Soziologen sind, wenn sie gut sind, die Pathologen der Gesellschaft, gänzlich unsentimental. Ein Soziologe leidet an der Sarrazin-Krankheit, dieser bösartigen Volksfürsorge, fürchterlich.
Weil, er denkt so: Die modernste Organisation im ideengeschichtlichen Sinne ist ein Söldnerheer, die französische Fremdenlegion. Sie fragt nicht, woher die Menschen kommen. Sie kümmert nicht, ob der Vater Muselmann oder Jude oder Christ war, ob es den Brei mit goldenen Löffeln oder aus Holzschalen gab. Sie fragt nicht mal, wie ihre Aspiranten heißen. Die Geschundenen dieser Erde verpflichten sich für eine bestimmte Zeit und auf einen bestimmten Codex, und alles ist gut.
Der durch Geburt oder Umstände gebeutelte Mensch hat keine Vergangenheit mehr, die ihn drückt, nur noch eine jungfräuliche frische Zukunft. Das ist die Errungenschaft der Aufklärung: dass man Verträge schließt und es den Verträgen völlig egal ist, wer sie schließt.
Die Gesellschaft als Vertragszustand funktioniert ungeachtet der Personen, weil dem Vertrag egal ist, wer ihn schließt. Der Vertrag will eingehalten sein und ansonsten kann jeder nach seiner Facon selig werden.
Kontraktualismus heißt für den Soziologen das Geheimnis der Emanzipation von Kirchenterror und Adelsfron. Wir verdanken dem Konzept der Kontrakte nicht nur die religiöse und soziale Freiheit, sondern auch die persönliche.
Entscheidend ist nicht, was die Menschen sich an Vorurteilen und Geschmäckern entgegen halten, entscheidet ist, was auf dem Papier steht. Für den Einwanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika stand dort, dass alle Menschen ein Recht auf Glück haben und dass ein jeder der Schmied seines Glücks sein solle.
Die USA sind zur Weltmacht geworden, weil sie sich als Einwanderungsland verstanden haben, für das die alte Welt nichts, gar nichts zählt. Das Prinzip des neuen Gesellschaftsvertrages ist später durchbrochen worden durch religiösen Unsinn wie die Vorstellung, dass es Gottes eigenes Land sei, aus dem man die Indianer gerade vertrieben hatte.
Im Prinzip aber ist der amerikanische Traum ein Vertrag. Der böse Philosoph Nietzsche hatte schon ganz recht: Der Gesellschaftsvertrag ist ein Abkommen der Schafe gegen die Wölfe. Das garantiert den inneren Frieden.
Im Gesellschaftsvertrag geben auch die Wölfe das Recht des Stärkeren an den Staat ab, der mit seinem Monopol auf Gewalt und eine Rechtsordnung dafür sorgt, dass auch die Lämmer und die schwarzen Schafe eine Chance haben.
Und Ehen, das muss auch mal gesagt werden, halten besonders gut, wenn sie als Vertrag geschlossen werden, als Konvenienz- oder Zweckbündnisse. Neigungsehen, im Volksmund auch Liebesheirat genannt, sind ein Blütentraum, den der raue Wind des Lebens bald zerfleddert.
Man muss Fragen des Gefühls, des Geschmacks, der Vorlieben, jedweden ethischen Kram einfach raushalten aus dem gesellschaftlichen Leben – und alles ist gut. Wir schließen Verträge, halten den Vertragsinhalt ein und tun ansonsten, wonach uns die Laune steht.
Gesellschaftliche Fragen sind dann nichts Persönliches mehr, also auch kein Grund sich aufzuregen. Geht dieses Pathos der Distanz verloren, entbrennt eine Debatte der Eigentlichkeit. Wir fragen nicht mehr nach dem, was wir vereinbart haben, sondern danach, ob der andere ein guter Mensch sei.
Wir werden grundsätzlich. So stellen wir uns im Verhältnis zu Fremden die Frage, was uns von ihnen unterscheidet. Wir stellen sie mit einer gewissen Inbrunst im Verhältnis zu Fremden, die bei uns leben. Das scheint allen Völkern das Naheliegendste, sich darüber zu verständigen, was sie als Nation ausmacht. Dabei will man, wenn man schon vergleicht, nicht prinzipiell schlechter abschneiden.
Daraus mag eine Wettbewerblichkeit erwachsen, die die Menschen nur ehrgeiziger machen kann, zu sich selbst, zu ihrem besseren Selbst zu finden. Wer das entspannt kann, den nennt man einen Weltenbürger oder einen vaterlandslosen Gesellen, je nach Perspektive.
Zugleich liegt über dieser Frage der Ludergeruch der Ausgrenzung, des Pogroms, eines Krieges, des Völkermords. Ambivalent ist die Frage überall, in Deutschland ist der Hang zu Selbstfindungsmythen historisch diskreditiert, mit einem Tabu belegt, aber er existiert gleichwohl.
Auf der Suche nach einem Nationalcharakter sind Staaten, denen eine Seele fehlt. Das ist oft der Fall, da der Staat eigentlich nur ein blutloses Konstrukt ist, ein Vertrag. Diesen Vertrag schließen, ob sie es nun wissen oder nicht, die Bürger, die sich seinen Gesetzen unterwerfen, und die Nachbarn, die seine Grenzen respektieren. Allen Staaten fehlt die Seele. Staaten sind immer künstliche Konstrukte.
Und das ärgert sie, die gewaltigen Wesen, dass sie so auf tönernen Füßen stehen. Aber der Reihe nach. Wie entstehen Staaten? Aus Zufällen und nicht allen ist es an der Wiege gesungen. Man schaue auf die stolze Weltmacht, die nur die mehr oder weniger vereinigten Staaten von Nordamerika sind, eine Population, die sich mehrheitlich durch Verbrecher, Frömmler und Huren aus England gründete.
Die USA verfügen unter der zarten Schale über Provinzen und eine Provinzialität, die kulturell nicht weit von sogenannten Entwicklungsländern entfernt ist. Und nicht jeder texanische Rotnacken mag den Zentralstaat anerkennen. Der Geisteszustand der konservativen Politikerin Sarah Palin ist ein Paradigma für die dünne Haut der Aufklärung und Moderne, die auf dem alten Kakao schwimmt. Aber so ist es immer.
Ich liebe den Witz über den australischen Einwanderungsoffizier, der in unseren Tagen den britischen Bürger fragt, ob er Vorstrafen habe, worauf jener antwortet, er habe nicht gewusst, dass man noch immer welche brauche. Nach Down-Under hat das Commonwealth nicht seine edelsten Söhne expediert. Und das Vereinigte Königreich, dessen Westminster Demokratie wir als Besiegte des Faschismus zwangsweise lieben gelernt haben, ist eine Zwangsvereinigung der selbstbewussten Schotten, des zweisprachigen Wales und einer nordirischen Provinz mit Englang, der Hegemonialmacht im Inselreich. Das Vereinigte Königreich und Napoleons Heimat noch die großen Vorbilder für moderne Staaten. Unser deutsches Vaterland hat sich über Jahrhunderte nicht aus der Kleinstaaterei und dem feudalen Gewusel befreien wollen.
Dem galt ja der Sehnsuchtsruf des Hoffmann von Fallersleben, nachdem es von der Mars bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt endlich ein einig Vaterland geben sollte. Der Größenwahn hat das Vaterland dann ordentlich verkleinert, die Welt ins Unglück gestürzt; der Spaß an der nationalen Frage sollte uns vergangen sein.
Staaten, das war unser Argument, sind zerbrechliche juristische Zufallsprodukte der internationalen Politik. Nach außen bestehen sie aus Grenzen, die der böse Nachbar jeden Morgen neu zur Disposition stellen kann, siehe Israel.
Nach innen bestehen sie aus einer Rechtsordnung, die die Bewohner anerkennen, jeden falls im Prinzip; Kriminalität und Parallelgesellschaften höhlen das aus. Das Verwunderliche ist aber: Den Menschen reicht es nicht, in einer Rechtsform volatilen Charakters, in einem Konstrukt zu wohnen. Die Stämme, die den Staat bevölkern, entwickeln eine Sehnsucht höheren Ausmaßes.
Menschen sind geschichtenerzählende Tiere, am liebsten richtig große Geschichten, unter Megamythen tun sie es nicht so gerne. Sie wollen partout auch eine Nation sein. Und damit fängt das Elend an. Der Zufall wird umgelogen in eine Schicksalsgemeinschaft. Stammesregeln bestimmen Nationales. Rassenwahn entsteht und Religionskriege.
Ach, lasst uns keine Nation sein. Verzichten wir auf diese völkische Liebesheirat. Lasst uns einen Vertrag schließen. Da darf dann ganz Einfaches drinstehen, wie das Recht auf eine eigene Meinung und auf Eigentum. Oder Kompliziertes wie die Menschenwürde als Verfassungsgrundsatz. Und vielleicht auch, dass eine einheitliche Verkehrssprache gilt, zum Beispiel Deutsch. Oder die Schulpflicht für unsere Kinder. Lauter harmlose Dinge, deren Einhaltung man leidenschaftslos kontrollieren kann.
Die Jungs von der Legion hatte in Dhien Bien Phu und Sidi Bel Abbes fuer die Tricoleur gedient. Sie waren lustig, leichtsinnig, unbedacht, und meinten ich sollte mit ihnen zum einem „Buero“ kommen welches „Leute fuer Moises Tschombes Katanga Gendarmes“ sucht. Aber meine sechs Monate als aktiver Reservist in der U.S. Infantrie hatten mit schon sehr klar gemacht, dass ich ein libertarian-anarchistischer Abenteuerer bin – und „Zweckehen“ vermeiden sollte, eigentlich alle Ehen (Gott-sei-Dank, wegen dieser Einsicht habe ich diese „Fuegung“ vermeidet!) Das war vor einem halben Jahrhundert. Heute sind die Legionen alle eine serioese Berufskarriere – mein Freund Ernst der in der Legion Frankreichs diente, erhaelt eine gute Pension, wurde franzoesischer Staatsbuerger. Seine letzer Dienst fuer die Legion war als „Chef d’Atelier“ – Werkmeister des Fahrzeugparks in Guyane Francaise. Die Briten paktieren Kontrakte mit den Nepalesen – als „“Royal Ghurka Rifles“ – als Kannonenfutter im ersten Graben (Falklands, Irak, Afghanistan): Prinz Harry erscheint in Kampfuniform in BBC, aber die BBC Kamera vermeidet die kleinen asiastischen Kerle da unten im Dreck. Die verrueckte „Legion“ Spaniens („Die Verlobten des Todes“)wirbt auch entsprechende Fremde zum Dienst (Paradeuniform mit Hosentraegern und offenes Hemd bis zum Nabel, und enge Reithose, im winzigen Geschwindschritt hinter der Regimentsziege! Sehe youtube Video „la cabra de la legion“). Und Herr Ratzinger hat auch ein Werbebuero (tatsaechlich!) in der Schweiz – fuer seine 500 Jahre alte Legion: Bewerber muss schweizer Katholik mit vorherigen Militaedienst sein, und nie veheiratet…
Liebe Rita,
Ihren Hinweis auf Chinatown verwende ich auch gerne in Diskussionen. Gestern erzählten mir türkische Freunde, in Antalya gebe es Straßen, in denen fast nur deutsche Rentner leben. Mein Kommentar, die würden sicherlich alle perfekt die tükische Sprache beherrschen, rief großes Gelächter hervor.
Gerne verweise ich auch auf „unsere“ Nobelpreisträgerin Hertha Müller, die bis zu ihrem 17. Lebensjahr (glaube ich) nur Deutsch sprach, obwohl sie in Rumänien lebte. Gleiches gilt z.B. auch für die deutschen Enklaven in Brasilien.
Gruß
Ihr 68er
Lieber Herr Möller, gehören Sie zu einer Genration, die nie erlebt hat, daß gerade in USA Nichtweiße nicht die selben Busse benutzen durften wie Weiße, nicht dieselben Schulen und Restaurants besuchen, nicht die gleichen Eingänge, wie Weisse. Der Verhandlungspartner dieser Community war M.L. King, und der stand ständig unter Lebensgefahr.
Bei aller Sympathie für unsere amerikanischen Freunde, man sollte sie nicht nur als vorbildlich hinstellen.
Wahr ist allerdings, daß in Amerika ethnische Minderheiten sehr wohl in ihren Parallelgesellschaften leben „dürfen“, keiner findet etwas dabei, wenn die Chinesen in Chinatown leben, oder die Juden und Russen in little Odessa, oder Brighton Beach. Ein eingebürgerter Einwanderer ist dort nämlich zuerst Amerikaner und dann ????.
Dagegen will man in unserer Republik alle Schattengesellschaften zerschlagen und Migraten zwangsverdeutschen. Auch viele von uns Deutschen leben inzwischen in einer Schattenwelt – SM hier ist eine davon – in der ich mich außerordentlich wohl fühlen kann.
Hier gibt es, dem Allmächtigen sei Dank, nicht nur Vollidioten, für die mir meine Zeit zu schade ist.
Herr Kocks, die Idee eines Vertragsstaats ist ja nicht falsch. Nur: Der einzelne kann in diesem Vertragsstaat nur überleben, indem er sich einer religiösen, ethnischen oder rassischen Community anschließt. Die organisiert die erforderliche (außervertragliche) Solidarität und tritt stellvertetend für den einzelnen als Verhandlungspartner bei den Vertragsverhandlungen auf. So funktioniert es in den USA (dort, wo es gut funktioniert.)
D.h. die Deutschen könnten auf einen Nationalstaat nur dann verzichten, wenn sie ersatzweise eine starke ethnodeutsche Community hätten.