde Welt erschließen. Dies betrifft nicht nur negative, sondern auch positive Emotionen. Sie sind aber eben oft eine Scheinwelt und leben von Überhöhungen. Dies gilt, denke ich, auch für Filme.“
Ich habe gestern bei Arte einen englischen Film über die Zeit des israelischen Unabhängigskrieges und die Vertreibung der Palästinenser gesehen „Gelobtes Land“, 4. Teil (http://videos.arte.tv/de/video.....12190.html). Der Film hatte in etwa die gleiche Dramaturgie der Passion wie Holocaust-Epen. Unabhängig von der „Wahrheit“ des gezeigten war mir dabei sehr unbehaglich. Ich mag nicht, wenn die „Wahrheitsfindung“ hauptsächlich über meine Emotionen stattfinden soll, eine emotionale Parteinahme.
@ Lyoner
Den Ausdruck und die Idee mit den „Stolpersteinen“ finde ich genial und teile diesen Ansatz. Ich selbst lege mir auch solche hin, wenn ich das auch nicht unbedingt öffentlich erkennen lasse. So lese ich schon immer auch Gegenteile. Ich dachte mir schon, dass es Sie hier noch mal motiviert, wenn ich es schaffe, Novalis und Benny Peiser im selben comment unterzubringen. Ich will auch an dieser Stelle meine Ausführungen über Novalis beenden und dabei daran erinnern, dass dem armen Dichter, im Vergleich zu Goethe, 53 Jahre fehlen, um zu beweisen, dass er großartig war. Ihn mit anderen Romantikern in einem Atemzug zu nennen, wäre verfehlt, denn er war wie Eichendorff ein Frühromantiker, ein Pionier und hatte zum Beispiel mit dem christlich und nationalistisch gefärbten Antisemitismus eines Achim von Arnim (leider auch Clemens Brentano) und dessen Deutschtümelei nichts zu tun und sei daher vollkommen getrennt von beiden zu betrachten und eher mit Schiller zu vegleichen bzw. von ihm abzuleiten(m.E.).
Seine „Moderne“ ergibt sich aus der damaligen Zeit, der Zeit der Aufklärung und der Einflüsse aus Frankreich, einer Zeit, die im Wandel war.
Wie bei Mozart fehlen uns bei Novalis zwei Drittel einer Biographie eines Genialen. Und ich muss mich fragen, ob Goethe nur deswegen als der größte deutsche Dichter angesehen wird, weil er so alt wurde, denn auch Schiller (mit 51 Jahren) und einige weitere mussten zu früh abtreten von der Bühne ihres Genies.
Daher an dieser Stelle ein kurzes Lob der Moderne: Sie hat die Tuberkulose und diverse andere Lungenentzündungen wie auch die Diphtherie, den Tetanus, die Pocken und – last but not least- durch die Wissenschaft der Hygiene die Pest besiegt. Denkmäler der Moderne: Robert Koch, Louis Pasteur und ihre Zeitgenossen.
Und für mich auch Voltaire. Dessen Antisemitismus wird auch oft hochgespielt, aber das halte ich für Unsinn, weil Voltaire gegen alle Religionen war, ohne Ausnahme, und vor allem gegen die Verflechtung von König und Kirche, also gegen Theokratie oder, „modern“ ausgedrückt, Korruption.
In der schwachen Lesart, als metaphorische Redewendung, ist gegen die zur Diskussion gestellte „Heiligkeit der Fakten“ wenig zu sagen; die Fakten sind das zentrale Entscheidungskriterium der Moderne und insofern „heilig“. Ich selber habe das anfangs auch so verstanden und dieser rhetorischen „Heiligkeit“ zugestimmt. Allerdings ist die „starke Lesart“ interessanter, weil man sich dabei Gedanken über die Heiligkeit machen muss.
Kirchenleute interpretieren Heiligkeit oft ebenfalls als Entscheidungskriterum: Wahr ist, was heilig ist, d.h. mit den überlieferten Texten in wesentlicher Übereinstimmung steht. Diese Übereinstimmung steht gegen die Übereinstimmung mit Fakten; im Zentrum des Konflikts steht der Wahrheitsbegriff. Da dieser aber schon immer neben einem Text. auch einen Weltbezug hatte (auch im Mittelalter hatte man weltliche Dinge anhand von Fakten zu regeln) wirtschaftete der Wahrheitsanspruch der Kirche – ihr Bestehen auf „Wahrheit“ – die kirchliche Ordnung der Welt zugrunde. Ein Eigentor: die Kirche als Entwicklngshelfer der Moderne.
Mir erscheint diese Moderne vergleichbar mit einem Zeitalter der Pubertät: Die ehemals „heilige Ordnung“ aus mittelalterlichen Kindertagen wird mit verstandesmäßigen Mitteln erst abgestützt, dabei hinterfragt, dann erodiert und schließlich zugunsten der anderen, fragileren Ordnung der Fakten ausgetauscht. Die alte, helige Ordnung ist allerdings nicht tot, wie Nietzsche annahm; sie lebt und bleibt in der Familie, aber sie entscheidet nicht mehr. Sie ist keine Bestimmung mehr, sondern eine Möglichkeit, die für sich wirbt. Und mancher, wie der würdige Mattussek, kommt auf seine alten Tage zu ihr zurück.
Fußpilz ist ein unappetitliches Beispiel, ja, aber der Holocaust, viel schneller herbeizitiert, ist auch nicht appetitlicher. Fußpilz ist wenigstens banal und veränderlich und passt besser zu Fakten im Allgemeinen.
Aber wie dem auch sei, ich bin für eine zeitlang meistenteils offline, habe Gott sei Dank keinen Fußpilz und sende Grüße an die Diskutanten.
@Lyoner: Also ich kenne Wilkomirski´s Buch nicht. Dafür besitze ich einige andere Bücher über den Holocaust, die ich zum Teil nicht gelesen habe. Selbstschutz. Trotzdem will ich ein paar Worte zum Buch wagen. Wie ich hier und an anderer Stelle im Internet gelesen habe, wurde es ja als seine eigene Geschichte aufgenommen, auch wenn er sagte, dass es am Ende erkennbar war, dass dies nicht stimmen kann.
Wörter, Sätze, Bilder. ja auch Emotionen erwerben wir auch durch Bücher. Literatur ist eine Quelle von Bildern und Emotionen, wir leben in den Figuren, sie können uns eine fremde Welt erschließen. Dies betrifft nicht nur negative, sondern auch positive Emotionen. Sie sind aber eben oft eine Scheinwelt und leben von Überhöhungen. Dies gilt, denke ich, auch für Filme. Problematisch wird dies, wenn diese den historischen Fakten nicht entsprechen oder wenn der Leser sich wie bei Wilkomirski getäuscht fühlt. Vor einer Weile habe ich z. B. Romano-Lax, Andromeda ´s Roman Der Bogen des Cellisten gelesen, sie hat einige historische Fakten und Figuren verwendet, aber auch am Ende darauf verwiesen, wie viel Fiktion in diesem Buch steckt. Letztlich kann ich die historischen Fakten dann auch im Internet überprüfen.
Jetzt hatte ich mich mal zurückgezogen, um das Buch von Peter Longerich „Davon haben wir nichts gewusst!“ zu lesen, wurde hier ja mal genannt. Das war wirklich interessant, auch in Bezug auf die Vergleiche, die man nicht machen darf. Die Frage der „Öffentlichkeit“ und der „Volksmeinung“, inwiefern bildet die Öffentlichkeit die Volksmeinung ab und unter welchen Bedingungen ist dies überhaupt möglich.
@Lyoner
“Ich habe nie begriffen, warum man den Holocaust tabuisiert und Zweifel unter Strafandrohung stellt, ich habe nie begriffen, warum das die Faktizität des Holocaust sicherstellen soll. Ich meine, dadurch bewirkt man eher das Gegenteil. Kann mir jemand hier den Nutzen nennen?“
Ich hatte das keineswegs vergessen, aber da musste ich nochmal drüber nachdenken, was Sie eigentlich bewegt (oder eben nicht bewegt):
Ja, Posener wählte als Einstieg in das Thema die Holocaustleugnung. Vielleicht aufgrund der existentiellen Bedeutung dieses Themas. Und warum ist die sanktioniert? Vielleicht als passgenaue Antwort für Sie: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Patienten in Therapie, der Opfer eines Verbrechens war. Wie wird der wohl auf Einlassungen, wie „so schlimm war das doch nicht“, oder “haben Sie Beweise, dass Ihnen das Verbrechen wirklich widerfahren ist“ reagieren? Sie werden als guter Therapeut die Tatsachen ernst nehmen., und haben damit den ersten Schritt zur Linderung getan.
Auch beim Holocaust geht es eben nicht um „Erkenntnisfindung“ denn die erfolgte bekanntlich bereits durch die alliierten Truppen, sondern um Vermeidung weiterer (seelischer) Verletzungen auf Seiten der Opfer, bzw. deren Angehöriger. Ich denke das ist Grund genug.
So können tatsächlich im Sinne der Humanität Fakten „heilig“ sein.
Auch scheint mir das Thema „Moderne“ unter dem Aspekt der Humanität sowieso von großer Bedeutung zu sein, wenn ich mitbekomme, wie einige meiner Freunde und Bekannten, die – so sehe ich das – mit mehr Bildung und Tiefgang ausgestattet sind als ich, ernsthaft meinen, Tradition und Religion zur Verteidigung der Humanität gegen die Moderne auffahren zu müssen. So meine ich, daß auch Benedikt XVI von den meisten verstanden wurde und ich räume ein, an dem Unbehagen wird wohl etwas dran sein!
Allein wäre mir bei einer erneuten kulturellen Restauration unwohl und ich sehe bei deren Protagonisten viel Nostalgie und romantische Verklärung., so daß ich eine Aufklärung 2.0 bevorzugen würde, die Naturwissenschaft und Philosophie wieder miteinander versöhnt.
@ Burkhard Wahle
Schön, noch ein weiterer Fußballfreund neben Roland Ziegler, Parisien, dem ich gute Besserung wünsche, auf starke Meinungen. Ich habe mich auch über die starke Rücksaison des SC gefreut. Meine Saison wird ideal, wenn die Bayern noch Borussia Polonia schlagen.
Nun ja, „Heiligkeit der Fakten“, die Alan Posener in die Überschrift seines Versuchs der Definition der Moderne aufgenommen hat, ist also nur so eine Art façon de parler, dient nicht der „Wahrheitsfindung“ i.S. des großen Epistemologen Fritz Teufel.
Nun ja, ein Moderner (wie ich) und ein Evangelist der Moderne (wie Posener) – das sind zwei verschiedene Stiefel. Posener erschrickt nicht über die Moderne, schon gar nicht über sich selbst. Das Schlechte bzw. das, was dem Guten entgegensteht, ist ja beim Papst oder den Antisemiten gut aufgehoben. Da meine ich allerdings, dass es einem, der sich im intellektuellen bzw. spirituellen Thermalbad seiner Moderne wohlfühlt, nicht schaden würde, zwischendurch mal kalt zu duschen.
Sie haben recht, der Hinweis auf Wilkomirski ist problematisch. Ich wollte damit allerdings auf eine Rezeptionsbereitschaft hinweisen, in der z.B. ein renommierter Forscher wie Israel Gutman, Forscher an der Gedenkstätte Yad Vashem, schreiben konnte:
„Wilkomirski hat eine Geschichte geschrieben, die er ganz tief in seinem Inneren erlebt hat, […]. Selbst wenn er nicht Jude ist, ist die Tatsache, dass ihn der Holocaust so tief berührt hat, von größter Bedeutung. […]. Er ist kein Betrüger. […]. Sein Schmerz ist echt.“
Angesichts der starken Tendenz der Fiktionalisierung des Holocaust – der öffentliche Diskurs ist mehr durch ihn als durch wissenschaftliche Forschungen bestimmt – wäre ein Mann, der unter Berufung auf die „Heiligkeit der Tatsachen“ die Spreu vom Weizen trennt, von mir willkommen. Meinen Sie, dass Posener sich hier bewähren wird?
@ Parisien
Warum müssen Sie Novalis in das Prokrustesbett der Moderne zwängen? Es ist doch nicht alles wahr und richtig, was sich als „modern“ definiert, oder falsch, was nicht modern ist.
Ich glaube, sie haben recht, dass wir die Wirklichkeit nur noch fragmentarisch begreifen können; insofern müssen wir mit den Fragmenten so genau wie möglich sein. Ich bin kein Gómez Dávila Spezialist, als einen Einstieg empfehlen kann ich Ihnen die „Ausgewählten Sprengsätze“ „Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten“, im Einborn Verlag erschienen (http://www.amazon.de/Leben-Gui.....3821845724). Ich gehe davon aus, dass Sie meinen väterlichen Rat beherzigen, die Fragmente oder Scholien von Gómez Dávila als Stolpersteine zu lesen – und nicht als „Denkmäler“, die den Verstand versteinern. Gegenüber der Anmaßung eines Hippies aus Galiläa, der verkündigte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, hat bereits ein Arno Schmidt das richtige Wort gefunden „Junger Mensch : Lebe erst einmal und lerne : und komme dann in 30 Jahren wieder!“. Ich meine, die größte Gefahr für einen Menschen ist, seine vorläufige Meinung (das was ihm in den Kram passt) affirmieren zu wollen, besser zu wissen glauben. Deswegen mache ich es zu meinem Exerzitium, mir Stolpersteine in den Weg zu legen, da scheue ich weder reaktionäre Katholiken wie Gómez Dávila, reaktionäre Linke wie Slavoj Zizek, reaktionäre Rechte wie Botho Strauss. Gibt es eigentlich Stolpersteine aus den Reihen der Fortschrittler oder der Neoliberalen, auf die das Wort der Schrift nicht zutrifft „Gewogen und zu leicht gefunden“?
Gerade finde ich noch auf Wikipedia über N.G. Dávila:
Auch findet er, die „fortlaufende Rede“ tendiere dazu, „die Brüche des Seins zu verbergen.“ Nur das „Fragment“ sei daher „Ausdruck redlichen Denkens“, „der Ausdruck desjenigen, der lernte, dass der Mensch zwischen Fragmenten lebt.“
Was würden Sie mir empfehlen (@ Lyoner), zuerst von ihm zu lesen?
@ Lyoner
Die zwei Zitate von Nicolás Gómez Dávila sind eindrucksvoll. Zum ersten
“Modern ist, was bleibt, wenn die Poesie getötet wurde.”:
Demnach, wenn man davon ausgeht, dass mit dem Krieg die Poesie getötet wurde, sind Tote und Trümmer modern. Und tatsächlich, das 20.Jh, das sich so modern wähnte, war ein sehr kriegerisches. Die Poesie aber blieb, denn es kamen neue eindrucksvolle Lyriker, also „Abel, steh auf!“ von Hilde Domin ist ein Teil davon.
In diesem Zusammenhang ist dann Abel für mich die Poesie.
Zum zweiten “Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten”:
Was ist, wenn ich postuliere, dass das Leben selbst die Wahrheit ist und zwar so, der Meister selbst:
„Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen: Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinsbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt.
Die Lehrlinge zu Sais, Novalis
Poesie eines Suchenden. Was ist, wenn der Suchende der größte Teil der Wahrheit ist, ein Fragment der Gewissheit, dass es keine einzige Wahrheit gibt, sondern nur Teilwahrheiten, die sich durch neue Erkenntnisse ändern können, genau wie Fakten?
Hierzu ein, wie ich finde, passender link:
http://www.achgut.com/dadgdx/i.....rnalismus/
So fehlt N.Gomez Davilá lediglich ein Adjektiv, nämlich dumm oder einseitig limitiert. Oder so: Das Leben, das sich selbst einschränkt (im Forschen,Suchen)…
(Hoffentlich klappt hier der Link!)
Wenn Nobelpreisträger zuviel denken:
Die Steilvorlage für die Antimodernen..
Wenn Nobelpreisträger zuviel denken:
Die Steilvorlage für die Antimodernen..
@Lyoner: Draußen herrlichster Sonnenschein, der SC Freiburg hält die Klasse (Klasse hat er sowieso) und der wunderschöne Monat Mai steht vor der Tür – eigentlich ist es schon ein Zeichen moderner Selbstdisziplinierung, unter solchen Vorzeichen hier z.B. über die Strafbarkeit der Auschwitzlüge und die „Heiligkeit der Tatsachen“ zu diskutieren. Sei’s drum: Ich bin nicht Ihrer Auffassung bzw. mache Ihnen schon das Zugeständnis, dass mir die Strafbewehrung der Auschwitzlüge auch Unbehagen bereitet, glücklich kann man damit nicht sein; warum ich sie dennoch für vertretbar halte, war in dem Teil meines Posts formuliert, den Sie nicht mitzitiert haben.
Was die Metapher „Heiligkeit der Fakten“ betrifft, so bin ich aus den schon genannten Gründen der Auffassung, dass Sie und Roland Ziegler beispielsweise sie überstrapazieren. Thorsten Zeitz hat das hier doch wunderbar formuliert: „Wenn wir an Stelle der „magischen Kausalität“ des archaischen Denkens die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise setzen, so ist das ein beachtlicher Fortschritt. Insofern ist nicht der Fußpilz heilig [Zieglers unappetitliches Beispiel], vielleicht aber unsere Selbstdisziplin, auf rationalen Erklärungen zu bestehen und das irrationale Denken abzuwehren.“ Und auch in diesem Zitat wird „heilig“ selbstverständlich nur metaphorisch verwendet, so wie der säkulare Mensch sagen kann „Das und das ist mir heilig“, um damit leihweise auszudrücken: es stellt für mich das Höchste oder nicht weiter Diskutierbare dar. Ein wissenschaftlich belastbarer Begriff wird daraus selbstverständlich nicht, vielleicht ist Ihnen dieser Standpunkt auch zu schlicht.
Problematischer finde ich die Sache mit den angeblich fehlenden Qualitätsstandards der Holocaustforschung und dass Sie ausgerechnet Wilkomirski anführen um diese insgesamt als von Revisionisten angreifbar darzustellen. Es gibt keine wissenschaftliche Disziplin ohne Irrtümer, die zum Teil auch lange unentdeckt bleiben, und hier instrumentalisieren Sie vielleicht einfach Hilbergs (selbst?)kritisches Diktum anlässlich eines nicht wissenschaftlichen, sondern pseudoautobiographischen und pseudoliterarischen Werks (Machwerks). Ohne Narrative kommt historische Forschung wohl kaum aus; die Tatsache, dass auch Künstler im Holocaust-Diskurs „mispielen“, ist doch begrüßenswert, denken Sie etwa an Primo Levi, Imre Kertesz, Ruth Klüger oder, um ein heiß umstrittenes Werk zu nennen, Littells „Die Wohlgesinnten“! Wilkimorski konnte durch Imitation bestimmter authentischer Diskursmuster, die unter anderem von den genannten Autoren geprägt wurden, eine Authentizitätsfiktion aufrechterhalten, die dann eben doch zusammenbrach. Aber bedeutet das wirklich so viel über den Einzelfall hinaus?
Vielleicht ist das auch generationsspezifisch, aber ich stimme Posener hier zu („erleichtere ihm das Fabulieren“, wie Sie so hübsch schreiben), aber wie er seine Rolle selbst versteht oder wie Sie ihn zu verstehen belieben, als „Evangelisten der Moderne“, wie Sie wiederum so hübsch schreiben, das finde ich gar nicht so interessant. Ich bin ja auch nur gelegentlich hier im Forum und habe mich auch schon häufiger mit dem Blonden Hans gefetzt, insofern kenne ich die Versuchungen des „Missionierens“ (Metapher!), aber Poseners Papstbuch fand ich beispielsweise sehr gut, bin überhaupt durch dieses Buch erst auf ihn aufmerksam geworden, teile also Ihre Grundsatzeinschätzung, Posener wolle eigentlich selber Papst sein (bisher) nicht.
P.S. Die Davila-Aphorismen sind beachtlich. Aber was ist mit der emphatisch modernen Poesie, Literatur, Kunst? Gerade läuft auf RBB eine fantastische Ulysses-Lesung; das ist Moderne im besten Sinne. Schließt Davila sowas in seinen Poesie-Begriff ein? Ich kenne ihn nicht, weiß nur, dass er in den Feuilletons und bei „Salonkatholiken“ in den letzten Jahren populär geworden ist. Und bei „durch und durch modernen Charakteren“ wie Ihnen. Ich selbst bin ja auch von „starken vormodernen Haltungen“ (Lyoner über Posener) strukturiert, fürchte ich. Als ich jung war, standen auf den Höfen im Münsterland Silos mit der schönen Aufschrift „Ich bin zwei Öltanks“, ein schöner Kommentar zu Freud und Rimbaud, meine ich. Also, was ich sagen will, ich bin modern und vormodern, Posener vielleicht auch, Sie vielleicht nicht, Blonder Hans vielleicht auch nicht, aber andersrum – und jetzt nichts wie raus in die Sonne!
B.W. @Blonder Hans: Vielleicht keine Schuldfrage – machen Sie Ihre Verwirrung produktiv und stellen Sie Ihre Gewissheiten (wer “aus/in der Wahrheit ist/spricht” und so) mal alle in Frage, das wird was!
… vielen Dank, ich habe gefragt, ich habe gesucht, dabei auch Kant berücksichtigt und habe die Wahrheit gefunden. (Oder die Wahrheit mich. 😉 )
@Blonder Hans: Vielleicht keine Schuldfrage – machen Sie Ihre Verwirrung produktiv und stellen Sie Ihre Gewissheiten (wer „aus/in der Wahrheit ist/spricht“ und so) mal alle in Frage, das wird was!
@ Burkhard Wahle
Sie schreiben: „und dass es ein hochentwickeltes methodisches Instrumentarium gibt, mit dem auch der Holocaustleugner widerlegt werden kann, welcher sich ausnahmslos daher immer und fundamental gegen die Geltung wissenschaftlicher Verfahren wendet und unter allen, denen diese Verfahren sowieso zu anstrengend oder zu hoch sind, seine Anhänger sammeln wird,…“
Wenn das so ist und wenn, wie Roland Ziegler treffend dargestellt hat, die wissenschaftliche Methode des permanenten Überprüfens einerseits „Tatsachen“ erhärten, andererseits „Tatsachen“ widerlegen kann, zu was brauchen wir dann eine Strafbarkeit? Es werden doch auch nicht Leugner der Evolutionstheorie oder der Relativitätstheorie oder, um im Feld der Geschichte zu bleiben, Leugner der Apollo-Mission oder des Todes von Elvis einer Strafandrohung ausgesetzt.
Ich besuche gerne wissenschaftliche Vorträge, gestern z.B. eines Superstars der Physik, Lisa Randall (http://www.einsteinforum.de/in.....5&L=0). Ich habe, soweit ich mich erinnern kann, noch keinen einzigen Wissenschaftler, sei er Historiker oder Naturwissenschaftler, von einer „Heiligkeit“ oder gar Unumstößlichkeit der Fakten reden hören. Man kann natürlich wie Sie und, durch Sie erleichtert, jetzt Alan Posener, von einer „produktiven“ „Metapher“ fabulieren. Alan Posener mag uns allerdings bitte erklären, wo und weshalb der Begriff „Heiligkeit der Tatsachen“ produktiv geworden ist.
„Heiligkeit“ hat ein klar umrissenens Konnotationsfeld, eine Bestimmung, die über dem profan-menschlichen liegt; hier kommt man nicht umhin, z.B. Sakrileg und, wie es der geschätzte Parisien getan hat, „Unheiligkeit“ mitzudenken. Auf jeden Fall ist die Einführung des Begriffes in Poseners Versuch der Definition der Moderne nicht zielführend, sondern eher irreführend und sollte mit Ockhams Messer abrasiert werden. Wissenschaft muß natürlich Qualitätskriterien formulieren, diese werden im Prozess der ständigen Überprüfung verfeinert. An diesen Qualitätsstandards hat es, darauf hat Raul Hilberg hingewiesen, der Holocaust-Forschung zuweilen gemangelt. Man darf auch nicht vergessen, dass der Holocaust-Diskurs ein massenkulturelles Phänomen ist, das Bild des Holocaust weniger von „Fakten“ sondern von Fiktionen, Narrativen von echten und falschen Zeugen, Künstlern etc. bestimmt ist. Gerade deshalb ist wichtig, dass Qualitätskriterien entwickelt werden, mit denen es möglich ist, zwischen Zutreffendem und Humbug zu unterscheiden. Die Schwächen des Holocaust-Diskurses sind Wasser auf den Mühlen der Revisionisten, die – im Gegensatz zu Ihrer Beurteilung – sich nicht gegen die Geltung wissenschaftlicher Verfahren wenden, sondern sich auf sie berufen. Auf diesem Feld muss man besser, nicht schwächer sein.
Nun, bei Posener kann man studieren, dass einer, der sich als Evangelist der Moderne begreift, durch starke vormoderne Haltungen strukturiert wird. Wir alle wissen, dass Posener sich gerne am Papst reibt, den er so als seinen Antagonisten und als Gegenpol der Moderne aufbaut. Mir scheint, dass das, was ihn an Benedikt und dem Amt des Papstes stört, weniger der fundamental autoritative Charakter ist, sondern dass der Papst nicht die nach Posener richtigen Dogmata verkündet.
@ Parisien
Ich bin zu meinem Leidwesen ein durch und durch moderner Charakter. Deswegen muss ich mir zwischendurch auch Stolpersteine in den Weg legen
„Modern ist, was bleibt, wenn die Poesie getötet wurde.“
„Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten“
Beides von Nicolás Gómez Dávila.
@ Alan Posener
Ja, und vielen Dank für Ihr interessantes Stück.
Wir haben ja bekanntlich ein Problem mit Zweckentfremdung der Sprache, die kein Pendant zur Académie Francaise hat. So ist manches, was als „romantisch“ bezeichnet wird, das eben nicht, sondern manchmal nur kitschig. Wer Laura Ashley-artige Vorhänge verkauft und wirbt das an mit einem Pärchen im Kerzenschein vor Sofakissen und nennt das romantisch, hat die Romantiker auf schöne heile Welt, Bürgertum und Kitsch verkürzt, und das waren sie eben nicht.
Und ohne Romantiker keine Impressionisten, vermutlich, und ohne Aufklärung keine Romantiker. Und so geht das gute 150 Jahre, denn danach kamen ja weitere, und dann kommt 30 Jahre Apokalypse, und 1945 steht die Welt da und sagt: „Wieso denn gerade die Deutschen, dieses Kulturvolk?“
Aber mit Kultur hatte das wohl weniger zu tun als mit Politik. Politik sagt heute: Europa und der Euro – das sei in etwa kongruent. Kultur sagt: Europa und diese ganze Kette von in sich verschlungenem Fortschritt, philosophischer, literarischer, musikalischer und künstlerischer Größe – das ist kongruent. Und das würden die meisten Menschen verstehen. Dass eine Währung Europa sein soll, wollen sie nicht verstehen. Und das finde ich tröstlich.
APo: Ja, so sehe ich es. Die “Heiligkeit der Fakten” ist ein Zitat, und auch im Zitat eine Metapher. Aber eine höchst produktive.
… genau APo – eine höchst produktive Metapher. *rofl*
@Parisien
Danke für den Hardenberg-Artikel.
„Die Chemie betont den prozessualen Wandel und das genetische Werden.“ Wie wahr.
Der Diskussion entnehme ich, daß erhebliche Ängste bestehen, die Moderne könne allzuleicht aus dem Ruder geraten, eben weil sie „modern“ ist.
Ich sehe die Gefahren eher bei den Antimodernen, z.B. wenn sie nach Atomwaffen streben.
Meine momentane Buchempfehlung dazu: „M. Schmidt-Salomon: Keine Macht den Doofen“.
@ Burkhard Wahle: Ja, so sehe ich es. Die „Heiligkeit der Fakten“ ist ein Zitat, und auch im Zitat eine Metapher. Aber eine höchst produktive.
@ Parisien: Ich gebe Ihnen zu, dass die Romantiker in vielem „modern“ waren, eben weil sie das emotionale Leben der Menschen entdeckt haben. Ohne Romantik kein Freud.
B.W.: @blonder Hans: Doch, Sie sind verwirrt, keine Frage! (Sie schießen immer schnell aus der Hüfte,…
… keine Panik, so schnell ’schießen‘ Mecklenburger nicht. Außerdem würden Sie das – gegebenenfalls – nicht einmal mal merken.
Aber wer oder was verwirrt mich? Sie? Oder bin ich selber schuld(ig)? Klären Sie (mich) auf.
@ Lyoner
Manchmal widerlegt man jemanden, ohne das vorzuhaben. Das kann passieren, wenn man sich weder auf die Person konzentriert, noch auf so was wie Ihr Lieblingsthema, sondern auf eine der Thematiken, die angeschnitten waren. Zufällig.
„Von Zahlen und Figuren“: Die Glocke, Schiller, 1799
Die Jahreszahlen – die Feste, die Menschen, die arbeiten, und die Glocke – die Figuren.
Kein Factum, nur Meinung, starke oder schwache, mir egal. Schiller sein Idol, „Die Glocke“ – das Leben. Dann schrieb er den Ofterdingen, verabschiedete sich damit von seiner Trauer, verlobte sich erneut und starb an einer Lungenentzündung. Seinen Ruf hat Tieck zunächst zerstört, nicht etwa Goethe. Die Wissenschaft liebte er. Das scheint eine „sanctity of facts“ zu sein.
Wir können wohl kaum einen Freund des Fortschritts und der Freiheit in einer Trauerphase hernehmen, um zu belegen, dass alle Fakten heilig sind.
@ Burkhardt Wahle
Danke für Ihren Hinweis. Natürlich finde ich Goethes Werk wunderbar und kann seinen „Prometheus“ ebenso großartig finden wie die Abendmahlshymne faszinierend.
Hier ein interessanter Artikel über Novalis und die Chemie:
Denker, seid Chemiker!
Dabei wird deutlich, daß die Chemie die Geistesgeschichte mindestens ebenso beeinflußt hat wie die heute als idealtypische Wissenschaft geltende Physik. Die Verwendung chemischer Metaphern ist für die romantischen Denker typisch. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Chemie im modernen Sinne und überkommenen Traditionen der Alchemie hat von Hardenberg, anders als viele seiner Zeitgenossen, nicht interessiert. Ihm ging es im Gegenteil gerade um einen dritten Weg zwischen den Extremen der exakten quantifizierenden Wissenschaft und der kreativen, inspirierten, höheren Weisheit.
http://www.faz.net/aktuell/feu.....19775.html
@blonder Hans: Doch, Sie sind verwirrt, keine Frage! (Sie schießen immer schnell aus der Hüfte, auf Zusammenhänge pfeifen Sie sich ihr antimodernes Liedchen.)
@ Lyoner
Zusatz für Ihre vom Schachspiel geschulte Akribie:
Opferlegende für die, die diesem Modezug nachlaufen.
Opferhistorie für die wirklichen Opfer.
Vorbildlich, wie ich finde: Der Breivik-Prozess. Sie machen kein Opfer aus ihm, wie wir das hier manchmal haben, die schäbige Kindheit und der ganze Kram.
@ Lyoner
Sie unterstellen:
„ich vermute, dass Sie eine Person gewesen wären, die die Wilkomirski Saga für “unumstößlich” gehalten hätte – oder täusche ich mich da?“
Nein. Das ist ein Crook. Und ein Teil einer Mode, selbst eine Opferlegende haben zu wollen.
@Roland Ziegler: Alan Posener versteht unter der „Heiligkeit der Fakten“ den „Gedanke[n], dass bestimmte Behauptungen nachprüfbar richtig, andere nachprüfbar falsch sind, und zwar unabhängig davon, ob sie den Priestern, Königen, Magiern oder Wissenschaftlern passen.“ Dies sei das „Grundkennzeichen der Moderne“. Anknüpfend an das, was ich oben geschrieben habe, und Ihr plastisches wenn auch unappetitliches Fußpilz-Beispiel aufgreifend, würde ich den Unterschied zwischen dem archaischen und dem modernen Denken so beschreiben: Das moderne Denken namens Wikipedia sagt: „Der Fußpilz (Tinea pedis) ist eine Pilzinfektion der Füße, insbesondere der Zehenzwischenräume und Fußsohlen, durch Fadenpilze (Dermatophyten)“, und ruft nach einer wirksamen Salbe. Das archaische Denken sagt: Meine Nachbarin hat den bösen Blick und mir diese Krankheit auf den Leib gehext, und stachelt die restlichen Dorfbewohner auf, die Hexe zu verbrennen. Dieses Beispiel ist nicht an den Haaren herbeigezogen, was die Judenverfolgungen des Mittelalters zeigen, als man den Ausbruch von Epidemien damit erklärte, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Ohne Umschweife halten wir die moderne Auffassung für wahr und die archaische Auffassung für falsch. Wenn wir an Stelle der „magischen Kausalität“ des archaischen Denkens die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise setzen, so ist das ein beachtlicher Fortschritt. Insofern ist nicht der Fußpilz heilig, vielleicht aber unsere Selbstdisziplin, auf rationalen Erklärungen zu bestehen und das irrationale Denken abzuwehren.
@Parisien: Wir müssen hier ja keine Dichter-Rangliste aufstellen, aber wie Goethe charakterlich war und wann er zum ersten Mal Sex hatte – mein Gott, das ist für den Rang seines Werks doch vollkommen unerheblich! Und BILD kann doch nicht im Ernst Ihre Referenz sein oder beurteilen Sie Beethoven oder Bob Dylan mit den Maßstäben von Bohlen?
Mit Novalis kann ich übrigens durchaus was anfangen, und Goethes Ablehnung der Romantik(er) als u.a. „krankhaft“ bezeichnet sicher eine Grenze Goethes, aber er irrte wenigstens groß. Da Sie sich so für Novalis begeistern: Letzten Samstag war in der FAZ eine Rezension zu gleich zwei neuen Novalis-Biographien zu lesen, eine von Gerhard Schulz, die andere weiß ich nicht mehr; beide wurden sehr positiv besprochen. Und mein Goethe-Zitat war übrigens nicht ganz korrekt: „Mein Schoß!Gott! drängt/ sich nach ihm hin“ musste es heißen.
@ Roland Ziegler: Finde ich nicht, ich verstehe den Ausdruck einmal aus der von Apo zitierten Situation, dem Plädoyer vor Gericht, und dann sozusagen journalistisch, als eine facon de parler wenn Sie so wollen bzw. ich glaube, dass Posener ihn in seinem Beitrag so verwendet hat. Das mag man ja für leichtfertig halten, aber mir scheint doch klar genug zu sein, dass hier der moderne Prozess der Umwertung einfach wirkungsvoll etikettiert werden soll. Aber vielleicht relativiere ich auch zu stark und Herr Posener himself könnte den Zwist seiner Exegeten klären. Letztlich glaube ich aber, dass der Begriff hier im Forum überstrapaziert wurde.
B.W.: … sondern bereit sind anzuerkennen, dass es Kriterien für angemessene und unhaltbare Interpretationen gibt, nicht nur von Kunstwerken, …
? … Index als ‚Moderne‘ der Bücherverbrennung? … ich bin ‚verwirrt‘. (Oder auch nicht.)
Mal das Rätsel mit Hilfe der Spezialisten auflösen und vor allem mit des Meisters eigenen Worten:
Quellennachweis am Ende:
„Aus den Studienheften des Jahres 1800
Heinrich (Anm. Parisien: von Ofterdingen) wird im Wahnsinn Stein – (Blume)klingender Baum – goldner Widder –
Heinrich erräth den Sinn der Welt. Sein freywilliger Wahnsinn. Es ist das Räthsel, was ihm aufgegeben wird. Die Hesperiden sind Fremdlinge – ewige Fremden – die Geheimnisse.
Die Erzählung von mir (nur wie) von dem Dichter, der seine Geliebte verlohren hat, muß nur auf Heinrichen angewendet werden.
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssem,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die (freye) Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die (alten) wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Quelle: NOVALIS, Schriften, Erster Band, Das dichterische Werk, Herausgegeben von Paul Klockhohn und Richard Samuel unter Mitarbeit von Heinz Ritter und Gerhard Schulz, Verlag W.Kohlhammer, Stuttgart.
Es geht nicht um die Wissenschaft. Es geht um das Leben. Es geht um den Verlust von Sophie von Kühn, die an einer Infektion verstorben war, dargestellt im „Heinrich von Ofterdingen“ in Mathilde.
Novalis‘ Trost. Von der Seele geschrieben. Gleich danach starb er selbst.
Damals fingen sie an, über Gefühle zu schreiben, Liebe, Verlust, Krankheit, Tod. Darin liegt ein immenser Schritt in die Moderne. Sie waren viel moderner als Kaiser Wilhelm II später.
@Burkhard Wahle: Die Rede von der „Heiligkeit der Fakten“ mag nicht so wörtlich zu nehmen sein, aber das genaue Gegenteil sollte sie nun auch nicht bedeuten. Sie sagen, gemeint wäre ein Prozess der Moderne weg vom Heiligen hin zum Profanen; der diskutierte Ausdruck, der die Moderne kennzeichnen soll, „Heiligkeit der Fakten“, ist aber das genaue Gegenteil.
@Lyoner: Auch die Lichtgeschwindigkeit wurde erst kürzlich durch ein vermeintliches Faktum (schnellere Neutrinos), das sich dann als Irrtum (Messfehler) herausgestellt hat, infrage gestellt. Dadurch, dass sich diese Beobachtung als Irrtum herausgestellt hat, wird die bestehende Relativitätstheorie tendenziell gestärkt.
@ Burkhard Wahle
Bei allem Respekt vor Goethe und seinem Werk: Ich fürchte, er konnte vor allem sich selbst was abgewinnen, also Prototyp eines Narzissten mit ständig steigendem Heer an Bewunderern. Ich fürchte, BILD würde ihn heute ein paar Etagen ‚runterholen.
Als er den Ur-Faust schrieb, soll er übrigens noch „Jungfrau“ gewesen sein. Nach Lanz: – Wann hatten Sie denn zum ersten Mal? -Mit 38, Signore, in Ihrem Heimatland.
Ich glaube, man sollte bei der Frage, inwiefern profane Fakten doch irgendwie „heilig“ sein könnten, solche Monstrositäten wie den Holocaust weglassen. Erst die Regelfälle, dann die Exttremfälle. Fragen Sie sich lieber z.B., ob der Fußpilz, falls man Ihnen einen solchen diagnostiziert hat, wirklich ein heiliges Faktum ist und worin seine Heiligkeit bestehen könnte.
@Parisien: Klar, aber das sind die Absichten, die profan sind, nicht die Zahlen. Stellen Sie sich mal vor, man jongliert statt mit Zahlen mit Heiligenbildern; dadurch wird das, was auf den Bildern dargestellt wird, auch nicht profan. Fakten sind wesentlich profaner als abstrakte Zahlen.
@ Roland Ziegler
Sie schreiben: „Im Gegenteil ist es ein grundsätzlicher Vorteil der Fakten gegenüber Glaubenssätzen, bestritten werden zu dürfen. Die verschiedenen wissenschaftlichen Theorien der Moderne schälen sich im Prozess der Faktendiskussion heraus. Einige Fakten werden durch solche Diskussionen stärker, andere werden als Irrtümer fallengelassen.“
Ich stimme Ihnen vollkommen zu – und so sollte auch der Prozess sein und, ich meine, darauf sollte man sich verlassen. Es gibt keinen anderen Weg in der Moderne. Umso bedenklicher ist es, wenn man den Prozess der Faktendiskussion beenden will, in dem eine „Heiligkkeit der Fakten“ oder, so unser werter Diskussionspartner Parisien, Unumstößlichkeit postuliert wird. Hier wird ein kanonischer Text, ein Dogma mit allen Konsequenzen, nämlich Bestimmung der Orthodoxie und der Häresie, einschließlich der Sanktionen (Strafrelevanz; Broder hat schon Quarantänelager vorgeschlagen) aufgestellt. Kennen Sie einen anderen Bereich außerhalb der Religion und der Holocaustdiskussion, in dem mit „Heiligkeit der Fakten“ und „Unumstößlichkeit“ hantiert wird? Soweit ich weiß, steht nur die Lichtgeschwindigkeit außer Frage.
@ Parisien
Hier dreht es sich nicht nur um einen Streit um Worte, lieber Parisien. Es ist schon symptomatisch, dass Posener den Begriff der „Heiligkeit“ aufnahm (und Sie sich nicht scheuen und schämen, dieses Urteil zu schreiben: „Wer aber über Tote diskutiert, ihnen ihre Ruhe verweigert, rettet niemanden. Es ist destruktiv. Und er ist sicher eins: Unheilig.“). Wenn Sie sich die Diskussion vergegenwärtigen, dreht es sich ja nicht nur um ein Factum brutum, sondern auch um geschichtliche Einordnungen, Interpretationen. Unter das Anathema des Dogmas fällt zu Bespiel auch die Diskussion der „Singularität“ oder einer Interpretation, wie Sie ein Nolte zur Diskussion stellte. Raul Hilberg stellte mal fest, dass es in der Holocaustforschung und -perzeption leider keine Qualitätsstandards gäbe (und er meinte damit nicht die Revisionisten). Ich darf Sie daran erinnern, dass eine Lügengeschichte wie die von Benjamin Wilkomirski einige Jahre ohne Widerspruch aus dem Establishment der Holocaustforschung durchging, sie für ein heiliges Factum gehalten wurde und gegen energischen Widerstand von einem Außenseiter zu Fall gebracht wurde. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit Daniel Ganzfried in Potsdam, in dem ihm vorgehalten wurde, dass er mit dieser Demaskierung Schaden anrichten, den Nazis und Revisionisten in die Hände spielen würde; es wäre besser gewesen, Wilkomirski Geschichte als „Fakt“, als tatsächlich erlebte Geschichte zu akzeptieren. Es gibt sogar jetzt noch Zeitgenossen, die die Geschichte für erfunden, trotzdem für wahr halten. Ich bin der Meinung, dass gerade auch in Bezug auf den Holocaust zwischen Faction und Fiction, Dichtung und Wahrheit unterschieden werden muss, alles andere ist Wasser auf den Mühlen der Revisionisten. Sie sehen, ich halte die Ermittlung der Fakten sehr wohl für wesentlich; ich vermute, dass Sie eine Person gewesen wären, die die Wilkomirski Saga für „unumstößlich“ gehalten hätte – oder täusche ich mich da?
Was den Fußball und den Saukraxler angeht, da sind wir (vielleicht auch zusammen mit Roland Ziegler) ein Herz und eine Seele. Mein Lieblingsspieler bei den Bayern ist z.Z. der junge unbekümmerte Schockomohr aus Österreich. Ich freue mich jetzt auf die beiden Endspiele und hoffe, dass die Bayern wenigstens einmal in dieser Saison die schwarzgelben Bienen von Borussia Polonia Dortmund in die Schranken weisen.
@ liebe Rita E. Groda
stimmt. Da habe ich nicht genügend aufgepasst. Parisien hat an @Rita E. Groda Sie zitiert und Ihnen zugestimmt. Korrektur ist immer wichtig.
Verstehe nicht ganz, warum die von Posener zitierte Metapher „Heiligkeit der Fakten“ hier so diskutiert wird, als wolle Apo sie zum epistemologischen Zentralterminus erheben. Hingewiesen wird damit doch lediglich in zuspitzender Weise auf einen Austauschprozess, auf eine modernetypische Ablösung des „Heiligen“ durch das Profane. Nicht eigentlich Theorie fällt als Bezugsrahmen weg, sondern Theologie, zumindest in ihrer „harten“, dogmatischen Gestalt. Und diesen Prozess hat unter den Dichtern Goethe (der Novalis und den Romantikern bekanntlich nichts abgewinnen konnte)in der Weise vollzogen, dass er die Sprache für das Höchste, die religiöse Sprache, zum Ausdruck und zur „Heiligung“ des menschlich-höchsten, etwa der Liebe, entwendet hat. Bezwingend kühn noch im „Urfaust“: „Mein Schoß – Gott! – drängt sich zu ihm [Faust] hin“(Gretchen),für die Druckfassung von „Faust I“ dann abgemildert.
Vom (von mir aus) Reaktionär Nietzsche stammt der Satz „Gegen den Positivismus“: „gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“ (KSA 12, S. 315) Und das ist so klug und richtig wie gefährlich, da wir es tatsächlich nicht hinnehmen können, den Tatsachenrang des Holocaust zu relativieren. Was aber auch nicht daraus folgen muss, wenn wir nicht meinen, jede Interpretation gelte gleichviel(alles nur Interpretationssache)oder eine einzige sei „heilig“, sondern bereit sind anzuerkennen, dass es Kriterien für angemessene und unhaltbare Interpretationen gibt, nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von „Geschichte“, und dass es ein hochentwickeltes methodisches Instrumentarium gibt, mit dem auch der Holocaustleugner widerlegt werden kann, welcher sich ausnahmslos daher immer und fundamental gegen die Geltung wissenschaftlicher Verfahren wendet und unter allen, denen diese Verfahren sowieso zu anstrengend oder zu hoch sind, seine Anhänger sammeln wird, woherowegen man dann wahrscheinlich zum problematischen und eigentlich hilflosen, letztlich aber doch richtigen Mittel der Strafbarkeit der Auschwitzlüge gegriffen hat.
@ RZ:
„…und wieso sind Zahlen eigentlich profan und stehen der Liebe gegenüber? Mathematiker lieben Zahlen. Nur weil man das nicht versteht, darf man ihnen die Liebe nicht absprechen.“
Okay. Korrektur: Zahlen können profan sein, wenn mit ihnen nicht gerechnet, sondern jongliert wird.
Beispiel: Sarkozys Stimmen plus die von Bayrou und vor allem vom FN würden reichen. Deshalb umschmeichelt er jetzt ca. 20% der Franzosen, die für Marine LePen gestimmt haben. Profan, oder?