Drei Nächte hintereinander wurde Odesa angegriffen. Der Härteste war von Samstag 13. Dezember auf Sonntag. Abends saß ich noch mit Freunden in einem Restaurant am Strand, vielleicht fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Kurz vor Mitternacht – pünktlich zur Sperrstunde – hörten wir die Abwehrfeuer und das charakteristische Geräusch der Drohnen. Zurück in meiner Wohnung in der Innenstadt wurde es dann richtig heftig. Die Flak machte die Nacht zum Tag. Später hieß es, von 430 Drohnen seien 417 abgeschossen worden. Bei jedem Treffer war es für einen Moment taghell. Immerhin wurden die Angriffe sogar in den Tagesthemen erwähnt.

Aus der Wohnung heraus konnte man die Drohnen deutlich hören, und über die verschiedenen Telegram-Kanäle wusste man oft, wohin sie voraussichtlich fliegen würden. Auch die Kriegsführung hat sich verändert: Selbst wenn die ukrainischen Systeme das mutmaßliche Ziel erfassen, steuern die russischen Piloten in den letzten Minuten häufig etwas anderes an. Drohnen sind dank der Infos beinah vorhersehbar. Bei Raketen, die innerhalb Minuten ihr Ziel erreichen, und deren Flugbahn man ebenfalls in den bekannten Kanälen sehen kann, sieht das anderes aus. Wenig – oft zu wenig Zeit – um Schutz zu suchen
Der Tag danach: In der ganzen Stadt gab es keinen Strom, kein Wasser, oft keine Heizung. Den gesamten Vormittag über funktionierte das Netz nicht. Man konnte sich nicht erkundigen, ob Freunde oder Verwandte betroffen waren, nicht nach Einschlägen fragen, nicht herausfinden, wie die Lage mit Strom war oder wo es Wasser-Ausgabestellen gab. Abends dann lange Schlangen vor diesen Ausgabestellen, besonders für ältere Menschen ein regelrechter Albtraum: zehn Liter Wasser nach Hause schleppen, schlimmstenfalls in den vierten Stock. Unappetitlich, aber Teil der Erfahrung: Erst wenn man die Toilette spülen will, merkt man, dass es kein Wasser gibt.
Am Sonntag lag eine spürbare Stressbelastung über der Stadt. Normalerweise fahren die Menschen in Odesa eher defensiv, oft aus Sorge um das eigene Auto. An diesem Tag gab es ein aggressives Fahrverhalten, wie ich es in den fast vier Jahren meiner Anwesenheit hier noch nie erlebt habe. Beim Spazierengehen, in Läden, Cafés und Restaurants – viele haben Generatoren, dort konnte man zumindest Akkus laden – herrschte ein angespannter, scharfer Ton.
Die Menschen hatten die ganze Nacht entweder in Bunkern oder, im schlimmsten Fall, im Treppenhaus verbracht. Jeder Einschlag, jedes laute Geräusch löst einen Adrenalinschub aus. Adrenalin ist ein Fluchtinstinkt: Der Körper signalisiert, jetzt musst du dich bewegen. Diese Bewegung ist aber nicht möglich. Daraus entsteht eine extreme Spannung, die sich andere Wege sucht – beim Autofahren, im Umgang miteinander.

Akute Symptome, langfristig verstärkt durch bald vier Jahre Krieg, mit immer gleichen oder sogar noch gefährlicheren Situationen, mit Toten im Umfeld, mit Verlusten unter Verwandten, mit Soldaten an der Front, von denen man nicht weiß, ob sie überleben und mit denen man meist keinen regelmäßigen Kontakt haben kann. Die Menschen in der Ukraine bewegen sich in einem Zustand überkontrollierten Fatalismus. Die politische Situation macht es nicht einfacher. Diskussionen – etwa in über die Regierung in Kyjiw – werden hier mit Frustration und Bitterkeit wahrgenommen.
Eine Freundin hat es einmal so beschrieben: Wir kämpfen an zwei Fronten. Gegen die Russen und gegen die Regierung in Kyjiw. Damit wir irgendwann die Demokratie haben, die wir unbedingt wollen. Demokratie wird in der Ukraine – anders als oft in Deutschland – nicht als verhandelbare Luxusoption gesehen. Nach den Erfahrungen mit der Sowjetunion, mit der Auslöschung der eigenen Identität, der Kultur und der Sprache, ist Demokratie für die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer existenziell. Sie ist das Fundament, auf dem dieser Krieg auch an der Front weitergeführt wird, werden kann. Und sie ist das Fundament dafür, dass die ukrainische Armee nicht – wie von Russland vorausgesagt – in drei Tagen zusammengebrochen ist.
Für die Einzelnen sind diese bald vier Jahre mental kaum zu verkraften. Eine Reaktion ist, über den Krieg zu sprechen, als fände er woanders statt. Gespräche drehen sich oft um den Austausch von Informationen: Wo hat sich an der Front etwas bewegt? Welche Städte, welche zivilen Einrichtungen wurden getroffen? Wer aus dem eigenen Umfeld ist betroffen? Spricht man das emotional an, kommt fast immer die gleiche Antwort: Ich kann mich damit nicht mehr auseinandersetzen.

Ähnliches kennt man auch aus Deutschland, wenn Menschen Nachrichten ausblenden, weil ihnen die Menge an Schrecken und die Bedrohung der Demokratie, der Umwelt, des sozialen Zusammenhalts, zu viel werden. In Deutschland ist es ein nicht wahrgenommenerLuxus: Man kann den Fernseher ausschalten, soziale Medien meiden oder den Algorithmus so einstellen, dass nur noch Restaurantempfehlungen und Deko-Ideen auftauchen – und das eigene Leben geht weiter. In der Ukraine ist das unmöglich. Selbst wenn Menschen hier von einem „Zuviel“ sprechen, sind sie täglich mit einer Realität konfrontiert, die von Luftalarmen, Angriffen und Stromausfällen geprägt ist.
Noch ein Satz einer Freundin: „Ich habe keine Tränen mehr.“ Der Versuch, den Krieg emotional auszulagern, verstärkt das ohnehin vorhandene Trauma. Eine begleitende Aufarbeitung wäre dringend nötig, aber alle Kapazitäten in Ukraine für psychologische oder therapeutische Hilfe sind schon jetzt völlig überlastet. Die Menschen sind auf sich selbst, ihr eigenes Leben zurückgeworfen. Je stärker sie ihre Wahrnehmungen und Empfindungen von der eigenen Person abspalten, desto weniger Austausch ist untereinander möglich – und damit auch weniger Entlastung.

Das Einzige, was wirklich retten würde, wäre Frieden. Und danach der Versuch, die eigene Psyche wieder zu stabilisieren. Dieser Frieden scheint durch das Bündnis zwischen der Trump-Administration und Putin nicht näher gerückt zu sein – im Gegenteil. So wird es zumindest innerhalb der Ukraine wahrgenommen: Er rückt in weite Ferne. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein starkes Europa. Ob sie sich erfüllt…. Auf der politischen Ebene sind es zwei Männer, die in Abwesenheit der Betroffenen über deren Schicksal verhandeln. Auf der menschlichen Ebene … „Ich habe keine Tränen mehr“.