Die Rede war im letzten Beitrag von englischen Popsongs, die bestimmte Orte evozieren, und die These war, dass Lieder wie „Penny Lane“ vorauseilende Nostalgie evozieren: die Sehnsucht nach etwas, das gerade noch da, aber im Schwinden begriffen ist.
In den USA ist das auf bezeichnende Weise anders. Dort wird die gute alte Zeit auf den Raum projiziert: das Land, die Ranch, die Kleinstadt verkörpern das gefährdete Gute; die Stadt die Gefahr und das Böse. Es gibt darum nur wenige Songs, die das hohe Lied der Großstadt singen. Jeder kennt zwar „New York, New York“ von Fred Ebb und John Kander aus dem Jahr 1977, aber dort wird weniger die Stadt selbst thematisiert als die Ambition der Sängerin (der Song wurde für Liza Minelli geschrieben):
These little-town blues / Are melting away
I′ll make a brand new start of it / In old New York
If I can make it there / I′ll make it anywhere
It’s up to you, New York, New York
Das 20. Jahrhundert ist in den USA wie in Europa das Jahrhundert der Landflucht, der großen Migration in die großen Städte. Wer ambitioniert ist, ob als Jazz-Musiker oder Schauspieler, Gangster oder Künstler, zieht nach New York, Chicago, Los Angeles oder Detroit. Wer nur wegkommen will von der Armut und der Knochenarbeit auf dem Land, zieht nordwärts und stadtwärts. Bei den Schwarzen kommt hinzu, dass der ländliche Süden Hort der Apartheid ist, der urbane Norden mit dem Versprechen der Gleichberechtigung winkt. Die katholischen Iren und Italiener, die Juden und die aus Europa geflüchteten Intellektuellen bleiben ohnehin in den Städten hängen.
So ist der Gegensatz Stadt-Land in den USA noch mehr – und auf jeden Fall früher – als in Europa auch ein rassischer, kultureller und mentaler Unterschied; das Land der Hort treuer Mädchen mit goldenen Haaren und schweigsamer Männer mit starken Armen; die Stadt der Ort der Entfremdung. Darum ist das 20. Jahrhundert in der populären Musik der USA noch mehr als in Europa das Jahrhundert des Katers am Morgen danach, der Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld und der heilen Welt der Kleinstadt.
Nehmen wir den archetypischen Song „Detroit City“, geschrieben von Danny Dill und Mel Tillis, berühmt geworden vor allem durch die Interpretation von Bobby Bare 1963. Im Grunde genommen handelt er nicht von Detroit, wo der Sänger „tagsüber Autos baut, nachts in den Bars abbaut“, sondern von der Heimatstadt des Sängers irgendwo in den Südstaaten:
Last night I went to sleep in Detroit City
I dreamed about them cotton fields of home
I dreamed about my mother, dear old pappy, sister and brother
And I dreamed about the girl who’s been waitin‘ for so long
I want to go home
I want to go home
Oh, how I want to go home
Man könnte sich fragen, was an Baumfeldern romantisch sein soll, dem Ort der Ausbeutung schwarzer Sklavenarbeit und der Selbstausbeutung armer weißer „sharecroppers“. Aber das Wort „home“, gern mit Tremolo gesungen, ist entscheidend.
So auch in der Ballade „The Green, Green Grass of Home“, von Curly Putman, die jeder und sein Hund gesungen hat, weil sie wirklich sehr schön ist, aber niemand herzzerreißender als Tom Jones 1966. Auch hier träumt der Sänger von Mama, Papa und dem treuen Mädchen mit – natürlich – „goldenen Haaren“ (auch in der Version des großen Joe Tex, den man in jeder Stadt des ländlichen Südens wie Emmett Till gelyncht hätte, wenn er einer blonden Mary auch nur hinterhergepfiffen hätte):
The old hometown looks the same
As I step down from the train
And there to meet me is my mama and papa
Down the road I look and there runs Mary
Hair of gold and lips like cherries
It’s good to touch the green, green grass of home
Wie es sich herausstellt, ist dieser Traum – mit dem alten Holzhaus, das dringend gestrichen werden muss und der alten Eiche, in deren Ästen der Sänger früher gespielt hat – besonders bittersüß, weil der Sänger ihn in der Nacht vor seiner Hinrichtung träumt. Anscheinend ist er in der großen Stadt vom Wege abgekommen, und wird nun mit dem „traurigen alten Priester“ den Weg zum Galgen antreten müssen.
Nicht ganz so drastisch geht es bei Kris Kristofferson zu, wo der Sänger von „Sunday Mornin‘ Coming Down“ zwar Alkoholiker ist und alle möglichen Substanzen raucht, aber – noch – nicht in der Todeszelle sitzt. Als er halb besoffen in das blendende Licht eines Kleinstadtsonntagmorgens hineintaumelt, riecht er, wie irgendeine Mama oder Oma Hühnchen brät, sieht er im Park einen Vater, der seine Tochter auf der Schaukel anschubst, hört die Kinder in der Sonntagsschule Hymnen singen und die Glocken, die zum Gottesdient rufen, und all das
.. took me back to somethin‘
That I′d lost somehow, somewhere along the way …
Nämlich
… the disappearing dreams of yesterday
Aber auch Schwarze – wir haben Joe Tex schon erwähnt – singen gern das Lied des Heimwehs:
I left my home in Georgia / Headed for the Frisco Bay …
heißt es in dem von Otis Redding und dem (weißen) Gitarristen Steve Cropper 1967 geschriebenen „(Sittin‘ On the) Dock of the Bay“). Auch hier intoniert Redding das Wort „home“ mit einer solchen Inbrunst, dass man beinahe vergessen kann, dass es in Georgia allein zwischen den 80er Jahren des 19. und den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts über 450 Lynching-Fälle gab. Natürlich ist San Francisco, auch jenseits von Hippies und dergleichen, ein besserer Ort. Und doch:
Sittin‘ here resting my bones / And this loneliness won’t leave me alone …
Es gibt buchstäblich Tausende solcher Songs, in denen das ländliche als das bessere Leben dargestellt wird, wo die Leute noch Familie und Tradition ehren, sonntags in die Kirche gehen und … apropos:
You go t’the field on week days
And have a picnic on Labor Day
You go to town on Saturdays
But go to church ev’ry Sunday
They call it Nutbush …
Tina Turner, die als junges Mädchen aus der Kleinstadt Nutbush in Tennessee ausgebrochen ist, macht hier die Verherrlichung der Kleinstadt nicht mit, sondern thematisiert deren puritanische Lustfeindlichkeit:
The people keep the city clean … Twenty-five was the speed limit / Motorcycle not allowed in it … No whiskey for sale / You get caught, no bail … Little old town in Tennessee … a quiet, little old community / A one-horse town / You have to watch / What you’re puttin‘ down in old Nutbush
Und Jeannie C. Riley, eine weiße Country-Sängerin, die später eine wiedergeborene Christin und Gospelsängerin wurde, zog 1968 mit dem Song „Harper Valley PTA“ – geschrieben von Tom T. Hall – der Kleinstadt die Maske vom bigotten Gesicht. Eine verwitwete und alleinerziehende Mutter wird vor den Eltern-Lehrer-Ausschuss der Stadt zitiert, weil sie Miniröcke trägt und sich in Kneipen mit Männern trifft. Der Ausschuss hat seine Zweifel, ob sie geeignet ist, eine pubertierende Tochter zu erziehen.
Woraufhin Mrs Johnson loslegt: sitzt da nicht Bobby Taylor, der sie schon sieben Mal auf ein Date eingeladen hat und dessen Frau ihn betrügt, wenn, wenn er nicht da ist? Und daneben Mr. Baker, dessen Sekretärin die Stadt verlassen musste, vermutlich, um eine Abtreibung zu bekommen? Die verwitwete Mrs Jones, die immer vergisst, die Jalousien zuzumachen, wenn sie sich auszieht und duscht? Warum fehlt Mr Harper? Immer noch auf Entzug? Und riecht Shirley Thompsons Atem nicht nach Gin?
And then you have the nerve to tell me you think that as a mother I’m not fit
Well, this is just a little Peyton Place and you’re all Harper Valley hypocrites!
„Peyton Place“ hieß ein Bestseller von Grace Metalious (der wiederum eine Reihe von Filmen und TV-Serien zeugte); das Buch habe ich als Teenager nur auf der Suche nach „Stellen“ durchgeblättert, nie ganz gelesen, aber es gab ja auch ziemlich viele „Stellen“, weil es in dieser fiktiven Kleinstadt im puritanischen Neuengland noch schlimmer zugeht als in Harper Valley.
Aber vielleicht ist auch das nur ein Wunschtraum: hinter der wohlanständigen Fassade ein Abgrund von Lust und Verkommenheit. Vielleicht ist die Kleinstadt einfach langweilig, Punkt. Und aus dieser Erkenntnis hat John Sebastian einen seiner gelungensten Songs gemacht: „Boredom“: Langeweile.
Boredom, hangin′ by myself in a bleak motel
Overnight in a small town
Boredom, my mind’s countin′ time, trucks go rollin‘ by
Past the pumps and highway signs.
Never was a place that felt less like home
Never would‘ve come here if I′d only known:
That it′s a one-channel town and I’m all alone
I can′t just sit and watch my telephone
Cause no one knows my number and it can’t be found
And there′s no good people just kickin‘ around
So here we are together, machines and me
I feel about as local as a fish in a tree –
And it′s boredom, my mind’s countin‘ time, trucks go rollin′ by
Past the pumps and highway signs.
And in this town all the other sounds have ceased
And the Late Late Show died long ago
With a few words from a priest.
Boredom, hangin′ by myself in a bleak motel
Overnight in a small town
„Never was a place that felt less like home“, stellt Sebastian fest. Eine klare Absage an die Romantisierung dieser Nicht-Orte, durch die LKWs donnern, vorbei an Tankstellen und Neon-Werbung für Hamburger, und wo er unter allen möglichen Adjektiven für ein Motel das unübertreffbare „bleak“ findet, Charles Dickens und „Bleak House“ lassen grüßen.
Und – nur dies noch als Gedanke zum Schluss, obwohl wir nicht über Randy Newman und Dayton Ohio im Jahr 1903 oder Baltimore in den 1970ern gesprochen haben, und auch nicht über Hotels und Motels in der Rockmusik, bei Elvis, den Eagles und Doors und Stones und natürlich Dylan – nur dies noch: Aus der Romantisierung einer Heimat, die es nie gab – Bobby Bares mythisches Mädchen, schreibt Dylan gleich zu Beginn seines Buchs über die Philosophie des modernen Songs, hat längst einen Scheidungsanwalt geheiratet und drei Kinder bekommen – entsteht vermutlich alles, was schlecht ist in der Politik.
Aktuell der Trumpismus, klar; nicht zufällig ist Trumps Vizepräsident Autor eines Buchs mit dem Titel „Hillbilly Elegy“. Aber auch auf der Linken gibt es den antiamerikanischen und antimodernen Reflex, die sentimentale Vergötterung von „indigenen“ Völkern und Kulturen, die Projektion einer idealisierten Vergangenheit in die Zukunft, wie es der furchtbare Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“ schrieb: Hat der arbeitende Mensch erst den Sozialismus erschaffen, „so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Die Utopie als Regression. Als Country-Song. Nun, als Song, gut für ein paar Tränen, lasse ich die Sehnsucht nach dem, was in die Kindheit scheint, noch gelten. Aber dann heißt es doch, erwachsen werden. Auf nach New York.