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Friedensbewegte Scheuklappen gegen den Anblick hässlicher Wahrheiten: Afghanistan und die Abzugsperspektive

Das TIME-Magazine, seit jeher gerühmt für seine eindrucksvollen Titelbilder, macht dieser Tage mit einem wirklich erschütternden Foto auf. Ein junges afghanisches Mädchen, bildhübsch und gerade erst 18 Jahre alt. Doch etwas entstellt ihr Gesicht; wo sich normalerweise die Nase befinden sollte, klafft ein ausgefranstes Loch, Folge eines raschen Schnittes mit unsterilem Schneidwerkzeug.

Trüge sie nicht einen Kopfschleier, so böte sich dem Betrachter an der Stelle ihrer Ohren ein ähnliches Bild. Die junge Dame hatte es, so erfährt man, gewagt, ihren prügelnden Ehemann und seine nicht minder gewalttätige Familie zu verlassen. Dafür verurteilte sie ein Kommandeur der lokalen Taliban zu dieser Strafe.

Plötzlich haben ideologisch äußerst sattelfeste Menschen allerorten gewaltig Schaum vor dem Mund. Was ist der Anlass dafür?

Eigentlich eine Kleinigkeit: Es handelt sich um die Überschrift, mit der die Redakteure das Bild versehen haben: „What happens if we leave Afghanistan“. Die Konsequenzen eines Rückzugs, kurz und prägnant in einem Bild.

In der Folge bricht ein Sturm der Entrüstung los, von kriegslüsterner Gräuelpropaganda ist da zu lesen, wackere Onlinekommentatoren urteilen vom heimischen Rechner aus, dass dieses Bild nichts mit afghanischer Realität zu tun habe, von der verwerflichen Instrumentalisierung menschlichen Leids ist da zu lesen.

Und überhaupt: dieses Geschehen habe schließlich erst 2009 stattgefunden, acht Jahre nach dem Einmarsch der westlichen Koalitionstruppen.

Ein geschlossenes Weltbild ist seit jeher eine feine Sache. Es gibt die Guten, es gibt die Bösen, dazwischen gibt es meistens nichts. Ackermann ist furchtbar böse, Eisbär Knut ein zahmer Umweltkämpfer und George W. Bush ein Schimpanse.

Ein geschlossenes Weltbild macht glücklich und erfolgreich, mediale Popularität generiert sich eben leichter ohne große Selbstreflexionen. Da darf dann eine Sahra Wagenknecht allwöchentlich ihre wirtschaftspolitischen Überzeugungen von Vorvorgestern unters Volk bringen, da gestattet man es einer Alice Schwarzer, geifernd zu präjudizieren und journalistische Kolleginnen, die es gewagt haben, Grautöne zu sehen, mit Tiernamen zu belegen.

Ein geschlossenes Weltbild sichert auch Minoritäten Dominanz, wie verquer ein Argument auch sein mag, oft und laut genug herausgerufen, bringt es den Gegner schon zur Ruhe. Schweigespirale nannte das die kürzliche verstorbene Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann einst. Was man auch sonst von der Dame halten mag, hier hatte sie wohl leider recht, die alltägliche Beobachtung einschlägiger Medien und Foren legt diesen Schluss zumindest nahe.

Immer schon hatten die glücklichen Inhaber einer festen Weltsicht ihre lieben Beschäftigungsobjekte, sei es Israel (furchtbar böse), Windkraft (ziemlich super) oder Einwanderung (klasse, aber bitte doch wohl nicht im eigenen Stadtviertel). Seit einigen Jahren steht nun auch der Militäreinsatz am Hindukusch auf der Agenda.

Kaum war der erste Schock des 11. Septembers verflogen, brandete die neue Pazifismuswelle auf. Rumsfeld und Cheney wurden zu Industriemarionetten erklärt, die PACE-Fahne flatterte fortan fröhlich am Balkon der sündteuren Altbauwohnung und ein verschmitztes ‚Soldaten sind Mörder’-Schildchen blitzte in manchem handgefertigten Kirschholzbücherregal auf.

Die Veröffentlichung der geheimen US-Papiere auf der Plattform Wikileaks wurde für viele dieser überaus engagierten Menschen dann zu einem ganz persönlichen Woodstock-Erlebnis: Die hässliche Fratze der militärischen Großmacht, endlich war sie demaskiert. Ein edles und friedliebendes Bergvolk, seit Jahren unter dem Joch einer menschenverachtenden Besatzungstruppe, hatte man es nicht schon immer gewusst?

Und dann erst die Enthüllenden: gewitzte junge Männer, die digitale Bohème, hier als siegreicher David gegen den verachteten Goliath.

Alles hätte so schön sein können, bis dann dieser Tage diese unselige Zeitschrift erschien.

Verstümmelungen im Afghanistan des Jahres 2009, acht Jahre nach Kriegsbeginn, als Argument gegen einen raschen Abzug der Koalitionstruppen? Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Und überhaupt, haben die das Geschehen etwa verhindert?

Im stillen Kämmerlein (wir erinnern uns, die Schweigespirale und die Dominanz lauter und aggressiver Meinungen…) mag sich manch einer ob dieses zutiefst schwachsinnigen Argumentes wundern: Sind in Deutschland begangene Verbrechen ein Grund zur Abschaffung der Polizei? Weil die Koalitionstruppen (die immerhin medizinische Versorgung und Bildung für Frauen erst wieder möglich gemacht haben) hier nichts tun konnten, wäre es besser, sie abzuziehen? Wohl dem, in dessen Weltbild dies Sinn ergibt.

Natürlich ist es nicht kommod, sich mit den deutlich sichtbaren Ergebnissen der Taliban-Jurisprudenz beschäftigen zu müssen. Viel schöner klingen da doch die Worte des salbungsvollen Politpredigers Barack Obama, der dereinst den ‚moderaten Taliban’ als willkommenen Gesprächspartner erfand (immer noch im stillen Kämmerlein könnte man sich nun fragen, was eigentlich ein moderater Taliban ist: Ein zärtlicher Vergewaltiger? Einer, der nach der Strafe ein Pflaster für die Nase spendiert? Sei’s drum…). Doch die Realität orientiert sich eben nur höchst selten an der Wunschvorstellung des Einzelnen, selbst wenn er zur dominanten Gruppe der Gefestigten gehört.

Wenn wie hier der Mensch des Menschen Wolf wird, wenn indigene oder ( wie im Fall der meisten Taliban) nicht-indigene Bevölkerungsgruppen Frauen zu Bestandteilen des Sachenrechts erklären, dann ist die starke Hand des Staates gefordert, der regelnde und strafende Leviathan, der den Gewaltverzicht notfalls auch gewaltsam durchsetzt. Wenn wie im Falle Afghanistans nun aber der eigentlich zuständige Staat verlässlich zwischen Kalifat und Kleptokratie pendelt, dann wird externes Eingreifen zur Pflicht, im Interesse der Sicherheit, im Interesse der elementaren Menschenrechte.

Mag die Moralistenposition hinter der Friedensfahne auch noch so angenehm sein, mag das feste Weltbild mit dem amerikanischen Aggressor als verlässlichem Hauptfeind auch noch soviel soziale Akzeptanz mit sich bringen, hier ist beides schlicht fehl am Platze. Der Weg zu einem vermeintlichen Frieden wird zunehmend mit engsten Scheuklappen beschritten. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind Anstand, Moral und Menschenrechte – und nicht zuletzt auch gepeinigte afghanische Mädchen.

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6 Gedanken zu “Friedensbewegte Scheuklappen gegen den Anblick hässlicher Wahrheiten: Afghanistan und die Abzugsperspektive;”

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    Gutmenschen wollen unbedingt helfen.
    Doch wie hilft man am besten?
    Mit Krieg?
    Was hat der Krieg von den Russen den Afganen gebracht?
    Was der Krieg von den Amis und allen europäischen Besatzern gebracht?
    Viel Geld verschossen ,viel Menschenleben in den Tod geschickt,keine diplomatischen Ausrichtungen mehr!
    Wir zahlen einen korrupten Politiker samt die Taliban dazu!
    Nun kommt man mit seltsamen Argumenten von Einzelpersonen die Mitleid erwecken?
    Wer hat ein Rezept für ein Land das so anders ist als ganz Europa?
    Krieg soll helfen?
    Dann können sie auch sagen eine Flut wie zur Zeit kann auch helfen?
    Wir müßen aus Afganistan heraus.
    Karsai muß es selber leisten.
    Er sitzt im Sattel und stützt nur sich selber!
    Mit Geld vom Ausland.

  2. avatar

    O.K., Herr Kocks! Sehr interessant! Aber wir sollten vielleicht doch nicht bei (ansonsten allzu billiger) Moral stehen bleiben.

    Auf welchen zeitlichen und geographischen Raum kalkulieren Sie den von Ihnen angestrebten menschenrechtlichen Kolonialismus? Auf 50 oder 100 oder mehr Jahre? Und nur auf Afghanistan? Oder auf die gesamte muslimische Welt? Oder wollen Sie beispielsweise auch auf China und die Zerfallsprodukte der Sowjetunion menschenrechtlich zugreifen. Und wie steht es etwa mit Indien, Demokratie zwar, aber mit deutlichem Frauenbefreiungsbedarf? Usw. usf. Und wenn schon die Methode klar ist – auf der Basis welcher (materiellen) Ressourcen wollen Sie die starke Hand des Staates [bzw. den] regelnde[n] und strafende[n] Leviathan, der den Gewaltverzicht notfalls auch gewaltsam durchsetzt denn „außerhalb“ etablieren?

    Ohne (politische) Praxis sind Anstand, Moral und Menschenrechte eher nichts. Oder? Gewiss wollten Sie vor einer – unlösbaren? – Aufgabe nicht nur (billig) auf der (dennoch) „richtigen“ Seite stehen.

    Man darbt, Herr Kocks, moralisch und intellektuell: Fische <= Butter!

  3. avatar

    Natuerlich wird die USA, und werden seine „Hilfstruppen“ fuer ewig in Afghanistan (und Teilen von Zentralasien) fuer die „security“ sorgen! Die USA ist gerade dabei die Umkreisung Chinas in Ostasien zu vervollstaendigen (sogar mit Vietnam!). Und in Osteuropa – Kaukasus die Umkreisung Russlands. Da muss die NATO doch auch in Afghanistan-Zentralasien fuer ewig dabei sein! In Lateinamerika wird die „Hemispheric Security Partnership“ immer weiter entwickelt – jetzt nach den sieben neuen U.S.Stuetzpunkten in Kolumbien, die Stationierung der U.S Marines in Costa Rica, die neue 4th U.S Fleet (vorher aufgeloest 1948) steht bei den Niederland-Antillen. Der Brite wird fuer die U.S. eine neue „airbase“ in St. Helena bauen – zwischen dem Atlantikoel von Brasilien und Angola. In der Sahara-Sahel Region – die U.S. „loest“ die Franzosen ab, aus ihrer „Zone“. Die Notwendigkeit fuer die „U.S. security partnership“ ist manigfaltig: Frauenrechte, Umweltschutz, Verteidigungsvertraege, Terrorismus, Drogen, Informationsfreiheit, Autonomiebestrebungen… — Aber in Deutschland sind die 56,000 nur weil es so „gemuetlich“ ist! Sit back, relax, enjoy the game!

  4. avatar

    „…DIE ZEIT: Sie erkennen darin alte deutsche Muster?
    Joachim Fest: Es ist die deutsche Realitätsverneinung. Ich wollte immer ein Buch schreiben zu der These, wonach die gesamte deutsche Politik des 20. Jahrhunderts an Realitätsblindheit gescheitert ist…“
    http://www.zeit.de/2004/42/Titel_2fFest_42

    Joachim Fest hat dieses deutsche Denk- und Wahrnehmungsproblem klar erkannt. Seit diesem Zeit-Interview hat sich leider nichts geändert. Im Gegenteil…

  5. avatar

    Hallo Herr Kocks,

    vielen Dank für Ihren Artikel. Ich glaube es gibt kaum ein Thema, an dem sich demokratische Gesellschaften mehr aufreiben können, als an der Legitimierung militärischen Handelns. Und ich glaube auch, dass kaum eine Gesellschaft wie die demokratische militärisches Handeln uber kurz oder lang zum scheitern verurteilt. Die Frage bleibt, ob das im Interesse einer solchen sein kann…

    Für den an Afghanistan interessierten Leser darf ich dieses Interview mit dem Jornalisten Jere van Dyke empfehlen – http://bigthink.com/ideas/21564 – der sich in dieser Region bestens auskennt. Zu seiner Person:
    Jere Van Dyk is a journalist and author who has focused much of his writing on Afghanistan and Pakistan. In the early 1980s, working as a correspondent for The New York Times, Van Dyk lived with the mujahideen in Afghanistan as they fought against the Soviet Army, an experience that was recapped in his Pulitzer Prize-nominated articles. 20 years later, he returned to Afghanistan to report on the U.S.-led war, only to be captured and held by the Taliban for 45 days in 2008. This harrowing experience, as well as his insights into this „pointless“ war, are detailed in his new book „Captive: My Time as a Prisoner of the Taliban.“ He is currently a consultant on Afghanistan, Pakistan, and al-Qaeda for CBS News.

    Gruß an die starken Meinungen

    Roland

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