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So geht Wirtschaftspolitik: von der Entlassung in die Freiheit

Der Staat ist dazu da, dass er sich zurückhält, nachdem er sich ins Zeug gelegt hat. Beides, eins nach dem anderen. Er sorgt für Infrastruktur, aber nicht für Steuerung der Bürger. Fürsorge ist Diktatur, Infrastruktur Freiheit. Politik soll mir nicht sagen, was ich tun soll. Sie soll aktiv ermöglichen, dass möglichst alle tun können, was sie tun wollen. Ich will Wege, Brücken, Straßen, aber nicht gesagt kriegen, wo ich hingehen soll. Das ist doch mal eine Vision! Dazu könnte ich mich in Hitze reden.

Aber wir leben in lauwarmen Zeiten. Früher war nicht nur mehr Lametta, es war auch noch richtig Wetter.  Es war entweder kackig kalt oder brütend heiß, Jahreszeiten genannt. Es gab Visionen. Die von der weißen Weihnacht oder die von unbegrenzter Freiheit, in der man auf einer Harley mit nacktem Oberkörper die Highway runterraste. Born to be wild.

Die Visionen sind alle. Aus den Ruf nach Freiheit ist das Verwalten des Freiheitlichen geworden. Oder  Versuche der Tugenddiktatur. Zurück in den Mief der Nachkriegszeit. Die Politik verspricht immer seltener wirklichen Fortschritt. Das liegt am Basiseffekt, an der Frage, wo man herkommt. Eine glückliche Geschichte macht Sprünge. Sensationen bestehen in Brüchen. Wo es keinen Willen zu Revolutionen mehr gibt, zieht die Gemütlichkeit ein.

Zu berichten ist von einer politischen Einrichtung in dem kleinen baltischen Staat Estland. Ein liebenswertes Bonsailand an der östlichen Ostsee, zwei Fährstunden gegenüber von Helsinki, Anrainer von Herrn Putin, ehemals Heimat der Schwarzhäupter, sprich der Hanse und anderer deutscher Raubritter. Der berühmte Kotzbue lebte hier, man sprach deutsch, wurde im Laufe der Geschichte gleich mehrmals russifiziert und ist nun wieder estnisch.

Ein kleines Land, das der Hitler-Stalin-Pakt den Sowjets zugeschoben hat, ein Volk mit gerupfter Vergangenheit. Vieles gefällt mir hier auch heutzutage nicht, der rassistische Umgang mit der russischen Bevölkerungsgruppe allem voran. Man versteht schon, warum auf einer Müllhalde hinter den Heimatmuseum die gestürzten Statuen von Stalin und Konsorten liegen. In der Verschrottung der alten Denkmäler schüttelt ein Volk jene Herren ab, unter deren Diktatur man allzu lange gelitten hat.

Just an dem Tag, als ich in lievländischen Reval, jetzt Tallin genannt, Väterchen Stalin meinen Fuß auf’s Gesicht setze, ist Nelson Mandela gestorben. Auch Südafrika hatte eine gespaltene Gesellschaft. Dort aber wurde die Apartheid abgeschafft, und nicht wieder eingeführt. Mein estnischer Begleiter vom örtlichen TV-Sender ist empört über diesen Vergleich. Sein Kameramann grinst; er ist gebürtiger Russe und staatenlos. Der EU-Staat verweigert ihm, der hier seit drei Generationen lebt, trotzig einen Pass. Ich bitte den Esten um Übersetzung meiner Frage an seinen Kollegen, den staatenlosen russischen Bewohner Estlands. Das verweigert er mit dem Hinweis, er spreche kein Russisch. Er lügt.

Aber nicht tadeln wollten wir, sondern preisen. Was begeistert? Nun, schon im Bus der touristischen Stadtführung, einem Uraltgefährt von MAN mit deutschsprachigen Verbotsschildern, entdecke ich, dass der klapprige Bus einen eigenen WLAN-Anschluss bietet. Gratis. Im Hotel, im Restaurant, im Hafen, auf den Friedhof…man entrinnt in einem Land, das dünner besiedelt ist als Meck-Pomm, nicht den kostenlosen WiFi-Angeboten.

Die von Stalin hinterlassenen Kupferdrähte der KGB-Telefone waren so schlecht, dass die estnische Wirtschaftspolitik schon vor Jahren beschlossen hat, mit einem Sprung ins Internetzeitalter zu springen. Und das richtig. Es gibt einen gesetzlichen Anspruch aller Bürger auf freien Internetzugang an jedem Ort, zu jeder Zeit, zu keinen Kosten…Und wer kein iPhone besitzt, der mag eine die öffentlichen Einrichtungen zum Surfen nutzen, an jeder Straßenecke.

So springt man vom Ende der Welt, vom dunklen Ende der Welt mitten die hell erleuchtete Globalität. Wirtschaftspolitik als Infrastrukturleistung: ein sperriger Begriff, aber ein großartiges Konzept. Das Land ist nicht nur vernetzt, es funktioniert bargeldlos. Wer an der Sushi-Bude oder dem Hisburger-Stand Cash rausholt, hält die Förderung auf. Meinen Parkplatz zahle ich mit dem Handy. Die volkswirtschaftlichen Kostenersparnisse müssen gewaltig sein. Durch einen wirtschaftspolitisch mutigen Federstrich sprießt der Fortschritt. Born to be wild. Alle Metropolen in jedem Dorf. Alles Dinge, für die sich in Berlin Kai D. einen Bart stehen lässt.

 

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2 Gedanken zu “So geht Wirtschaftspolitik: von der Entlassung in die Freiheit;”

  1. avatar

    lieber herr kocks,

    ddie aussage, daß fürsorge diktatur sei, kann nur aus dem munde eines menschen kommen, dem es zu gut geht. nnoch immer bestimmt das sein das bewußtsein, was die wirtschaftsliberalen hartnäckig verdrängen. näheres dazu in meinem schreiben an eine neoliberale dame. es ggeht um ihre studie über den „freiheitsindex“

    sehr geehrte frau ackermann,

    ich habe ihre einleitung kurz überflogen und bin doch einigermaßen darüber überrascht, warum sie diese anfertigen ließen, denn das ergebnis hätte ich ihnen auch schon vorher mitteilen können. der rauswurf der fdp aus dem parlament läßt doch nicht den geringsten keinen zweifel daran, daß die bevölkerung für vorstellungen von freiheit nur wenig übrig hat. mir scheint, als ob sie ihren begriff von freiheit für freiheit schlechthin halten. das aber ist ein kardinaler fehler.

    wir leben in einer pluralistischen gesellschaft mit höchst unterschiedlichen und gegensätzlichen interessen, die im wesentlichen auf entprechend unterschiedliche sozio-ökonomischen lage zurückzuführen sind. dies bedingt eine ebenso unterschiedliche sichtweise darauf, was unter freiheit zu verstehen ist. merkwürdigerweise teilen hier die liberalen die sichtweise kollektivistischer, nationalistischer bzw korporatistischer weltbilder, deren grundprämisse besagt, daß es eine kollektive interessenidentität gibt. diese illusion der kolektiven interessenidentität liegt auch ihrem liberalen weltbild und damit auch ihrer studie zugrunde, denn im anderen falle müßten sie höchst differente sichtweisen auf den begriff der freiheit in rechnung stellen.

    ganz im gegenteil interessiert sie aber nur die abweichende einstellung der mehrheit der bevölkerung von ihrem begriff der freiheit, den sie illusionärer weise für die freiheit schlechthin halten. das aber ist eine ideologische selbsttäuschung, die sie offenbar verdrängen müssen bzw nicht in ihr bewußtsein treten lassen können. so ist es es durchaus amüsant zu lesen, daß die freiheit hinter den werten von sicherheit und gleichheit ins hintertreffen geraten sei. für einen normalverdiener muß aber eine solche entgegensetzung als absurd erscheinen, sieht er doch in mehr sicherheit und gleichheit einen ernormen freiheitzuwachs. er sieht dies nicht nur so, sondern erlebt es auch so hautnah.

    auch die ausweitung von staatstätigkeiten kann nur in seinem interesse sein. hier wird die interessendivergenz einer pluralistischen gesellschaft ganz offensichtlich: nur die armen benötigen einen starken staat, für die reichen und vermögenden hingegen ist er aber ein hindernis. wie sie selbst schreiben, betrachtet die mehrheit der bevölkerung einen so gearteten staat inklusive der beschriebenen sicherungssysteme als „gerechter, wohlhabender, menschlicher und lebenswürdiger, mit anderen worten: sie fühlen sich sichtlich freier.

    ihr liberalismusverständnis enthält somit ganz unverkennbar totalitäre momente ( die volonte generale der freiheit?), was zur konsequenz hat, daß sie der bevölkerungsmehrheit ein falsches bewußtsein unterstellen, was wiederum ein missionarisches und damit überhebliches aufklärungsbedürfnis zur folge hat.

    wenn sie wirklich ein liberales weltverständnis entwickeln möchten, sollten sie sich die implikationen ihres antipluralistischen weltbildes bewußt machen, was mit dem schönen nebeneffekt verbunden ist, daß sie auf derartige empirische untersuchungen künftig gut verzichten können.

    mit pluralistischen grüßen

    franz piwonka

  2. avatar

    K.K.: Aber wir leben in lauwarmen Zeiten. Früher war nicht nur mehr Lametta, es war auch noch richtig Wetter.

    … irgendwie stimmt das. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass früher selbst der 10 Meter Turm im Freibad viel höher war.

    Wer traut sich ohne Angelkarte zu angeln? Oder beim Nachbarn im Apfelbaum zu sitzen? Oder mit dem Luftgewehr Stare aus dem Kirschbaum zu ‚verscheuchen‘?
    Alles nur noch Warmduscher und Sachsen am Strand.

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