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Edelbert Richter über Juden, Angelsachsen und Nazis

Der frühere evangelische DDR-Dissident, sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete, Beobachter im Europaparlament und das heutiges Parteimitglied von „Die Linke“ befürchtet, er werde sich mit seinen neuen Publikationen den Vorwurf des Antisemitismus einhandeln. Martin Jander widerspricht dieser Befürchtung in seiner Buchrezension nicht. 

Ich kenne kein Buch eines früheren DDR-Dissidenten, das so offen antisemitische und antiamerikanische Stereotypen aufruft, wie Edelbert Richters in der „Edition Sonderwege“ des rechtslastigen Manuscriptum Verlags 2018 erschienene Publikation „Für ein Ende der Halbwahrheiten.“[1] Möglicherweise habe ich aber auch nicht richtig hingeschaut. Für Hinweise auf andere derart gruselige Texte von DDR-Dissidenten wäre ich dankbar.

Es ist jedoch nicht nur die eben genannte Publikation, mit der sich der Autor gegen eine vorgebliche „Selbstpreisgabe“[2] der Deutschen und für eine Relativierung ihres angeblich überall sichtbaren „Schuldbewusstseins“[3] stark macht. Edelbert Richter arbeitet an einer Schärfung seines politischen Profils bereits seit mehreren Jahren.

Die erste Publikation, mit der sich der Autor gewissermaßen als der „Horst Mahler“ der früheren links-grünen DDR-Oppositionellen ins Gespräch zu bringen suchte, erschien vielleicht nicht zufällig im Jahr der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und trug den Titel „Deutsche Vernunft und angelsächsischer Verstand.“[4] Auch andere frühere DDR-Dissidenten, wie Vera Lengsfeld, Siegmar Faust, Angelika Barbe, Christoph Wonneberger[5] und einige mehr signalisierten im Kontext des Aufstiegs von PEGIDA und AfD politische Neuorientierungen.[6] Mit dem Buch „Das Eigene wagen“, veröffentlicht 2020, bestätigte Richter seinen Weg ins politische und intellektuelle Abseits.[7]

  1. Richter: „Korrekturen an unserem Bild von Judentum und Nationalsozialismus“

Wie der 1943 geborene Edelbert Richter 2018 erläuterte, habe seine neue politische Profilierung damit begonnen, dass er sich vorgenommen habe, „nicht dumm sterben zu wollen.“[8] Er weile nun bereits fast ein dreiviertel Jahrhundert auf der Erde und wolle, bevor er sterbe, noch Klarheit darüber gewinnen, „was es mit der Schuld des Volkes, dem ich angehöre, auf sich hat.“[9]

In der Tat, bis zum Erscheinen von „Für ein Ende der Halbwahrheiten“, hatte sich der durchaus als Vielschreiber zu bezeichnende Theologe, Politiker und Autor zu den Themen Shoah, Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus noch nicht geäußert.[10] Sich erst im hohen Alter mit der Schuld der Deutschen auseinanderzusetzen, ist für einen Intellektuellen aus Deutschland zwar ein wenig spät, aber, so könnte man sagen, immerhin ein grundsätzlich guter Ansatz.

Eigentümlich und aufschlussreich ist jedoch, wie Richter das in „Für ein Ende der Halbwahrheiten“ tut. „Über den Holocaust selbst werde ich schweigen“ erläutert er, das sei „bezogen auf die Möglichkeiten, die uns die Sprache bietet, das Beste.“[11] Worüber aber spricht Richter dann? Sein Buch handelt nicht von der Shoah, sondern von den „unerfreuliche(n)  Seiten der jüdischen Geschichte“[12] und seinem, also Richters Versuch, wie es bereits im Inhaltsverzeichnis des Buches heißt, das „Unverzeihliche zu verstehen.“[13]

Auf ungefähr 400 Seiten blättert Richter in diesem Buch keine wesentlichen Ergebnisse der Forschung über den Zivilisationsbruch und die anderen deutschen Verbrechen in den Jahren 1933 bis 1945 auf. Autoren wie zum Beispiel Saul Friedländer, Raul Hilberg, Jeffrey Herf oder Yehuda Bauer tauchen in seinem Literaturverzeichnis nicht auf. Stattdessen erläutert er dem Leser seine Vorurteile über Juden („Ein nüchterner Blick auf die jüdische Geschichte“, S. 33 – 118), sein großes Verständnis für die Leiden des deutschen Volkes („Die Wurzeln: Enttäuschungen, Kränkungen, Versagungen“, S. 139 – 229) und seine Bewunderung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik in den 30er Jahren („Bemerkenswertes am Nationalsozialismus“, S. 229 – 262). Zudem kritisiert er die Darstellung Hitlers als „willkürlichen Aggressor“[14] („Fragen zum Weltkrieg“, S. 263 – 318), legt minutiös eine angebliche Mitverantwortung von Polen, Frankreich, England, Sowjetunion und USA am 2. Weltkrieg dar („Überlegungen zur Schuldfrage“, S. 319 – 359) und erläutert seine irrwitzige Behauptung, dass es sich bei den Verbrechen der Deutschen um eine „Nachahmung der angelsächsischen Expansion und des Rassismus“[15] handele („Menschheitsverbrechen“, S. 361 – 408).

Edelbert Richter setzt sich also im hohen Alter nicht mit dem deutschen Versuch auseinander, alle Juden auf dieser Erde umzubringen, weil sie Juden waren. Er findet auch keine Worte für die von deutschen Tätern ermordeten Polen, Russen, Franzosen und viele anderer Menschen unseres Planeten während des Nationalsozialismus. Auch der heroische Widerstand vieler Gesellschaften Europas gegen die Nazis, der verlustreiche Krieg zur Befreiung der Erde vom Nationalsozialismus und seinen Verbündeten, für den viele Soldaten aus aller Welt ihr Leben gaben, sind ihm keine Worte der Anerkennung und des Dankes wert. Richter stellt die Welt und ihre Geschichte in den Jahren 1933 bis 1945 von den Füßen auf den Kopf.

Juden, Großbritannien, USA,  Deutsche und Israel

Das Programm einer solchen nur allzu bekannten deutschen Selbstexkulpation, die seit 1945 in verschiedenen Versionen im Westen und Osten Deutschlands immer wieder neu in Umlauf gebracht wird, hat Richter bereits in seinem 2015 erschienenen Buch über „Deutsche Vernunft und angelsächsischen Verstand“ skizziert.

Es heißt dort: „Während die Engländer expandierten und zu Herren der Welt wurden, beschäftigten die Deutschen sich hauptsächlich mit sich selbst und bauten an einem Reich des Geistes – was ihnen ja als Realitätsferne auch immer noch vorgehalten wird. Was sie dann aber sehr realistisch im 19. und 20. Jahrhundert taten, war nicht mehr besonders originell, sondern im Grunde eine hektische Nachahmung der Angelsachsen. Und zwar nicht nur in wirtschaftlicher und technischer, sondern auch in außenpolitischer Hinsicht – einschließlich der Menschheitsverbrechen, die sie dabei begingen! (Hitler war bekanntlich ein großer Bewunderer des britischen Empire und der Vereinigten Staaten.). Ich bin daher der Meinung, dass der ´Weg nach Innen`, den die Deutschen zuvor gegangen sind, für uns noch heute Vorbildcharakter hat, eben angesichts der ökologischen Krise, aber auch angesichts dessen, dass die Zeit der imperialen Expansion auf unserer kleingewordenen Erde abgelaufen ist.“[16]

Der bekennende Bewunderer Martin Luthers Edelbert Richter – dem jedoch Luthers Schrift über „Die Juden und ihre Lügen“[17] in seinen Büchern keine kritische Zeile wert ist – baut an einem Weltbild, in dem Juden als die eigentlichen Erfinder von Rassismus und Völkermord auftreten („Was wir heute Völkermord nennen“, S. 35 – 40), Großbritannien und die USA die angeblich expansionistische Politik des historischen Israel übernommen haben („Vorwort“, S. 9 – 16), die deutschen Nazis angeblich diese jüdisch-angelsächsische Politik nachahmten („Menschheitsverbrechen“, S. 360 – 408) und aus „Angst vor der eigenen Vernichtung“[18] Menschheitsverbrechen kopierten („Realgeschichtlich: aus Vernichtungsfurcht“, S. 403 – 408). Wie soll man ein solches Weltbild nennen, wenn nicht antisemitisch?

Die Unterstützung und Solidarität mit Israel der Bundesrepublik als Lehre aus der Shoah lehnt Richter ab. Israel, so behauptet er, bekämpfe nämlich „den Antisemitismus in einer Weise, die selbst rassistische Züge“ trage. Mit der Unterstützung Israels sorge man dafür, „dass neues Unrecht gedeihen“ könne und fördere „neuen Rassismus.“[19]

Dass Großbritannien und die USA sich als Führungsmächte der westlichen Demokratien von Europa abwendeten, begrüßt Richter. So wie sich Ostdeutsche von der sowjetischen Vorherrschaft gelöst hätten, müssten sich jetzt heute Westdeutsche von den USA abwenden, und sich gemeinsam mit den Ostdeutschen auf deutsche Traditionen besinnen, wie Richter in seinem jüngsten Buch, „Das Eigene wagen“ ausführt.[20]

Nicht die universellen Menschenrechte, die Demokratie und die Werte der Aufklärung sind angesichts der ökologischen Krise der modernen Welt nach Richter zukunftsfördernd, sondern Zivilisationskritik und das deutsch-protestantische Wesen. Edelbert Richter schärft sein eigenes Profil vom Theologen und Politiker zu einer Art protestantischem Wanderprediger und befürchtet, wohl nicht zu Unrecht, er werde sich in dieser neuen Rolle „wahrscheinlich den Vorwurf des Antisemitismus“[21] zuziehen.

Gesichter der Antimoderne

 Mit der Vereinigung der beiden verschiedenen Nachfolgegesellschaften des deutschen Nationalsozialismus gibt es neue Herausforderungen für die Demokratie und ihre politische Kultur. Sie kommen in der Bundesrepublik aus vielerlei Hintergründen, von rechts, von links, von islamistischer und esoterischer Seite. Die Entwicklung Edelbert Richters vom protestantischen Zivilisationskritiker[22] zum deutschen Pastor, der über die „unerfreuliche(n)  Seiten der jüdischen Geschichte“[23] predigt, ist nur eines der vielen Gesichter der Antimoderne, das dabei sichtbar wird.

Überraschend ist die Entwicklung Edelbert Richters jedoch nicht. Deutsche Protestanten und Nationalisten waren in der Geschichte der Deutschen nur ganz selten Freunde der Demokratie. Auch antidemokratische Haltungen von Grünen, Ökologen, Tierschützern und Impfgegnern sind mittlerweile nicht mehr unbekannt.

Überraschend aber ist, dass diese Form antisemitischer, antiisraelischer und antiamerikanischer Ressentiments, wie sie in den neuen Texten von Edelbert Richter anklingen, anders als von ihm selbst zu Recht erwartet, nicht heftiger kritisiert und befragt werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den neuen Büchern Richters fehlt, soweit mir bekannt, weitgehend. Der sozialdemokratische Historiker Peter Brandt, ein Kollege Richters aus dem „Willy Brandt Kreis“ [24], hat zwar eine Rezension über das Buch „Für ein Ende der Halbwahrheiten.“ verfasst, die jedoch den ideologischen Zugriff Richters auf die Darstellung des Nationalsozialismus und der Shoah nicht erkennt.[25] In Texten wie denen Richters, so unbedeutend und abseitig sie erscheinen mögen, wird aber die Zukunft der demokratischen Bundesrepublik mitverhandelt.

Für eine intensive Auseinandersetzung Edelbert Richters mit der Shoah und den anderen deutschen Verbrechen ist es wohl definitiv zu spät. Obwohl man ja nie „Nie“ sagen soll. Zu spät aber ist es noch nicht, Richters Leser und Bewunderer aufzurütteln. Aus meiner Sicht gebietet es sich, dass die vielen Freunde und Bewunderer des Autors aus der SPD, dem Bundestag, dem Europaparlament, aus „Die Linke“, der DDR-Umweltbewegung und aus der protestantischen Kirche entschiedenen Einspruch gegen seine neuen Publikationen erheben.

Rezension zu:

Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Korrekturen an unserem Bild von Judentum und Nationalsozialismus. Edition Sonderwege, Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2018. ISBN 978-3-944872-84-1, 448 Seiten, 24,80 €uro.

Ders., Deutsche Vernunft – Angelsächsischer Verstand. Intime Beziehungen zwischen Geistes- und Politikgeschichte. Logos Berlin 2015, 395 Seiten, ISBN 978-3-832540-71-5, 29.00 €uro

Ders., Das Eigene wagen. Besinnung auf deutsche Traditionen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Quartus Verlag, Bucha 2020. ISBN 978-3-947646-26-5, 153 Seiten, 14,90 €uro.

[1] Siehe: Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Korrekturen an unserem Bild von Judentum und Nationalsozialismus. Edition Sonderwege, Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2018. ISBN 978-3-944872-84-1, 448 Seiten, 24,80 €uro.

[2]  Zitiert nach: Edelbert Richter, Das Eigene wagen. Besinnung auf deutsche Traditionen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Bucha 2020, S. 7

[3] Ebenda.

[4] Siehe: Edelbert Richter, Deutsche Vernunft – Angelsächsischer Verstand. Intime Beziehungen zwischen Geistes- und Politikgeschichte. Berlin 2015.

[5] Siehe: Ralf Geissler, Was macht einen Helden von 89 zum Corona Demonstranten, in: Die Zeit vom 7. Oktober 2020 (https://www.zeit.de/2020/42/christoph-wonneberger-pfarrer-ddr-friedensgebete-demonstrationen-corona-politik?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F).

[6] Siehe: Konstantin Hammerstein, Warum ehemalige Bürgerrechtler jetzt mit den Rechten sympathisieren, in: Der Spiegel vom 7. Januar 2018 (https://www.spiegel.de/spiegel/warum-ddr-buergerrechtler-sich-bei-der-afd-engagieren-a-1186288.html).

[7] Siehe: Edelbert Richter, Das Eigene wagen. Besinnung auf deutsche Traditionen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Bucha 2020.

[8] Zitiert nach: Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Lüdinghausen 2018, S. 15.

[9] Zitiert nach: Ebenda.

[10] Siehe zu einem Biogramm und den Publikationen Richters, den Eintrag in der Biografischen Datenbank der Bundesstiftung Aufarbeitung: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/edelbert-richter

[11] Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Lüdinghausen 2018, S. 96..

[12] Ebenda, S. 12.

[13] Ebenda, S. 139.

[14] Ebenda, S. 263.

[15] Ebenda., S. 361.

[16] Zitiert nach: Edelbert Richter, Deutsche Vernunft – Angelsächsischer Verstand, Berlin 2015, S. 20/21.

[17] Siehe: Matthias Morgenstern (Hrsg.), Martin Luther – Von den Juden und ihren Lügen. Berlin 2016.

[18] Zitiert nach: Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Lüdinghausen 2018, S. 406.

[19] Zitiert nach: Ebenda, S. 11.

[20] Siehe. Edelbert Richter, Das Eigene wagen. Besinnung auf deutsche Traditionen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Buch 2020.

[21] Zitiert nach: Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Lüdinghausen 2018, S.  12.

[22] Siehe dazu zum Beispiel den Artikel von Erhart Neubert über Edelbert Richter in: Ilko Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hrsg.), Für ein freies Land mit freien Menschen, Berlin 2006, S. 221-223.

[23] Zitiert nach: Edelbert Richter, Für ein Ende der Halbwahrheiten. Lüdinghausen 2018, S. 12.

[24] Siehe dazu die Website des Willy Brandt Kreises (http://www.willy-brandt-kreis.de/inhalt/richter.htm).

[25] Siehe: Peter Brandt, Edelbert Richters „Versuch, das Unverzeihliche zu verstehen“, in: ABLIS, Jahrbuch für europäische Prozesse, Jahrgang 2020 (https://www.iablis.de/iablis/themen/2020-schach-dem-wissen/rezensionen-2020/603-edelbert-richters-versuch,-das-unverzeihliche-zu-verstehen?fbclid=IwAR1W7wRn4Je42lTHXHitGe068HIN754LEXw6OPVGGjLaLzUaRKnM8iV_Gz8).

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