Ach ja, Günter Grass. Über sein „Gedicht“ zur israelischen Atombombe brauchen wir keine weiteren Worte zu verlieren. (Dennoch erscheint in der „Welt“ vom Mittwoch ein Artikel von mir zum Thema.)
Das Merkwürdige ist ja, dass alle Versuche, ihn in ein Schema – immer schon Nazi und Judenfeind gewesen, siehe seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, oder immer schon Islamversteher gewesen, siehe seine Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen, oder immer schon ein Weichei gegenüber dem Kommunismus, siehe seinen Widerstand gegen die Wiedervereinigung – zu pressen, an der Komplexität des Menschen Günter Grass scheitern.
Was den Kommunismus betrifft, so gebe ich zwar zu, dass ich das Stück seit langem nicht mehr gelesen habe; aber mir scheint, „Die Plebejer proben den Aufstand“ war nicht nur ein clever gebautes Drama, sondern eine vernichtende Kritik Bertolt Brechts und seines Opportunismus gegenüber dem SED-Regime.
Gegenüber der Studentenbewegung blieb Grass gerade aus einem soliden sozialdemokratischen Antikommunismus heraus auf Distanz, schrieb auch darüber ein Stück, dessen Titel ich vergessen habe, das mich damals sehr geärgert hat. Jedenfalls kann man ihm, denke ich, nicht Anbiederei an die 1968err vorwerfen.
Was sein Verhältnis zum radikalen Islam angeht, so werde ich ihm immer zugute halten, dass er 1989 aus der West-Berliner Akademie der Künste austrat, weil diese aus Sicherheitsgründen – sprich: aus Feigheit vor den Mordkommandos der Mullahs – eine Solidaritätsveranstaltung für Salman Rushdie verweigert hatte. Hierzu zwei Artikel aus der „Berliner Zeitung“ anlässlich seiner Wiederaufnahme:
http://www.berliner-zeitung.de/newsticker/nicht-ohne-meinen-rushdie,10917074,9429990.html
Dass in „Was gesagt werden muss“ so gar nichts gesagt wird über die terroristische Geschichte des Teheraner Regimes, verwundert mich angesichts dieser Geschichte denn doch.
Dass Günter Grass aber kein Antisemit in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Wortes ist, das scheint mir so klar wie die Tatsache, dass „Was gesagt werden muss“ ein antisemitisches Gedicht ist.
Dass der Erfolgsautor seine kurze Mitgliedschaft in der Waffen-SS so lange verschwiegen hat, muss man auf das Konto Opportunismus verbuchen. Dass er als 17-Jähriger ein glühender Nazi war, hat er aber längst bekannt. Bei anderen seiner Generation war es eher so, dass sie ihre Mitgliedschaften zugaben (oder auch nicht), aber – wie die Ossis nach der Wende – behaupteten, innerlich immer Distanz zum Regime gehalten zu haben.
Deshalb (und weil ich selbst mit 21 einer kommunistischen Organisation beitrat) tue ich mich schwer, wegen der Waffen-SS-Geschichte in Wallungen zu geraten. Und man muss ja annehmen, dass er sein schriftstellerisches und politisches Leben zum großen Teil der Tilgung der deshalb empfundenen Schuld gewidmet hat.
Zweifellos enthält die „Blechtrommel“ eine der genauesten Beschreibungen jenes verschwitzt-verschwiemelten kleinbürgerlichen Niveaus, aus dem die SA und die Partei ihre Leute rekrutierte. Noch sein Widerstand gegen die Wiedervereinigung speist sich aus dem Misstrauen in die „geglückte Demokratie“ der Bundesrepublik, trotz Willy Brandt; und dieses Misstrauen, obwohl es heute nicht politisch korrekt ist, das zu sagen, war ehrenwert, wenn auch nicht begründet. Immerhin wurde es von Maggie Thatcher und Francois Mitterrand geteilt.
Was ist also passiert? Wie konnte aus dem Mann, der sich solidarisch erklärte mit Salman Rushdie, der Mann werden, der die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen verurteilte, obwohl sie erheblich weniger blasphemisch sind (wenn es denn Grade der Blasphemie gibt), als es Rushdies großer Roman ist? Wie konnte aus dem Mann, der die linken Verirrungen der Studentenbewegung und den Opportunismus Brechts kritisierte, der seine „Plebejer“ am 17. Juni 1953 auf der Bühne die Wiedervereinigung unter (dem SPD-Vorsitzenden) Ollenhauer fordern ließ, der Gegner der Wiedervereinigung aus linker Verirrung heraus werden? Wie konnte aus dem Mann, der über seine eigene Nazi-Verblendung erschrak, der Hobby-Dichter werden, der – während in Syrien das Volk zusammenkartätscht wird von einem Regime, das mit dem Teheraner Regime verbündet ist – Israel unterstellt, „das iranische Volk auslöschen“ zu wollen?
Ich gestehe, dass mir das ein Rätsel ist. Ich bin nicht bereit, ihm irgendetwas nachzusehen. Wer austeilt wie Grass, muss auch einstecken können. Aber ich würde gern verstehen, was ihn umtreibt. .
@Kerstin: ISRAEL? I) Einer sagte, dass manche ISRAELI pro PEGIDA seien und das sei ein Widerspruch! Inwiefern?
II) Grundsätzlich werden ständig Juden von Islamisten in Frankreich umgebracht; (große Ausreisewelle frz. Juden in den letzten Jahren nach ISRAEL! Weil die frz. LINKE antisemitisch ist- erfolgen die vielen tödlichen Übergriffe von Islamisten auf Juden leichter!
III) Mir als ALT-LINKEM entging nicht! x- fach wurden jüdische Kinder bei Abholung v. d. Schule in Frankr. erschossen, samt dem Abholer (Vater). Von wem ? Von Islamisten!!!
IVa) P E G I D A ist mit keinem Wort in seinen 19 items rassistisch! Die müsste man natürlich erst gelesen haben. Es geht PEGIDA um die %- Zahlen bei der Angst vor Überfremdung! Zahlen sind rassistisch?
IVb) 600.000 abgelehnte Asylbewerber werden weiterhin geduldet! Wozu?
Wie soll das weitergehen?
IVc) Seit gestern schickt Bayern Kosovaren u. übrige Balkanesische -Asylbewerber per Flugzeug zurück! ENDLICH! Sollen wir uns vergiften – wo wir schon 236- 240 Esser je km² sind, d.h. die höchste Einwohner-Dichte haben in Europa, neben England u. Niederlande? Zuviel Exkremente, Dünung, Nitrate in den Abwässern!
V) Wie wärs? Erst mal die demografischen Zahlen anschauen? [Muslim. Familien 3,6- 4 Kinder, dt.-nicht-muslim. 1,1]. 4,2 Mio Muslime = 5,3 %. In heutigen Grundschulklassen sind es schon 16,6%, also das 3- fache! – – – – – – – – – – – – – – – – – –
VI-a) Nur die NPD ist, wie stets, 100 % rassistisch, aber nur, wenn`s um Juden geht! Dort, wo Islamisten Juden umbringen, ist die NPD sofort gut Freund mit den islamistischen Mördern. Bsp.:
VI-b) NPD-ler u. Rechte fuhren einst in den IRAK- Krieg, zu Sadam Hussein, um Raketen gegen ISRAEL zu schiessen (Juden ausrotten).
VI-c) Fußball- WM 2006: Die Freiburger NPD lud Ahmadinedschad (Damaliger Präs. IRAN`s ) ein, falls IRAN ins 1/8 Finale käme. Des Rätsels Lösung: es hatte ja der Ahmadi… 4 Wochen vorher der Welt verkündet, dass ISRAEL von der Landkarte gelöscht werden müsse!
VI-d) Wie das? Wo doch – wenn die NPD Überfremdungs-Ängste hat, 4,2 Mio Muslime in Dtl. mehr ein Problem sind, als die nur 120.000 Juden?
Also: reinster ideologischer Rassenhass der NPD- es geht dann nicht mehr um Zahlen bezügl. Überfremdung.
VI-e) PEGIDA u. BAGIDA: Die NPD schimpfte in ihren Publikationen, dass Stürzenberger (Die Freiheit), ein Judenfreund sei (Ja, der hat ein paar Filme in Israel gedreht, hat jederzeit Einreiserecht!
VI-f) Und sie schimpften, weil ISRAELISCHE FAHNEN bei BAGIDA am 26.1. u. 9.2.2015 in München dabei waren.
VI-g) Und sie schimpften, weil der (Linke) Club Voltaire München 1994 dabei war, erklärte Islamgegner, die obwohl LINKS, die LINKEN abwatschen!
VII) FRAGE: Gegen eine islam. zahlenmässige Überfremdung zu sein = rassistisch? 18.2.2015, A.R.
Vor zwei Tagen hat mein Sohn mich gefragt, ob ich mit ihm Schach spielen will und in diesem Zusammenhang gefragt: „Nimmst Du Schnee oder Asche?“. Für einen Moment habe ich gestockt und ihn dann gefragt, wieso er bei schwarzen und weißen Schachfiguren an Schnee und Asche denkt. Dies gab dann eine erneute Gegenfrage. Ich entschloss mich ihm nicht zu sagen, woran mich Schnee und Asche, in einem Satz gesprochen, erinnerte. Ich nahm weiß und habe wie immer verloren.
Buchstaben ergeben Wörter, Wörter Sätze, Wörter und Sätze Bilder. Wir verbinden mit Sätzen und Wörtern Bilder. Dies ist auch Teil des Kulturgutes und traditioneller Überlieferungen, deshalb haben es auch viele Kinder in der Schule schwerer, sofern sie diese nicht kennengelernt haben, da sie mehr Schwierigkeiten haben, diese Bilder zu entschlüsseln. Das hat zunächst nichts mit Intelligenz zu tun.
Gedichte sollen nicht nur gut klingen, sondern auch interpretierbar sein.
Und was den Gewaltverzicht jenseits dessen betrifft: Den, das sollte man ebenfalls bemerken, verlangt Grass nur von Israel. (Ihr Zitat)
Für mich stand hier die Frage: Welche Art von Gewalt meint er hier? Siedlungspolitik, Besatzung, Terroranschläge? Und dann spricht er auch noch vom Verursacher. Das war für mich beim Lesen des Gedichtes so nicht erkennbar. Nun hat er in dem Interview in der ARD 5.4.2012 (17-te Minute) ungefähr so gesagt: Und es kommt noch eines hinzu, was ich in dem Gedicht völlig ausgelassen habe…. Die illegale Siedlungspolitik im Westjordanland.
@EJ: Dass man als Deutscher ja die Juden und/ oder Israel nicht kritisieren dürfe, halte ich für den deutsch-antisemitischen Standardsatz. (Ihr Zitat)
Vielleicht wird es auch so empfunden, ganz ohne Antisemitismus. Da ist zum einen Selbstzensur und Unsicherheit. Nehmen wir nur den Apartheit-Vorwurf von Gabriel und welche Reaktionen dieser hervorgerufen hat. Gut, ganz neu war der Vergleich nicht und das hätte er als Politiker wissen können. Und der Vergleich mit dem Ghetto: Woher soll ich immer gleich wissen, dass es hier um einen Vergleich mit dem Warschauer Ghetto ging? Es gab vor dem 2. Weltkrieg auch andere Ghettos. So einfach ist Israelkritik dann doch nicht. Dann habe ich eine Sendung über JStreet gesehen, auch dort gab es den Vorwurf des Antisemitismus. Insgesamt ist ein sehr aufgeladenes Thema.
@EJ: aus Zeitgründen nur eine kurze Antwort zum Teilthema Abschreckung: Der Sinn der „israelischen Bombe“ besteht in der Abschreckung von Angriffen. Ich glaube, dieser Sinn ist – trotz des merkwürdigen „Rechts auf Erstschlag“ im Gedicht – auch Grass bekannt. Wenn ein Staat über solche Bomben verfügt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er durch einen Angriff „von der Landkarte vertilgt“ wird (oder wie sich Maulheld A. ausgedrückt hat) sehr gering. D.h. die Drohungen Irans werden durch die Atomwaffen Israels in der Tat depotenziert. Das mag zynisch sein, aber so ist eben die Logik der Abschreckung, die zum Bau von Atomwaffen führt.
@ KJN zu behaupten, als Deutscher per se nicht die “Erlaubnis” von “den Juden” zu haben, Israel zu kritisieren
Dass man als Deutscher ja die Juden und/ oder Israel nicht kritisieren dürfe, halte ich für den deutsch-antisemitischen Standardsatz. – Lassen wir’s beim Dissens. Grüße an den Rhein.
@EJ
„Das ist gewiss nicht völlig unmöglich, aber vom Üblichen doch sehr stark abweichend. Welchen Grund sehen Sie für diese Abweichung? Und wie wäre sie im Gedicht aufgehoben?“
Ja, ich meinte seine „Herkunft“ als Jugendlicher aus der SS. Das ist in der Tat vom gewohnten Gebrauch des Wortes „Herkunft“ abweichend und ich stolperte auch darüber, hatte das aber nur so verstehen können, daß er sich auf seine durch die Nazis verkorkste Sozialisation in seinen Jugendjahren, seiner Pubertät – durchaus selbstkritisch – bezieht, die er aber dann überwinden musste. Und dieses Schicksal erlaubte ihm bis dato nicht, Israel „angemessen“ zu kritisieren. Broders „Sündenstolz“ und eine gewisse Larmoyanz, ja, aber die Chuzpe zu behaupten, als Deutscher per se nicht die „Erlaubnis“ von „den Juden“ zu haben, Israel zu kritisieren oder vielleicht als durch die rote Armee Vertriebener besonderes sensibilisiert zu sein, was auch immer man „als Deutscher“ nicht „kann“ oder „darf“ – erscheint mir zu abwegig.
Im Gedicht aufgehoben, eingebettet sehe ich die Haltung: „Ich habe lange geschwiegen, weil ich aufgrund meiner eigenen Verstrickung Israel nicht in den Rücken fallen wollte, aber jetzt geht es nicht mehr anders – um so ernster muss man mich jetzt nehmen..“
Das ist er wohl, der Sündenstolz, der leider mit der Realität so wenig zu tun hat..
@ Roland Ziegler
Grass spricht “den Westen” […] als Gesamtheit an; er erkennt diese Gemeinschaftlichkeit also grundsätzlich an.
Ja. Das sehe ich auch so. Aber darum geht es nicht. Es geht um die Grenze des Westens. Wie interagiert der Westen mit seiner nicht-westlichen Umwelt? Deshalb habe ich George Bush in diesen Zusammenhang gebracht. George Bush ging in seiner Demokratisierungs-Ideologie davon aus, dass der Westen (potenziell) unbegrenzt ist, weil, bis auf die großmäuligen jeweiligen Machthaber, alle auf den Westen warten. Ein ganz ähnliches Bild suggeriert Grass, wenn er das iranische Volk nur als unterjochtes, in keiner Weise aber als feindliches oder auch nur schlicht „anderes“ auftauchen lässt.
Dass Grass meinen könnte, dass der iranische Machthaber durch die israelische Bombe zum bloßen Maulhelden depotenziert werde, verblüfft mich. Das wäre – je nach Vorzeichen (und abgesehen von den nicht-westlichen Atommächten) – eine entweder zynisch westliche oder antiwestliche Sicht auch auf die globalen Machtverhältnisse, die ich bisher nicht mal in den erwähnten Leser-Kommentaren der Online-Blätter gefunden habe. Die Möglichkeit zum Erstschlag, wer sie auch immer hat, würde, wen auch immer derer, die die Möglichkeit zum Erstschlag nicht haben, zu bloßen Maulhelden und Papiertigern depotenzieren … Und womit, mit welchen Konflikten, bitte, sind wir dann tagtäglich und rund um den Globus beschäftigt? Asymmetrische Kriegsführung, Irak, Afghanistan, die Niederlagen des Westens – alles bloße Chimären? Propagandalügen? Zu welchem Zweck? – Mit Verlaub: Diese Grass-Interpretation halte ich für abseitig.
So erfreulich es ist, dass wir gegen Demokratien keinen Krieg führen, haben wir doch ein kleines Problem damit, lieber Herr Ziegler, dass wir gegen feindliche Nicht-Demokratien nur in einem höchst eingeschränkten Sinne Krieg führen können. Trotz aller Erstschlags-Fähigkeit. Weil wir Demokratien sind! Deklinieren sie mal regime change durch, chirurgischen Schlag, Kollateralschaden und was dergleichen mehr Selbst- Einschränkungen des Westens sind! Das ist Grass nicht entgangen, kann ihm nicht entgangen sein. (Schauen Sie sich die Geistesgegenwart des Mannes an, der im Interview nach jeder Abschweifung auf die Interviewer-Frage unbeirrbar zuverlässig und präzise zurückkommt!)
@ kerstin: er fordert einen Verzicht auf Gewalt, dabei sagt er aber nicht explizit: Verzicht auf einen Erstschlag.
Doch, Kerstin, er fordert den Verzicht auf den Erstschlag. Indem er eine „ungehinderte permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen“ verlangt. Wie auch immer konkret vorzustellen – das ist nichts anderes als das Verlangen nach atomarer Abrüstung Israels oder, was auf’s Gleiche hinausläuft, nach Verlust Verfügungsgewalt Israels über seine Atomwaffen. Und was den Gewaltverzicht jenseits dessen betrifft: Den, das sollte man ebenfalls bemerken, verlangt Grass nur von Israel.
@ KJN
Ich glaube nicht, dass „Herkunft“ zwanglos so verstanden werden kann, wie Sie es tun. Bezogen selbst auf eine einschneidende Lebensphase wäre „Herkunft“ eine sehr abweichende Redeweise. „Herkunft“ meint üblicherweise die „angeborene Herkunft“, etwa aus „gut bürgerlichen“ oder „kleinen Verhältnissen“ oder aus einem „katholischen Elternhaus“. Sie würden dagegen auch von einer „Herkunft aus dem humanistischen Gymnasium“ oder eben von einer „Herkunft aus der SS“ sprechen, wenn ich Sie richtig verstehe. Das ist gewiss nicht völlig unmöglich, aber vom Üblichen doch sehr stark abweichend. Welchen Grund sehen Sie für diese Abweichung? Und wie wäre sie im Gedicht aufgehoben?
Allerdings bin ich über Grassens „Herkunft“ ebenfalls gestolpert. Aber ganz anders als Sie, völlig entgegengesetzt: ‚Schau dir den Lümmel an! Grass spricht hier nur als Deutscher, nur als jemand deutscher Herkunft. Dass er beteiligt war, lässt er, wie gehabt, geflissentlich unter den Tisch fallen. Links will er sein. Wenn’s ihm drauf ankommt, redet er aber so bürgerlich „repräsentativ“ wie Thomas Mann (wenn auch weit weniger gekonnt).‘
@EJ
„Dazu kann ich nicht mehr sagen, als dass ich im Gedicht keinerlei Hinweis darauf sehe, dass Grass irgendwelche Schwierigkeiten mit seiner SS-Vergangenheit und deren Verschweigen hat.“
Gucken Sie mal, Zitat Gedicht:
„Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.“
Will sagen: „Ich habe mich so lange aus Anständigkeit/Schuldgefühl zurückgehalten, weil ich in meiner Jugend einen Fehler gemacht habe, der unentschuldbar ist.“ Er verbietet sich also, frank und frei zu reden. Wenn das kein Problem ist! Warum eigentlich? Hat er mehr „Dreck am Stecken“, als öffentlich ist, was ich keineswegs unterstelle?
Günter Grass, ähnlicher Jahrgang, wie mein Vater, erschien mir immer, wie eine Art Vaterfigur, weil er – genau wie mein eigener Vater – Scheinheiligkeit angeprangert hat. Vielleicht rege ich mich deswegen über das – ja – nicht koschere Gedicht auf (das trifft’s für mich am besten), es ist einfach enttäuschend. Natürlich, Zustimmung, EJ, genauso enttäuschend, wie die Diskussion darüber, einschließlich des absolut „unplattbaren“ Antisemitismus-Vorwurfs aufgrund der SS-Mitgliedschaft auf BILD-Lettern-Niveau.
Aber irgendwie zeigt das ganze doch den Zustand der deutsch-israelischen „Freundschaft“ hierzulande – da wäre von deutscher Seite (ausnahmsweise) mal koscher zu reden, der (zu hohe?) Anspruch besteht wohl.
Aber schon recht, die „Karawane“ ist ja schon längst anderswo.
@Roland Ziegler und die geschätzten anderen Diskutanden:
Wenn Sie Zeit haben: http://www.phoenix.de/content/456911
(Was Rudolf Dressler über den Unterschied zwischen israelischen und deutschen Befindlichkeiten, hinsichtlich der empfundenen Bedrohungslage sagt.)
@EJ: Auch ich habe darüber nachgedacht, ob es sich bei Günter Grass Gedicht nicht einfach um eine linke Position handelt, die wie HMB sagt: „Sie nehmen die Vernichtung Israel … in Kauf“.
Nun gibt es ja verschiedene Möglichkeiten Antisemitismus zu beschreiben, z. B. die aus der Schwellenzeit (Religionskritik, Judenfeindlichkeit) bzw. die Arbeitsdefinition „Antisemitismus“. Dort steht: „Das Absprechen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, …“ und „Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird“ . Jedes demokratische Land nimmt für sich in Anspruch sich zu verteidigen.
Nach Grass ist der Verursacher der erkennbaren Gefahr Israel, er fordert einen Verzicht auf Gewalt, dabei sagt er aber nicht explizit: Verzicht auf einen Erstschlag.
@EJ: Es wird tatsächlich in der Israelkritik häufig so getan, als sei Israel kein westlich-demokratisches Land und hätte ein „spezifisches Problem“, das der Restwesten mit den Gegnern der Demokratie nicht hätte. Diese Sicht kann man antisemtisch nennen, zumal sie der Bedrohungslage eines „Frontstaates“ nicht entgegenkommt, sondern im Gegenteil sich distanziert, was weder solidarisch noch freundschaftlich ist. Soweit stimme ich zu. Die Demokratien sitzen in einem Boot, die Probleme von Israel mit arabischen Diktaturen sind auch unsere Probleme.
Trotzdem möchte ich zwei Dinge zu bedenken geben: Erstens weist Grass erstens explizit auf diese Verbundenheit hin und spricht „den Westen“ – also auch uns bzw. unseren Staat – als Gesamtheit an; er erkennt diese Gemeinschaftlichkeit also grundsätzlich an. Zweitens – ich hatte es bereits angesprochen – sieht er das „Maulheldentum“ nicht in der Harmlosigkeit der Iraner „an sich“ begründet – so eine „Gutmenschlichkeit“ finde ich nicht im Gedicht – , sondern durch die atomare Abschreckung Israels. Zumindest wird gesagt, dass Israels Atomwaffen eine echte Macht darstellen, die meist verschwiegen wird. Man kann folgern, dass es diese Macht ist, die für die Degradierung der iranischen Drohungen zu Maulheldentum sorgt. Man muss bedenken, dass auch eine iranische Atombombe nur dann eine echte Bedrohung Israels darstellt, wenn man von einem selbstmörderischen Wahnsinn der iranischen Führung ausgeht. Denn ansonsten bedeutet – genau wie im Kalten Krieg – ein Erstschlag Irans die eigene Auslöschung. Und zwischen selbstmörderischem Wahnsinn und Harmlosigkeit – als Erklärungsmuster für die Abwertung der Bedrohungslage durch den Iran – besteht ein nennenswerter Unterschied.
@ Roland Ziegler @ KJN
Sie, KJN, bezweifeln den angedeuteten/ behaupteten Zusammenhang. Dazu kann ich nicht mehr sagen, als dass ich im Gedicht keinerlei Hinweis darauf sehe, dass Grass irgendwelche Schwierigkeiten mit seiner SS-Vergangenheit und deren Verschweigen hat. Ich sehe stattdessen im Gedicht, dass Grass die klassisch naive(!) sozialdemokratisch linke Position formuliert: ‚An sich sind die Iraner nette, harmlose Leute, wie wir, Humanisten und (Sozial 😉 )Demokraten im Prinzip. Sie werden nur leider von einem Großmaul regiert.‘
(Selbst wenn man annimmt, dass Grass, weil ideologisch verblendet, eben leider empirie-unfähig sei (und deshalb nach mehr als 60 Jahren die Geschichte der harmlosen Deutschen vergessen habe), hätte er doch jedenfalls wissen müssen, dass das noch vor kurzem auch die verblendet ideologische Position etwa George Bushs (der 2. Amtszeit jedenfalls) und der Irak-Krieger (so etwa unseres geschätzten Vorturners (ebenfalls in der 2. Amtszeit Bushs jedenfalls)) gewesen ist. Und der hat Grass – höchstselbst – eifrig widersprochen.)
@ Roland Ziegler: Ich habe keine Ahnung, worin der doppelte Maßstab besteht bzw bestehen soll, den scheinbar APO oder andere Grass-Kritiker Grass vorwerfen und der seinen Antisemitismus begründen soll. Fragen Sie das APO. Mir geht es darum, wie Sie in Ihrem Kommentar vom 17. April 2012 um 19:25 in meinem Sinne richtig erläutern, dass Grass, als seien Israel und Iran dasselbe, an Israel und Iran denselben Maßstab anlegt bzw. anzulegen fordert.
Auch ich halte, wie gesagt, das Grass-Gedicht für antisemitisch. Das aber deswegen, weil es, als sei es ein spezifisches Problem Israels, das Gerechtigkeits- bzw. Gleichheits-Problem – und es ist eins! – nahezu ganz (dem Front- und westlichen Grenzstaat) Israel auflastet, den prinzipiellen bzw. gesamt-westlichen Charakter des von ihm angesprochenen Problems im Gedicht aber nur sehr unvermittelt und schwach andeutet. (Und die bisherige breite öffentliche Diskussion, auf flachste, biographisch orientierte Antisemitismus-Suche fixiert, belässt es dabei.Zum Kotzen!)
@Kerstin: Das habe ich mich auch gefragt. Ich glaube, Grass möchte damit auf die Wendung „die Dinge beim Namen nennen“ anspielen. Es geht in diesem Abschnitt ja nicht nur um ihn, sondern auch um die Geheimhaltung der israelischen Atomwaffen. Ihre Existenz wird offiziell nicht zugegeben, sagt er; sie werden nicht beim Namen genannt. Er, Grass, habe sich bislang im gleichen Sinn versagt, die Dinge beim Namen zu nennen, „jenes andere Land beim Namen zu nennen“, wie es an dieser Stelle heißt. Nun ist das anders geworden, jetzt versagt er sich das nicht mehr, deshalb nennt er später das Land explizit: „Israel“.
KJN: Ich meine “wir” (der Westen) kann nicht für alle eine gerechte Lösung finden, aber solange “der Westen” für chinesische, arabische, afrikanische etc. Eliten attraktiv ist und bleibt, ist nichts verloren. Das geht z.B. nicht mit Katholizismus à la Benedikt/Matussek.
… sehen Sie, werter KJN, das ist so: gäbe es nur Katholizismus – ginge alles was wahr ist.
Die Karawane ist ja weitergezogen, so dass man sich mit dem herumliegenden Müll beschäftigen kann. Dabei ist mir ein Begriff ins Auge gefallen, den Mathias Döpfner ins Spiel gebracht hatte, aber in der Debatte keinen rechten Anklang fand. Döpfner nannte Grass einen „politisch korrekten Antisemiten“. Dies geschah offenbar in der Erwartung der üblichen Frontstellung: Der „politisch korrekte Mainstream“ würde Grass verteidigen, die anderen würden ihn aus einer Minderheitsposition heraus attackieren. So war es bei Sarrazin, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Hier hat man sich getäuscht; es ist anders gekommen. Zumindest von den von mir wahrgenommenen Kommentatoren haben (außer Jakob Augstein und Rainer Burchardt) sich alle gegen Grass gerichtet. Dabei wurde seine ursprüngliche „political correctness“ zu einer „political incorrectness“. Möglicherweise wird man sich deshalb einen anderen Begriff ausdenken müssen, um die Mehrheitsmeinung zu bezeichnen.
@KJN: Zum Glück scheint es hier keine Projektmanager zu geben, sonst hätte jemanden mein Begriff Projekt (Anfang, Ende, Ressourcen) kritisieren müssen, ist mir selber erst später aufgefallen, passt so gar nicht zu Freundschaft. Ja, die Worte und ihre Bedeutung(en).
Ich hab mich beim Lesen des Gedichtes gefragt: Warum untersagt sich Grass jenes Land beim Namen zu nennen? Später im Text spricht er aber klar vom Land Israel „dem er verbunden ist und bleiben will“.
Gedichte lassen ja Interpretationsspielraum. Er meint nicht nur Israel.
Außerdem rührt er auch an der deutschen Seele, indem er von den üblichen Ausreden (Ausreden nach dem 2. Weltkrieg) spricht. Ihr könnt später nicht mehr sagen, davon habe ich nichts gewusst.
Zu doppelten Maßstäben, Fortsetzung: Der Vorwurf des doppelten Maßstabs an Grass gründet wahrscheinlich darin, dass Grass die (ursächliche) Bedrohung, die Iran für Israel darstellt, unter den Tisch fallen lässt, während er die (daraus folgende) Bedrohung, die Israel für den Iran darstellt, behauptet. Das ist zunächst mal richtig, allerdings ergibt sich daraus kein doppelter Maßstab. Denn der Grund, warum Grass die ursächliche Bedrohung nicht erwähnt, liegt darin, dass er diese Bedrohung nicht ernst nimmt bzw. abstreitet. Aus seiner Sicht ist diese Ursache Maulheldentum, keine wirkliche Bedrohung. Dabei stützt ihn das atomare Abschrechungspotential Israels, das die Umsetzung der iranischen Drohungen tatsächlich sehr unwahrscheinlich macht. Er mag sich in seinem Optimismus (was die Drohungen Irans betrifft) trotzdem täuschen – vielleicht ist Iran wahnsinig genug – aber ein doppelter Maßstab ergibt das jedenfalls nicht.
Ein zweiter Ansatz zur Begründung wird von KJN ins Spiel gebracht: Der Antisemitismus gründe darin, dass Grass Israel schade. Demnach ist antisemitisch, wer Israel Schaden zufügt. Diese Vorstellung finde ich problematisch, weil sie illiberal ist: Wir lassen normalerweise alles zu, was nicht direkt das Fundament – Pluralität, Minderheitenschutz, Demokratie – angreift. D.h. wenn man Israel als Staat (oder die Juden als Gruppe) prinzipiell deligitimiert, ist man antisemitisch, sonst aber nicht. (Viele entsprechende Äußerungen arabischer Führer sind deshalb eindeutig antisemitisch.) Wobei es möglicherweise auch auf das Ausmaß des Schadens ankommt – bei großen, bösen Schäden wäre das etwas anderes. Aber ansonsten ist die Demokratie wetterfest genug.
Wenn man das anders sieht, besteht trotzdem noch die Frage, ob denn Israel tatsächlich ein Schaden von Grass zugefügt wurde bzw. werden sollte. Er selber argumentiert ja gerade andersherum: Die Administration Israels würde dem Land Schaden zufügen; er, Grass, wolle dazu beitragen, dass dieser Schaden nicht noch größer wird. D.h. Grass behauptet, er würde im Gegenteil drohenden Schaden nicht nur vom Iran, auch von Israel abwenden. Nun mag man sagen, er würde sich irren oder das wäre vorgetäuscht. Aber ein Antisemitismus durch vorsätzliches Schädigen ergibt sich jedenfalls nicht.
@KJN
Lieber KJN,
nicht so abschätzig über die Eifel sprechen 🙂
Kennen Sie nicht den hidden champiom Thomas Drosihn und seine Tofu-Town??
Und nicht zu vergessen die :
Moderne Anstalt Rigoroser Spakker
mit den Fantastischen Vier
????
Nachtrag @EJ
„Die Frage ist: In welchen Grenzen ist Gleichbehandlung bzw. Gerechtigkeit bzw. das Handeln nach westlichen Maßstäben möglich?“
Darauf meinte ich geantwortet zu haben, vielleicht unklar der Bezug. Ich meine „wir“ (der Westen) kann nicht für alle eine gerechte Lösung finden, aber solange „der Westen“ für chinesische, arabische, afrikanische etc. Eliten attraktiv ist und bleibt, ist nichts verloren. Das geht z.B. nicht mit Katholizismus à la Benedikt/Matussek.
@EJ
Aha. Sie kennen also die Eifel aus der gleichen Perspektive, wie ich – aus der Beamtensiedlung südlich der hässlichen rheinischen Metropole blickend, in man selbst wenn die Schranken offen sind, aufgrund der Einbahnstraßen nie dort ankommt, wo man hin will, in der bereits bei 10° plus die Kännchen Kaffee draußen serviert werden und wo der magentafarbene Telefonoligarch seine Büroimmobilien mit „Campus“ bezeichnet. Gemütliche Gegend, aber manchmal muß halt ein Perspektivwechsel sein: Eifel, Israel oder so.
„Zu Grass: Mir kommt es darauf an, mit welcher möglichen (Hebel-)Wirkung Grass sich äußert.“ Er setzt bei Israel den Hebel an und meint den Westen? Glaube ich nicht. (Aufgrund meiner „privatistischen“ Erwägungen.) Aber tun wir so, als meinte er es so, um der tieferen Erkenntnis willen:
„Das Gleichheits- bzw. Gerechtigkeitsargument ist so außerordentlich stark, übrigens: zu unserem Glück auch so außerordentlich stark, das man sich dem entweder stellen muss oder – schon verloren hat.“
Gleichheit, Gerechtigkeit! Von Deutschland aus befinden, was im Nahen Osten (nehmen wir bitte noch Darfour, Tibet, Syrien dazu) gerecht ist? Sie haben recht: Innen und Außenmoral des Westens!! – So ist das Gedicht, selbst wenn es nicht antisemitisch ist, mindestens scheinheilig. Unser Pazifismus in einer Komfortzone, gegründet auf atomarer Abschreckung und wirtschaftlicher Ausbeutung der 3. Welt erscheint mir insgesamt zunehmend scheinheilig.
Moralische Rechtfertigung für den Machtanspruch des Westens ist aber nur dann möglich, wenn sich auch seine Menschenrechte weiter entwickeln; insgesamt scheint ja das Modell Aufklärung – Individualismus dem menschlichen Organismus gut zu tun, wenn man die Entwicklung des durchschnittlichen Lebensalters betrachtet, und (noch?) eine hohe Anziehungskraft auch auf andere Kulturkreise zu besitzen.
Aber wir geraten unter Zugzwang: Wenn wir weiterhin meinen, wir könnte mit dem nicht aufklärerisch-indvidualistischen China (z.B.) in der Produktion (niedrige Löhne etc.) etc. konkurrieren, verspielen wir unsere eigenen Errungenschaften und damit meine ich nicht nur den materiellen Komfort sondern vor allem den Grad der persönlichen Freiheit.
Das hat auch mit dem „Salonkatholizismus“ (A. Posener) und dem leichtfertigen Aufgeben bisheriger intellektueller Errungenschaften zu tun, wo ich morgen (vielleicht) fortsetze (s’ist spät..).
@Kerstin
Ja,es gab wohl erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland und die Deutsch-Israelische Freundschaft ist ein Eliteprojekt und vielleicht hat es sie nie gegeben, wie Prof. Wolfssohn meinte. Immerhin sind in den 60er, 70er und 80er Jahren viele noch nach Israel für 1 Jahr gegangen (Aktion Sühnezeichen, Arbeit im Kibbuz) und dabei sind viele persönliche Beziehungen geknüpft worden, manche sind auch ganz da geblieben.
Zu doppelten Maßstäben: EJ, Sie sehen in der „Heuchelei des Westens“ im Gedicht die Kritik an einer ungleichen Bewertung von Iran und Israel. Dies ist der eine doppelte Maßstab, um den es geht. Herr Posener entdeckt einen anderen doppelten Maßstab bei Grass; dieser doppelte Maßstab ist in gewisser Weise ein Spiegelbild des ersten. Posener schließt aus diesem doppelten Maßstab auf den Antisemitismus von Grass. (Ein etwas mühsamer Nachweis, aber ein direkterer – nämlich durch den Nachweis der Diffamierung von Juden oder des Absprechens der Existenzberechtigung des jüdischen Staates – geht es wohl nicht.)
Jedenfalls: Beide Parteien – Grass und die Grasskritiker – attestieren dem jeweils anderen einen doppelten Maßstab, und niemand macht sich leider die Mühe darzulegen, was denn das jeweils genau für doppelte Maßstäbe sein sollen, worin genau sie bestehen.
Der Vorwurf der Grasskritiker, dass Grass einen doppelten Maßstab anlegen würde, der ihn zum Antisemiten stempelt, ist mir nicht so klar (beschämend für mich, aber vielleicht kann mir jemand diesen scheinbar selbstverständlichen Vorwurf genauer erklären?). Es muss irgendwie mit der Umkehrung von Ursache und Wirkung im Gedicht zu tun haben, vermute ich, die man offenbar nicht „velwechern“ darf.
Grass‘ spiegelbildlicher Vorwurf an den Westen, einen doppelten Maßstab anzulegen und insofern zu „heucheln“, scheint mir dagegen klar verständlich. Er besteht in der Tatsache, dass der Westen die Atomwaffen von Israel anders bewertet als die – noch nicht vorhandenen – Atomwaffen des Iran. Israel dienen sie zum Schutz und zur Abschreckung von Angriffen, dem Iran sind sie Mittel zur Machtexpansion und -sicherung. Die Frage ist, ob diese Bewertung angemessen ist. Wenn ja, gibt es keinen doppelten Maßstab beim Westen und keine Heuchelei. Ich glaube, dass die Bewertung zutrifft, der Vorwurf von Grass also zurückzuweisen ist. Israel wird nachweislich bedroht und würde unbedroht keine Gefahr für den Iran darstellen. Umgekehrt würde Iran, auch unbedroht, trotzdem eine Gefahr für Israel darstellen. Wenn man dem folgt, gibt es keinen doppelten Maßstab und also auch keine Heuchelei.
Es ist natürlich klar, dass diese Bewertung nicht nur für Iran, sondern für viele andere nicht oder nur schwer akzeptabel ist, denn im Klartext bedeutet das die Aussage: „Ihr seid die Bösen, die uns bedrohen; wir sind die Guten, die bedroht werden, und deshalb dürfen wir solche Waffen haben und ihr nicht.“ Jedenfalls ist der Iran in der Pflicht, der Öffentlichkeit glaubhaft zu beweisen, dass von ihm für Israel keine Gefahr ausgeht. Davon ist das Land in seinen Verlautbarungen weit entfernt.
Doofe haben nur eine Chance, die Dinge, für die sie zu doof sind, doch noch irgendwie zu verstehen: Sie legen eine Magie zugrunde. Mutter Natur oder finstere Mächte, selbstgemachte Götter. So entstehen alle Religionen. Statt Physik gibt es Metaphysik. Religion ist Magisierung des Lebens.
Magien sind allzu menschliche Erfindungen, die sich zur Beherrschern des Menschen verselbständigen. Fetischismus nennt man das. Aber gemach, hier soll nicht gegen Religiöses gehetzt werden. Im Gegenteil. Aber es geschieht ja Ungeheuerliches: Korane werden verteilt.
In der Fußgängerzone, dem deutschesten aller deutschen Orte, werden diese Bücher verschenkt. Und die Herrschaften, die dort agieren, sind Salafisten. Ich habe keine Ahnung, was Salafisten sind, und will es auch nicht wissen. Die allgemeine Aufregung ist unangebracht. Ich bitte um Entspannung.
Ist das zu sorglos? Sollten wir die bösen Bücher nicht verbannen? Hallo? Man soll alles lesen können, so man lesen kann. Aber der Verfassungsschutz warnt doch, dies sei Propaganda. Das sind die beamteten Schlafmützen, die das Nazi-Bafög erfunden haben und braune Mörderbanden über Jahre agieren ließen. Die sollten ihren wirklichen Job machen und sich nicht als Reichsschrifttumskammer gerieren.
An der Straßenecke steht ein älterer Herr, der hält ein Blättchen hoch, auf dem „Wachturm“ steht. Er möchte ausweislich seiner Headline, dass ich erwache. Aha. Ich habe keine Ahnung, was die Zeugen Jehovas sind, und will es auch nicht wissen. In meinem Kiez suchen sie die Türschilder nach italienischen Namen ab und klingeln dann. Es gibt eben auch italienische Zeugen Jehovas. Es interessiert mich nicht.
An bestimmten christlichen Feiertagen gibt es, kein Scherz, Tanzverbot. Ich bin aus dem Alter, in dem ich nach Tanzvergnügen strebe. Und als ich in dem Alter war, war es mir völlig egal, was Kirchen darüber dachten, wann und wie ich abrockte. Wir haben uns damals darüber amüsiert, dass in der DDR „auseinandertanzen“ verboten war. Weder Staat noch Kirchen entschieden über’s Tanzen. Oder die Art der Drogen.
Zu jener Zeit agierte in Albanien ein kommunistischer Diktator namens Enver Hoxha, der alle Kirchen und Moscheen schleifen ließ, weil er einen atheistischen Staat wollte. Man kann das Anti-Klerikale eben auch bis zum Gegenteil der Befreiung treiben, der Unfreiheit einer bösen Diktatur. Bildersturm unter Marx, Engels und Lenin. Das fanden wir schon damals bescheuert.
Im Spätkauf in meinem Kiez trägt die Tochter des Besitzers seit neuerem Kopftuch. Eigentlich ist mir das egal, weil ich Zeitungen und Zigaretten will und keine religiöse Debatte. Weil ich aber den Verdacht habe, dass dies ein Diskriminierungsmerkmal für Frauen ist und sie es nicht freiwillig tut, kaufe ich da nicht mehr. Geschäfte unter vorsätzlicher Menschenrechtsverletzung behagen mir nicht.
Zu den großen Errungenschaften der Moderne gehört, dass Staat und Kirche getrennt sind. Unser gesellschaftliches Leben wird nur durch Recht und Gesetz beschränkt. Und ansonsten durch nichts. Wir kennen keine Staatsreligion. Und der Glaube, das Bekenntnis sind Privatangelegenheit. Säkularisierung heißt das, und es ist klasse.
Religionsfreiheit ist eben nicht die Freiheit einer Religion, von jedermann zu verlangen, was ihre Vorstellungen für erstrebenswert halten. Und zur Not die Menschen mit einem Bannstrahl zu strafen oder zu steinigen. Religionsfreiheit ist die Freiheit von Religionen. Sie sind Privatsache, aber nicht Sache des Staates.
Deshalb ist es falsch, dass der deutsche Staat für die Kirchen die Mitgliedsbeiträge als Steuer eintreibt. Deshalb ist es ein Witz, dass Kirchen in Kindergärten, in denen sie gerade mal 10 Prozent der Kosten tragen, Tendenzbetriebe sehen, in denen sie die eigene verlogene Sittenlehre über das Arbeitsrecht stellen. Deswegen gehört das Verkaufsverbot an Sonntagen aufgehoben.
Dass die islamischen Vorstellungen von Gottesstaaten vormodern sind, Tarnungen von totalitären Regimen und menschenverachtenden Mächten, ist damit gesagt. Zugleich ist der Papst in seine Schranken verwiesen. Und der Protestant, auch wenn er bei uns Kanzlerin und Präsident ist.
Jeder darf nach seiner Fasson selig werden. Dieser preußische Grundsatz sagt vor allem: Selig werden, das ist kein Staatsakt. Sondern eine Privatsache. Daraus erklärt sich eine gewisse Zurückhaltung, die den Religionen in modernen Gesellschaften aufzuerlegen ist. Ganz entspannt, aber eben auch ganz entschieden.
Und wenn in Moscheen gegen Recht und Gesetz verstoßen wird, dann ist das eine Frage von Recht und Gesetz, ungeachtet der Tatsache, ob es Kathedralen, Moscheen oder Parteizentralen sind, in denen der Rechtsbruch stattfindet. Volle Härte des Gesetzes, kein Freibrief für die Mullah-Magie.
Mit der Freiheit von der Religion steht diese nicht mehr als Kriegsgrund zur Verfügung. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Und dann kann ich mich dem moralischen Gesetz in mir widmen, eine wichtige private Tätigkeit. Dabei will ich für mich, dass die Maxime meines Handelns zugleich Grundsatz einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte. So wird das Moralische politisch. Nur so.
Gute Frage, EJ: „Wie behandele ich nach westlichen Maßstäben jemanden, der mir an den Kragen will?“ – Ich würde sagen, ich gehe ihm nicht als Erster prophylaktisch an den Kragen, sondern versuche, ihn aus der Position des Stärkeren heraus zu isolieren, zur Not so lange, bis er zusammenbricht. Die stärkste Position ist das Netz, das man nur zusammen mit anderen bilden kann, mit dem man dann den Stier bei den Hörnern packen kann, bis er Federn lässt 😉
@ Kerstin
Den „asymmetrischen Gegenbegriff“ hat Reinhart Koselleck „erfunden“.
Wenn ich den Westen als „asymmetrischen Gegenbegriff“ verstehe, kritisiere ich damit implizit die Überheblichkeit des Westens, den Stolz auf seine (technische und moralische) Überlegenheit – einerseits. Ich standardisiere, normalisiere und relativiere solches Verhalten andererseits aber auch: als kein ganz untypisches Gruppenverhalten (weit über den Westen hinaus). Heißt: Ich will damit nur eine kleine Schneise schlagen, der entlang man in die Diskussion einsteigen könnte.
@ Waldschrat
Die Eifel, nebenbei, habe ich in bester Erinnerung. Wenn nicht das Siebengebirge für einen Nachmittags- oder Abendspaziergang, dann war über viele Jahre von Bonn aus die Eifel das Ziel für Tageswanderungen bzw. Tagesausflüge. „Dunkel“, übrigens, assoziiere ich mit der Eifel, weil ich dort, es muss in den 70ern gewesen sein, zu meiner großen Überraschung auf einen Köhler getroffen bin – den letzten seiner Art, wie er sagte.
Zu Grass: Mir kommt es darauf an, mit welcher möglichen (Hebel-)Wirkung Grass sich äußert. Mir greift die „privatistische“ Erklärung zu kurz. Im Prinzip ist mir gleichgültig, ob sich da einer für (individuelle und/ oder kollektive) Scham und Schande schadlos zu halten versucht und/oder im Alter den Nazi wieder hervorkramt usw. (Nebenbei: Sein Gedicht gleicht – bis in die radebrechende Sprache hinein – auffällig den Leser-Kommentaren zu Israel bzw. Israel/Iran, wie sie in Massen in den Online-Gazetten zu finden sind.) Mir geht es darum, mit welchen Argumenten jemand das tut. Wie ernst zu nehmend, wie zugkräftig, wie potenziell wirksam sind seine Argumente?
Die Kritik, die Grass an der scheinbaren oder tatsächlichen Ungleichbehandlung von Iran und Israel übt, halte ich für außerordentlich stark. Sie ist Wasser auf die Mühlen aller Antisemiten. So stark kann sie aber nur deswegen sein, weil sie einen zentralen Punkt des westlichen Selbstverständnisses trifft. Anders gesagt: Es hilft nicht (und mag es noch so zutreffend sein), Grass als irgendwie privat motiviert zu entlarven. Das Gleichheits- bzw. Gerechtigkeitsargument ist so außerordentlich stark, übrigens: zu unserem Glück auch so außerordentlich stark, das man sich dem entweder stellen muss oder – schon verloren hat.
Im Augenblick, scheint mir, sind die Grass-Interpreten auf der deutlich Verliererseite. „GraSS = Antisemitismus“ ist ein nur sehr schwaches Argument. Es wird allenfalls einige Leute davon abhalten – „Im Grunde hat er ja Recht, der Mann! – sich öffentlich zu ihm zu bekennen.
Der Stier ist bei den Hörnern zu packen! Auch – Bildbruch! – wenn wir dabei alle (vermutlich: alle!) Federn lassen werden. Die Frage ist: In welchen Grenzen ist Gleichbehandlung bzw. Gerechtigkeit bzw. das Handeln nach westlichen Maßstäben möglich? Sind sie auch über den Westen hinaus möglich? Oder setzen sie den Westen bzw. ein nach westlichen Maßstäben handelndes Gegenüber voraus? Wie behandele ich jemanden als gleich, der mir nicht gleich sein will, z.B. nicht gleich sein will, weil er sich mir überlegen fühlt oder mir überlegen ist? Wie behandele ich nach westlichen Maßstäben jemanden, der mir an den Kragen will? Usw. usf.
Unsere Kommentatoren und Feuilletonisten, unsere gestandenen Publizisten, so lange es sie noch gibt, müssen sich ein bisschen anstrengen! Wenn auch (noch) nicht allerorten gleichermaßen dramatisch: „Israel“ ist überall. Der Westen stößt überall an seine Grenzen, innen und außen. Der Gegenbegriff – vgl. oben, @ Kerstin – stößt auf Gegenbegriffe.
@ EJ
Sagen Sie, wendet „er“ diese „Verhaltensnorm“ gegen die „innen“ denn an?
@KJN: Die Geschichte des jüdischen Volks und Deutschland ist nun mal – eben nicht “nur” durch den Holocaust miteinander eng verbunden, was aber offensichtlich vielen (vielleicht auch auf israelischer Seite) zunehmend lästig wird. Das Ende der Deutsch-Israelischen Freundschaft scheint also gekommen [1] und – ehrlich gesagt – das gefällt mir gar nicht. (Ihr Zitat)
Haben Sie gehört, was Herrn Wolffsohn am Sonntag zur Deutsch-Israelischen Freundschaft gesagt hat? Persönlich sehe ich es nicht so schwarz, wie es Herr Yoav Sapir in dem von Ihnen eingestellten Artikel beschrieben hat. Allerdings will ich doch einige Dinge zu bedenken geben. Die Deutsch-Israelischen Freundschaft war ein westdeutsches Projekt. In der DDR hatten wir die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft und gute Beziehungen zu den arabischen Ländern. Zusätzlich hatten wir ein anderes Geschichtsbild. Darin sehe ich im Übrigen auch einige der heutigen Probleme, ohne der DDR hier ausschließlich die Schuld zuschieben zu wollen, ich denke dabei auch an den Kalten Krieg.
Ich hatte hier auch versucht, am Beispiel des Buches „Deutschland schafft sich ab“ zu zeigen, dass hier große Unterschiede in der Entwicklung innerhalb der getrennten 40 Jahre bestanden. Nicht jede Neuerung nach der Wende z. B. in der Bildung war sehr erfolgreich. Im Übrigen wollte ich mit dem „Angriff auf den Sozialstaat“ auch ein bisschen provozieren, also das 7, 8 .. 14-te Kind ohne ordentlichen Einstieg in die Schule und mit mangelhaften Zukunftsaussichten ist mir auch nicht recht, denn auch unsere Familie bezahlt Steuern.
Noch immer will ich an die ungezwungene Freude der Weltmeisterschaft 2006 glauben.
Hm .. hm.. auch EJs „Gedichte“ muß man zweimal lesen, besonders, wenn man Waldschrat ist. Aber ja: Soll der Westen kritisiert werden, stolpert man als erstes über Israel. Und die Reaktion hat Günter Grass vorausgesehen, bzw. voraussehen können, vielleicht einkalkuliert. Was geht wohl in einem ab, der – wenn auch als Jugendlicher – bei der SS war und fast sein ganzes Leben dies verheimlicht, eher aus Scham, als aus Karrieregründen als Kritiker der deutschen Scheinheiligkeit. Vielleicht entsteht so sekundärer Antsemitismus (die Diskussion schadet Israel), aber das war ihm wohl egal, denn ich vermute es ging um ihn selber, um mit sich selber klar zu kommen. Ein Narziss, der sich mit Hilfe dieser Provokation zu diesem Zweck in der Gesellschaft spiegelt. Eine Art Tierversuch an der deutschen und/oder jüdischen Gesellschaft, um Reaktionen zu testen. Ich glaube, alte Männer neigen zu sowas (s. z.B. Martin Walser).
EJ: Meinen Sie dieses? In wikipedia steht: Kosellecks Ansatz zur Begriffsgeschichte hat den Bedeutungswandel von Ausdrücken zum Inhalt, damit soll die Wirklichkeitserfahrung vergangener Epochen herausgestellt werden. Da dieser Wandel um 1800 aufgrund politischer und industrieller Revolutionen besonders groß war, prägte Koselleck den Begriff der Sattelzeit für den Zeitraum von circa 1750 bis 1850. Alte Worte haben demnach neuen Sinngehalt gewonnen, sodass sie heute keiner Übersetzung mehr bedürfen. Synonym dazu wird der Begriff der Schwellenzeit verwendet.
Diese Bedeutungswandel kann man eventuell für den Begriff Westen genauso feststellen, wie für den Begriff Antisemitismus. Ich hatte hier mal über das Buch Pojaz von Emil Franzos geschrieben und gefragt, ist dies antisemitisch wenn man Kritik an der Religion bzw. bestimmter Lebensweisen übt? Nach der Arbeitsdefinition „Antisemitismus“ wäre dies nicht so. Oder? Wenn ich den Begriff der Schwellenzeit benutze aber doch. Zu mindestens wurde dies im Nachwort zum Pojaz so angedeutet.