Mit mehr als 850 Milliarden Euro in diesem Jahr gibt Deutschland viel Geld für seinen Sozialstaat aus. In den nächsten Jahren wird die Billionen-Marke erreicht werden. Eine älter werdende Bevölkerung und die Integration der neuen Geflüchteten bedeuten mehr soziale Ausgaben. Umso wichtiger wird die Frage, ob die Sozialausgaben im Hinblick auf die Zukunft gut angelegt sind. Die gute Nachricht: die Zahl der in erheblicher Armut lebenden Menschen geht nicht nur weltweit, sondern auch hierzulande erheblich zurück. Mit 4,4 Prozent hat Deutschland den niedrigsten Wert seit mehr als zehn Jahren erreicht. Grundlage sind Befragungen, in denen die Bürger selbst angeben, ob sie materiell ausgegrenzt sind und sich beispielsweise kein Auto oder keine Waschmaschine leisten können. Bei den Älteren beträgt der Anteil sogar lediglich 2,4 Prozent. Europaweit liegt der Wert doppelt so hoch.
Die Armut geht zurück, die Abstiegsängste steigen
Dass in der öffentlichen Debatte ein völlig anderer Eindruck von der Entwicklung der Armut dominiert, liegt an zwei weiteren Werten: dem Armutsrisiko und dem Ginikoeffizienten. Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des gesellschaftlichen Mittelwerts betragen, gelten statistisch gesehen als „armutsgefährdet“. Die Quote lag im vergangenen Jahr bei unveränderten 16,7 Prozent. Damit ist fast jeder fünfte Haushalt betroffen – mehr als dreimal so viel wie bei der Armutsquote selbst. Der Ginikoeffizient wiederum misst die Ungleichverteilung der Einkommen. Seit 2000 ist er in Deutschland gestiegen. Das verfügbare Einkommen der ärmsten zehn Prozent ist seitdem um etwa zwei Prozent geschrumpft, während die reichsten zehn Prozent mehr als 16 Prozent Einkommen hinzugewinnen konnten. In der öffentlichen Debatte werden beide Punkte – Armut und Ungleichheit – meist nicht getrennt. Aus einem einfachen Grund: Mit Statistiken lassen sich leicht Alarmismus und Abstiegsängste verbreiten.
Entpört Euch!
Ein statistisches Problem ist noch kein tatsächliches und ein gefühltes Problem wird schnell zu einem tatsächlichen. Das eigentliche Problem des deutschen Sozialstaats sind nicht seine Ausgaben, sondern seine Wirkungen. Mit der bloßen Erhöhung von Transfers lässt sich Armut allein nicht vermeiden. Für einen aktivierenden statt einem bloß alimentierenden Sozialstaat wirbt Georg Cremer in seinem neuen Buch „Armut in Deutschland“. Cremer ist langjähriger Generalsekretär der Caritas, dem größten Wohlfahrtsverband und private Arbeitgeber in Deutschland. Die Caritas ist der Marktführer unter den Sozialunternehmen. Auch deshalb streitet Cremer engagiert für eine Politik der „Entpörung“. Die Rhetorik des Skandals befördere die Angst in der Mitte der Gesellschaft, warnt Cremer. Und ohne die Bereitschaft der Mitte, den Sozialstaat zu finanzieren, ist den Armen nicht zu helfen.
Eine Agenda für die nächsten Jahre: Soziale Sicherheit für Alle
Doch wie lassen sich Armut und Ungleichheit konkret bekämpfen? Cremer legt eine ganze Liste von notwendigen Maßnahmen und Reformen zur Bekämpfung der Armut vor. Dazu gehören eine Weiterentwicklung und Erhöhung der Grundsicherung, eine Festschreibung der Frühen Hilfen als kommunale Pflichtaufgabe, mehr Bildung und einen nachhaltig finanzierten „sozialen Arbeitsmarkt“. Die Zusatzkosten dafür beziffert der Volkswirt auf rund 20 Milliarden Euro pro Jahr. Angesichts eines Gesamtvolumens staatlicher Ausgaben einschließlich der Sozialversicherungen von mehr als 1.200 Milliarden Euro ist dies ein Bruchteil. Finanzieren ließe sich der Mehraufwand über eine höhere Erbschaftssteuer und den Abbau von Subventionen. Und er plädiert für mehr freiwilliges Engagement der Bürger und Unternehmen, ohne das der Staat die Aufgaben nicht mehr lösen können wird.
Dass höhere Zuwendungen und Transfers zur Bekämpfung von Ungleichheit nicht ausreichen, weist auch der Brite Anthony B. Atkinson in seinem neuen Buch nach. Atkinson gilt als „Vater der modernen Ungleichheitsforschung“ und fordert eine Revision des Sozialstaats, um der „Ungleichheitswende“ zu begegnen. Der politische Kampf gegen Armut und Ungleichheit lässt sich nicht an ein Ministerium delegieren, sondern erfordert eine Regierungsstrategie. Atkinson legt eine Liste mit 15 Vorschlägen vor: Mehr Investitionen in Beschäftigungsfähigkeit und humane Dienstleistungen, Mindestlöhne, Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern, Begrenzung von Spitzengehältern, ein höheres, dafür steuerpflichtiges Kindergeld, mehr Vorsorgesparen für das Alter, ein bedingtes Grundeinkommen als „Partizipationseinkommen“ und eine stärkere Besteuerung von hohen Einkommen.
Cremer und Atkinson legen wichtige Programmschriften für eine realistische soziale Reformpolitik vor. Frei von Populismus, aber radikal in der Sache. Wir brauchen mehr davon.
Anthony B. Atkinson: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können. Klett-Cotta, Stuttgart. 26,95 €.
Georg Cremer: Armut in Deutschland. C.H. Beck, München 2016. 13,99 €.