von Marcus Felsner
Die Wirtschaft bangt um das Projekt Europa. Die Unternehmer stehen angesichts ihrer eigenen existenziellen Abhängigkeit von dem Funktionieren europäischer Verflechtung hilflos vor dem Phänomen des neu erstarkenden Nationalismus. Ungeachtet der Erfolge populistischer Phänomene auch in den USA und andernorts besteht offenbar eine besondere Beziehung zwischen dem Wiederaufstieg des Nationalismus in Europa und der Krise der Europäischen Integration selbst. Besser als andere müssen geschichtsbewusste Europäer verstehen, dass die Regel vom qualitativen Umschlagspunkt (tipping point) nicht nur auf klimatische Phänomene, bei denen eine vorher geradlinige Entwicklung plötzlich abbricht und mit hoher Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung führt, sondern auch auf wirtschaftliche und politische Prozesse Anwendung findet: Von dem Umschlagspunkt zurück zu dem Europa vor 1945 sind wir immer nur einen Wimpernschlag entfernt.
In der Präambel zum Vertrag von Maastricht bekannte sich die EU zu dem Wunsch, die „Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition“ zu stärken. Von den Völkern ist sonst in der offiziellen Sprache des Europäischen Projekts nicht mehr viel die Rede, und man möchte das instinktiv begrüßen: In dem Begriff liegt für uns Heutige zu viel ethnos und zu wenig demos, zu viel Volksgemeinschaft und zu wenig Rechtsgemeinschaft von Citoyens. Dennoch wird das Europäische Integrationsprojekt heute als bloßes Teilphänomen der Globalisierung verstanden, die tendenziell ohnehin die demokratische Grundlage der Staaten angreife, weil sie territoriale Grenzen einreiße. Der Nationalstaat, wie ihn vor allem Immanuel Kant verstand, beruht aber gerade nicht auf seiner Territorialität, sondern auf seinem Personenverband. Die Vorstellung des europäischen Mittelalters von der Herleitung politischer Herrschaft aus dem Eigentum an Grund und Boden (mit der darauf lebenden Bevölkerung als bloßem Zubehör) ist danach gerade nicht Wesenskern des Nationalstaats. „Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe. Er ist eine Gesellschaft von Menschen.“
Der Nationalstaat der Aufklärung ist andererseits, wie vor allem die Demokratietheoretikerin Ingeborg Maus gezeigt hat, auch in seinem Personenverband nicht begrifflich definiert von Bodenständigkeit und Traditionsbeständen wie Abstammung, Schicksalsgemeinschaft oder kultureller Homogenität. Es gibt keine statische Identität, es hat sie nie gegeben: Die Nation ist allein das Ergebnis eines plébiscite de tous les jours, wie es Ernest Renan in seiner berühmten Sorbonne-Rede 1882 nannte. Rousseau formulierte in seinem Contrat social, mit dem er die Zustimmung der Individuen zum Entwurf einer ersten Verfassungsgesetzgebung zum einzig denkbaren Gründungsakt der Nation erklärte, sein Lob des jüdischen Gesetzgebers, der gerade wegen seiner Lösung von jeder Ortsgebundenheit sein Volk als Einheit dauerhaft habe erhalten können. Antisemitisch gewendet wird dasselbe Argument später bei Karl Marx, der in seiner „chimärischen Nationalität“ und dem „grund- und bodenlosen Gesetz“ die Rechtfertigung für die Heranziehung des Judentums als Metapher für die kapitalistische Natur der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin sieht, und später bei dem nationalsozialistischen Chefideologen Carl Schmitt, der dem raum- und wurzellosen Prinzip abstrakter, „kalter“ demokratischer Legalität, für die das Judentum, vor allem die „verjudete“ parlamentarische Demokratie und das „jüdische Weltkapital“ stehen sollen, das arkane Wissen um „höheres Recht“ und dem eigenen Raum gemäße Werte gegenüberstellt, die der Verfügung wechselnder demokratischer Mehrheiten entzogen sein müssen; die Exekutive wird zum Hüter des „gesunden Volksempfindens“. Es muss zutiefst beunruhigen, wenn gleichzeitig ausgerechnet Carl Schmitts Denken über das Ende der Epoche der Nationalstaaten sich scheinbar unverändert in der heutigen Diskussion wiederfindet. Schmitt war es, der angesichts der Leistungen der modernen Großindustrie eine „wirtschaftliche Großraumbildung“ ausmachte, der ein politischer Großraum notwendig folgen müsse. Wohin das Denken im Großraum ohne Achtung des demokratischen Souveräns führt, haben wir erlebt.
Es sind die Zweifel an der Durchsetzbarkeit demokratischer Souveränität, die seit Kant die supranationale Einheitsbildung problematisch erscheinen lassen. Ob die technologischen Möglichkeiten der liquid democracy im 21. Jahrhundert die Lösung für dieses Problem gefunden haben, ist noch offen. Genau hier aber muss die kritische Bewertung des Europäischen Integrationsmodells ansetzen. Zweifler tragen vor, dass gerade durch die Komplexität der in Europa vorherrschenden Mehr-Ebenen-Modelle die strikte Trennung von gesetzgebender und ausführender Gewalt verwischt werde, die dem demokratischen Rechtsstaat wesensimmanent ist – mit der Folge, dass völlige Beliebigkeit der Lösung von Konflikten zwischen den konkurrierenden Rechtsquellen oft nur noch durch den Rekurs auf eine diffuse Grundlage gemeinsamer Werte (ähnlich der Verwurzelung des mittelalterlichen Reichs in der Idee eines christlichen Europa) verhindert werden kann. Es ist bezeichnend, dass heute sowohl im Einfordern von Solidarität unter den Mitgliedstaaten als auch in der Forderung nach einer Art Gelöbnis aller in die EU Flüchtenden auf solche Werte, nicht aber auf die demokratische Verfassungsordnung der Europäischen Union Bezug genommen wird.
Die wesentliche Lektion der Geschichte ist diese: Nationalismus muss bekämpft werden, weil er sein Versprechen der einfachen, „reinen“ Welt einer je abgegrenzten und gerade deshalb erfolgreichen Nation nur auf eine Weise einlösen kann, nämlich durch Gewalt. Jeder andere Weg führt ausnahmslos in jämmerliches Scheitern des nationalen Heilsversprechens. Nationalismus ist daher auch zuallererst nicht mit moralischen Argumenten zu bekämpfen, sondern viel vordergründiger schon deshalb als falsch bloßzustellen, weil er einfach nicht funktioniert. Wirksamer Kampf gegen Nationalismus und andere Formen des Populismus besteht nicht darin, den Populisten rechtzugeben, ihnen „zuzuhören“, wie es im professionellen Politikjargon heißt, sondern schlicht durch gutes Regieren sicherzustellen, dass ihnen die Zuhörer für ihre in der Praxis unbrauchbaren Parolen verlorengehen. Wer heute von gutem Regieren spricht, sieht sich leicht Hohn und Spott ausgesetzt, dabei meint die alte Formel für die Gesellschaften des Westens sehr Konkretes: Angesichts einer technologischen Umwälzung, die in allernächster Zukunft ganze Geschäftsmodelle verschwinden lassen und damit vielen Millionen Arbeitern und auch kaufmännischen Angestellten in unseren Ländern die Existenzgrundlage entziehen wird, angesichts fehlender Innovationskraft in Europa, um diese wegbrechenden Geschäfts- und Arbeitsmodelle durch Neues zu ersetzen, und angesichts der immer engeren, auch informationellen Vernetzung der Menschen und Märkte weltweit bestehen einleuchtende Ängste wachsender Bevölkerungsteile vor der Zukunft und ein steigender Konkurrenzdruck im Kampf um knapper werdende Ressourcen wie Arbeit und soziale Sicherheit. Es ist die Aufgabe von Politik, diesen Veränderungsprozess bestmöglich – das dröge Leihwort ist hier genau passend – zu managen. Menschen, die eine gute Zukunft für ihre Kinder sehen, sind nicht empfänglich für Botschaften der Angst und des Neids, die immer den Kern des Nationalismus bilden. Dies ist das einzig wirksame Rezept gegen die Rückkehr der Nationalisten an die Macht. Wo sie in der EU bereits regieren, muss mit den nicht weniger trockenen Mitteln des Europäischen Rechts dafür Sorge getragen werden, dass sie ihre Ziele nicht erreichen – dass ihre Parolen wirkungslos verhallen, weil ihnen die Erfüllung keines ihrer Versprechen gelingt.
Dafür allerdings muss die EU mit ihren Organen entschieden sorgen. Es wäre für diese Aufgabe nützlich, nicht auf ein diffuses Bild europäischer Werte rekurrieren zu müssen, sondern klar zu benennen, welche Normen wir durch genau welche Entscheidung einer nationalen Legislative oder Exekutive verletzt sehen. Allzu oft operieren wir stattdessen mit generellen Eindrücken, Empfindungen, Stimmungen, denn wir fühlen uns mit den beschworenen Werten selbst erkennbar unwohl. Dieses Unwohlsein, dem in Texten gern durch die Anführungszeichen um die „Werte“ Ausdruck verliehen wird, müssen wir offen ansprechen und beseitigen. Die händeringenden Bemühungen von Politikern, Europa als eine Gemeinschaft zu beschreiben, die einer gemeinsamen Kultur verpflichtet sei, die sogar eine spezifisch europäische Moral vertrete, die so etwas wie das christliche Abendland sei (in dem aber niemand mehr in die Kirche geht), sind unvermeidlich hilflos und leichte Beute für die Feinde der Europäischen Einigung. Das Europäische Integrationsprojekt beruht gerade nicht auf der Vorstellung, alle Bewohner der EU seien Teil einer Art Kulturnation Europa, die sich als konsequente, sozusagen natürliche Summe aus gewachsenen nationalen Identitäten ergebe. Es gibt eine solche Gemeinsamkeit nicht, es hat sie nie gegeben, und auf ihr beruht die Einheit Europas daher auch gerade nicht. Ihre einzige, vielleicht enttäuschend emotionsfreie Grundlage ist die offene Gesellschaft, also die bis zur Grenze der Freiheit jedes anderen reichende Freiheit jedes einzelnen, zu tun und zu lassen, was er will (wie es die Väter des deutschen Grundgesetzes in Artikel 2 ursprünglich in schöner Direktheit aussprechen wollten); ihr wesentlicher normativer Rahmen ist die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der mit ihnen verbundene Rechtsstaat. Jeder, der sich zu diesen wenigen, einfachen Grundlagen bekennt, kann Europäer sein – und nur derjenige kann es, der dies tut. Weitere Voraussetzungen für die Zugehörigkeit kennt das Europäische Modell nicht, weder Abstammung noch politische oder religiöse Anschauung noch Sympathie für lokale Traditionen oder Folklore. So wie die Nation kein beseeltes Wesen ist, sondern ein artifizielles Konstrukt auf der Grundlage historischer Zufälligkeiten, das nur Bestand hat, solange es die Erwartungen seiner Bürger an die Leistungen des Konstrukts erfüllt, so gilt es auch bewusst anzunehmen, dass die Europäische Union ein artifizielles Konstrukt ist, das seine Rechtfertigung nur darin findet, was es für ihre Bürger leistet.
Diese Leistung ist nichts weniger als atemberaubend. Die EU ist der größte Markt, die freieste Gesellschaft und der reichste Wirtschaftsraum der Erde. Das historisch einmalige Experiment eines immer engeren Zusammenschlusses von Nationalstaaten auf der Grundlage zentraler Grundfreiheiten, allen voran der Kapitalverkehrsfreiheit, ist der erfolgreiche Versuch, eine offene Gesellschaft auf den Trümmern nationalistischer Auseinandersetzungen mit dem verbindenden Mittel des Markts zu errichten. Das mag weniger erhebend wirken als die Vorstellung von einem genuin europäischen Kulturerbe. Gegenüber der Kulturfiktion hat dieser real existierende Kapitalismus, die Einheit Europas im Zeichen der Geldwirtschaft, den enormen Vorteil, eben real zu sein und so die entscheidende Grundlage dafür zu bieten, dass Krieg zwischen Deutschen und Franzosen, Deutschen und Polen heute nicht nur sehr unwahrscheinlich, sondern vollständig unmöglich geworden ist. Gegen die Rückkehr zur Stammesökonomie gibt es allerdings keine Ewigkeitsgarantie; die Grundlagen der Europäischen Idee müssen immer wieder verteidigt werden. Es gibt dafür Europäische Werte, und zu ironischer Distanzierung durch Anführungszeichen besteht überhaupt kein Anlass. Diese Werte heißen Menschen- und Bürgerrechte, freiheitlich-demokratische Grundordnung, Rechtsstaat. Der Nationalstaat hat als politischer Verbund auch in ihnen seine Berechtigung; zur Bewältigung der wichtigsten Aufgaben bei der Sicherung der offenen Gesellschaft, in der wir auch künftig leben und arbeiten wollen, fehlen ihm heute aber die Mittel. Deshalb müssen wir die Kraft aufbringen, der Union eine Verfassung zu geben, die ihre genannten Werte dauerhaft schützt, auch gegen die Gefahr, dass demokratische Willensbildung, nüchternes rechtsstaatliches Verwaltungshandwerk und freie Märkte durch einen kulturell determinierten „Großraum“ Carl Schmitt’scher Prägung ersetzt werden. Die beschriebenen Werte verbinden Europa mit den USA und weiteren Staaten, die gemeinsam das bilden, was wir wieder mit Wehrhaftigkeit „den Westen“ nennen müssen, wenn wir diese Werte auch in Zukunft gegen die gewalttätige, armselige, hässliche Welt der tribalisierten Ganovenökonomie verteidigen wollen.
Marcus Felsner ist Vorsitzender des Osteuropavereins der deutschen Wirtschaft.
Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen den europäischen Nationalstaaten wie wir sie heute kennen und einem Nationalstaat Europa?
Ich sehe beim besten Willen keinen! Dann führen eben am Ende keine Nationalstaaten gegeneinander Krieg sondern Kontinente, es ändert sich einzig die geografische Dimension.
Ausserdem sitzen die grössten und ausdauernsten Nationalisten in den Regierungen der Mitgliedsländer der EU und der Eurozone. Die wirtschaftlichen Parameter und die Staatshaushalte sowie sonstige Kennzahlen werden nach wie vor nach Nationalstaaaten erfasst und ausgewiesen. Was für die EU noch einigermassen akzeptabel ist, ist es für einen gemeinsamen Währungsraum defintiv nicht mehr.
EU verfügt über die Organe (Parlament und Rat als Legislative sowie der Kommission als Exekutive, Haushalt wäre auch noch zu nennen) die für einen gemeinsamen Währungsraum notwendig wären. Für die EU reichen die Ministergipfel. Aber in einer Währungsunion haben die Ministergipfel als alleinige Entscheidungsinstanz die Nationalstaatliche Befindlichkeiten nur gefördert statt vermindert.
Die verschiedenen Entwicklungsagenden (Lissabon,Maastricht u.s.w) blieben mehr Absichtserklärungen denn stategische Arbeitspapiere zur Weiterentwicklung.
Daneben haben weitere politische und geostrategische Erweiterungen für eine „Frontüberdehnung“ der Herausforderungen gesorgt.
Kurz gesagt, die EU konnte die Visionen ihrer Gründer, wegen hausgemachter Probleme und der vorwegnahme der Endziele ohne ausreichende organisatorische Grundlage, bisher nicht erreichen.
Jeden Tag ein neuer linker Fantasievogel als Autor. Dürfen bei „Starke-Meinungen.de“ keine normalen Autoren publizieren?
„…ihr wesentlicher normativer Rahmen ist die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der mit ihnen verbundene Rechtsstaat. Jeder, der sich zu diesen wenigen, einfachen Grundlagen bekennt, kann Europäer sein – und nur derjenige kann es, der dies tut.“ Und Europäer, die dies nicht tun, sind also keine Europäer. Was sind sie dann?