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Wie eine Schule ihre Seele preisgibt

Im Sommer 1922 gründete der junge Berliner Gymnasiallehrer Wilhelm Blume auf der Insel Scharfenberg eine Schule. Des rigiden Paukbetriebes an den Berliner Stadtschulen überdrüssig,  suchte er nach einer Möglichkeit, einen neuen Umgang zwischen Lehrern und Schülern zu erproben.

Es war die Spätzeit der Reformpädagogik. Wichtige Schulen, die sich dieser pädagogischen Strömung verpflichtet fühlten, waren bereits gegründet worden: die  Landerziehungsheime in Ilsenburg (Harz), Haubinda (Thüringen) und Bieberstein (Rhön) durch Hermann Lietz, die Freie Schulgemeinde Wickersdorf durch Gustav Wyneken und die Odenwaldschule durch Paul Geheeb.  Die Pädagogik an diesen Schulen wollte die „Verkopfung“ des Unterrichts durchbrechen und das Lernen mit „Herz, Kopf und Hand“ ermöglichen. Deshalb spielten  die künstlerische Betätigung und die handwerkliche Ausbildung eine große Rolle. Beides war auf der Insel Scharfenberg in besonders idealer Weise möglich. Es gab Werkstätten  (Innungen), die die Schüler nach dem vormittäglichen Unterricht besuchen mussten. Und die Open-Air-Theateraufführungen  waren Gesamtkunstwerke, an denen  die ganze Inselgemeinschaft mitwirkte. Das ganzheitliche Lernen  fand seine Ergänzung in einer sehr weit gehenden Schülerselbstverwaltung. Zeitgenossen, die diese Form unmittelbarer Demokratie erlebt haben, sprachen bewundernd von einer „radikaldemokratischen Inselrepublik“. Dieses intensive Gemeinschaftsleben, das sich durch gemeinsame Arbeit und durch die demokratischen Entscheidungsprozesse herstellte, war der typische Geist von Scharfenberg.  Die Identifikation mit der Inselschule war hoch. „Einmal Scharfenberger –  immer Scharfenberger“ war das Motto, mit dem viele Schüler wehmütig Abschied von ihrer geliebten Insel nahmen.

Die  heutige Schulfarm Scharfenberg  hat mit der damaligen Reformschule nur noch wenig gemein. Damals war es eine reine Internatsschule. Externe Schüler gab es nicht. Heute ist die Schule ein Ganztags-Gymnasium, das überwiegend von Schülern der umliegenden Wohnbezirke besucht wird, die die Insel nach dem Unterricht wieder verlassen. Die Innungen sind geschlossen. Einige führen nur noch als Arbeitsgemeinschaften ein Randdasein.  Das Internat wurde von der Schule getrennt und an einen privaten Träger übergeben. Die Lehrer unterrichten nur noch in der Schule,  das  gemeinschaftsbildende Leben im Internat bleibt ihnen fremd. Diese Umgestaltung hat die Schule vor der Schließung bewahrt. Insofern muss sie – auch von den reformpädagogischen  Kritikern, zu denen ich mich zähle – als Erfolg  gewertet werden.

Das alte Scharfenberg lebt fort in den Köpfen derer, die es noch erlebt haben.  Einmal im Jahr,  immer am Sonntag vor Pfingsten, pilgern Ehemalige  auf die Insel, um sich mit ihren Klassenkameraden von einst zu treffen und sich  mit den Lehrern, so sie denn anwesend sind, über ihre Scharfenberger Zeit zu unterhalten. Manchmal treffen sich an diesem Tag  alte Jahrgänge zum  Klassentreffen auf der Insel. Die Listen, in die sich  die Gäste am „Tag der Alten“  eintragen, geben Auskunft, woher sie angereist sind. Sie kommen nicht nur aus ganz Deutschland, einige auch aus dem Ausland, manche sogar aus Übersee. So lernte ich den Autor des Buches „Scharfenberg unter dem Hakenkreuz“, Heinz K. Jahnke, kennen, der aus den USA angereist war  (http://www.rainer-werner.com).

Wie intensiv die Identifikation von Schülern mit „ihrer“ Insel war, kann man an dem mythischen Namen  erkennen, mit der die Insel bedacht wurde: O r p l i d.  Dieser Name bezieht sich auf das Gedicht „Gesang Weylas“ von Eduard Mörike. Es beschreibt ein utopisches Paradies jenseits des Meeres, eine  reine und unberührte Welt, ein Refugium:

Du bist Orplid, mein Land,
Das ferne leuchtet!
Vom Meere dampfet dein besonnter Strand
Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet.

 

Jugendlicher Überschwang?  Romantische Überspanntheit?  Mag sein.  Vielleicht aber auch nur die Erinnerung an ein Stück Heimat, an die „schönste Zeit des Lebens“, wie Schüler ihre Schulzeit im Internat Scharfenberg oft bezeichnen. Was kann man über eine Schule Schöneres sagen!

Während meiner Zeit als Lehrer auf der Schulfarm wurde dieser Veteranentag liebevoll gestaltet. Es gab eine Kaffee- und Kuchentafel, kleine Theater- oder Musikdarbietungen, Lesungen aus den Schriften des Schulgründers oder aus Aufsätzen von Schülern. Es gab die obligatorische Rede des Schulleiters, in der er die Entwicklung der Schulfarm erläuterte. Von alldem ist nichts übrig geblieben. Beim diesjährigen „Tag der Alten“  gab es keine Begrüßung der Gäste, keine Rede der Schulleitung, keine musische Darbietung. Abweisend waren in der Mensa die Stühle  auf die Tische gestellt. Kann man aus dem lieblosen Empfang  der Gäste auf den inneren Zustand der Schule schließen?  In einem Festbeitrag zum 75-jährigen Bestehen der Schulfarm Scharfenberg im Jahre 1997 schrieb ich: „Das geistige Klima einer Schule kann im Grunde nie veralten, es wird als zu bewahrendes Gut auf die nächste Generation tradiert, vorausgesetzt, es wird im schulischen Leben wachgehalten.“ (http://www.rainer-werner.com) Hält die Schule den Scharfenberger  Geist wach? Fühlt sie sich ihm noch verpflichtet? Zweifel sind nach dem deprimierenden Erlebnis am „Tag der Alten“ angebracht.

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7 Gedanken zu “Wie eine Schule ihre Seele preisgibt;”

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    Ich war Anfang der 80ger wenn auch nur für ein Jahr auf meiner geliebten Insel.
    Vorher die Schule geschmissen und bei den Hausbesetzern untergekommen, fand ich hier ein Zuhause, Lehrer und Sozialarbeiter, die an mich glaubten.
    Morgens vor dem Unterricht ging ich oft zum Helfen in den Kuhstall, die Nachmittage verbrachte ich mit Rudern, Surfen oder mit meinen Mitbewohnern und Freunden aus Haus 2. Ich genoss es durch die Kunsträume zu wandeln, obwohl das Fach an sich mir fremd blieb.
    Die wenigsten meiner Mitschüler waren Externe, leider gab es unter uns nicht wenige, die sich nicht wohl fühlten. Nach dem Jahr Scharfenberg war mir klar, dass ich Berlin verlassen werde, um auf dem Land zu leben und zu arbeiten. Heute 35 Jahre später bin ich glückliche Gemüsegärtnerin eines Biohofes und unendlich dankbar für die Zeit auf der Insel.

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    Sicher kann eine Schule an den ökonomischen Zwängen der Zeit nicht vorbeigehen. Doch das schließt nicht aus, auch ihre progressiven Traditionen zu bewahren und zu pflegen sowie Gäste gebührend zu empfangen und zu betreuen.

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    Ja – schade, dass der letzte „Tag der Alten” so informell und eigentlich lieblos ver-laufen ist !
    Jede Schule und damit auch jede ihrer Veranstaltungen steht und fällt mit dem Personal, d. h. mit dem Engagement aller Beteiligten. Und: Scharfenberg hat schon was mit Identifikation zu tun !

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    Übrigens war Scharfenberg ein „städtisches Gymnasium“. Sie meinen: „… an einem normalen Gymnasium“.

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    Ja, Herr Schmidt, das stimmt. auch ich war dort nicht glücklich. Jedes Kollektiv hat einen Hang zum Totalitären. Großes Thema übrigens.

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    Einige Schüler allerdings waren auch dort unglücklich und sind gescheitert. Seitdem sie an einem städtischen Gymnasium sind, geht es ihnen jetzt prächtig.

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    Zum Geist von Scharfenberg wäre zu sagen, dass er schon in den 1960er Jahren, als ich die Schule besuchete, eher als Gespenst umging. Alles funktionierte noch – man arbeitete zwei Nachmittage die Woche in den Innungen, die Lehrer wohnten teilweise auf der Insel und kümmerten sich ohne Hilfe von Sozialarbeitern um den Internatsbetrieb, die Vollversammlung von Lehrenden und Lernenden war theoretisch das höchste Vollzugsorgan der Schule -, aber die Verköcherungen des Kalten Kriegs, die Ermüdung der Gründergeneration, die Skepsis und der bequeme Beamtenstatus der jüngeren Lehrer, die Ängstlichkeit der städtischen Behörden und vor allem der Rebellionsgeist der Schüler und Schülerinnen höhlten die Schule von innen aus. Außerdem wurde die Vergangenheit der Schule während der NS-Zeit damals ebenso beschwiegen wie die Spaltung unmittelbar nach 1945.
    Nun wiederholt die Schule diese Fehler auf anderer Grundlage: Die „Alten“, die ja die Erinnerung und die Geschichte verkörpern, sind nur noch lästig; die verbeamteten Lehrer wollen dafür ihren freien Sonntag nicht opfern. Reformpädagogik ist dank der Odenwaldschule zu einem Unwort geworden, selbst auf der ehemaligen Reformschule. Schade eigentlich. Denn es gibt genug Schüler und Schülerinnen, die eine Alternativschule bräuchten – vielleicht mehr als je zuvor. Und was man auch immer über die Schulfarm Scharfenberg sagen mag: Sie bot vielen Schülern eine Möglichkeit, zu sich zu finden, die an städtischen Schulen gescheitert waren oder wären.

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