Christian Böß bat mich, etwas zu „Moonlight Mile“ zu schreiben, „weil ich das Stück liebe, obwohl es in meinen Ohren so Stones-untypisch ist“, wie er mir auf Facebook schrieb. Nun gut, mit den Ohren und dem Typischen ist das so eine Sache. Wie ist es etwa mit dem Album „Their Satanic Majesties Request“ von 1967? Oder mit dem Vorgänger-Album „Between the Buttons“ aus dem gleichen Jahr, mit Songs wie „Something Happened to Me Yesterday“: Stones-typisch? Wie Stones-typisch sind Songs wie „Lady Jane“ vom Album „Aftermath“ (1966), „No Expectations“ und „Prodigal Son“ von „Beggar’s Banquet“ (1968), oder auch „Girl With Far Away Eyes“ von „Some Girls“ (1978)? Was ist mit dem Disco-beeinflussten Titeltrack von „Emotional Rescue“ (1980) oder die punkigen Songs „Neighbours“ vom gleichen Album und „Hang Fire“ von „Tattoo You“? Na, und so weiter und so fort bis zur neuesten Single im Zydeco-Sound.
Wirklich gute Musiker erkennt man daran, dass sie sich nicht ohne Weiteres typisieren lassen. Dass sie sich auf Experimente und Wandlungen einlassen. Allen voran ist da natürlich Bob Dylan zu nennen. Andere Geschichte.
Aber gut, es stimmt schon: das Stück „Moonlight Mile“ – vom Album „Sticky Fingers“ (1971) – ist musikalisch … merkwürdig. Da ist die Struktur des Songs, der sich in der Mitte zu verlieren scheint, als habe sich der Sänger auf der Mondlichtmeile verirrt. Da ist das Streicher-Arrangement, das an die Art erinnert, wie John Lennon Streicher eingesetzt hat, zuerst bei „Strawberry Fields Forever“, später auch auf dem Album „Imagine“, das etwa gleichzeitig mit „Sticky Fingers“ entstand; wie denn überhaupt Jaggers Stimme zu Beginn dieses Songs mit dem Umschlagen ins Falsett bei den hohen Tönen ein wenig lennonesk klingt. (Lennon hätte aber mehr Hall verwendet.)
Über Yoko Ono war Lennon auch von der japanischen Musik beeinflusst worden, und „Moonlight Mile“ hat Jagger aus einer Gitarrenfigur entwickelt, die er „The Japanese Thing“ nannte. Gerade zu Beginn klingt der Song, als werde der Sänger gleich von Kirschblüten und Teezeremonien, Geishas, Kimonos oder Atombomben singen.
Ja, Atombomben. 1970 hatte die britische Band „Wishful Thinking“ den schönen und traurigen Song „Hiroshima“ veröffentlicht, der interessanterweise die Zeile enthält: „There’s a shadow of a man at Hiroshima / Where he passed the moon“. Aber ob Jagger den Song gehört hatte und darum die Assoziation Japan / Mond bewusst oder unbewusst formte, weiß man nicht; „Hiroshima“ wurde erst bei seiner Neuveröffentlichung 1978 ein Hit, und eigentlich nur in Deutschland, wo die so genannte Friedensbewegung zusammen mit der anti-Atomkraft-Bewegung damals Fahrt aufnahm. Die Puhdys (ausgerechnet …) und Sandra haben deutsche Versionen aufgenommen.
Der Erfolg von „Hiroshima“ kann man vielleicht als eine Art Wiedergutmachung für die Geschmacklosigkeit der deutschen Version von Kyu Sakamotos Ballade „Ue o Muite Arukō“ (1963), wo die Blue Diamonds – die ihrerseits aus Indonesien stammten, das im Zweiten Weltkrieg von Japan besetzt gewesen war – sangen:
„Beim Suki-Sukiyaki / In Naga-Nagasaki …“
Dabei geht es in Sakamotos Song weder um Sukiyaki noch erst recht um Nagasaki. Oder allenfalls indirekt, weil der links-friedensbewegte Textdichter Rokusuke Ei seine Frustration über den Abschluss des japanisch-amerikanischen Verteidigungsabkommens in dem Song zum Ausdruck brachte, wo ein Mann in den Himmel schaut, um seine Tränen zurückzuhalten. Im Text allerdings ist von dem politischen Anlass des Songs keine Rede.
In den USA war der Song immerhin in der Originalsprache ein Hit, die Plattenfirma aber wählte den Titel „Sukiyaki“, weil das damals so ziemlich das einzige japanische Wort war, das die meisten Amerikaner kannten. Mitsubishi, Toyota und Co. lagen noch in der Zukunft, und „Harakiri“ klingt nicht gerade nach dem Titel eines Hits. Man kann also Konrad Wolf aka Ronald Sekura, der für die Blue Diamonds einen deutschen Text schrieb, nicht vorwerfen, dass auch der nur von verflossener Liebe handelt. War es aber schon ein Unding, Sakamotos Song in den USA unter dem Namen eines populären japanischen Gerichts zu vermarkten, so als würde man „Moon River“ (schon wieder der Mond!) in Japan unter dem Namen „Big Mac“ oder „T-Bone Steak“ veröffentlichen, so fragt man sich, wie eine Geschmacklosigkeit wie Suki-Sukiyaki in Naga-Nagasaki beim damaligen deutschen Publikum durchgehen konnte. Aber gut, noch 1974 wurde „Theo, wir fahrn nach Lodz“ zum größten Hit für Vicki Leandros, obwohl dem Song das antipolnische österreichische Kriegslied „Rosa, wir fahrn nach Lodz“ als Vorlage diente:
„Lang hat der Franzl nachgedacht
wohin die Hochzeitsreis‘ er macht
da plötzlich kam das Kriegsgebraus
und Franzl rief begeistert aus:
Rosa, wir fahr’n nach Lodz.“
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei Japan und möglichen Einflüssen von Lennon und „Wishful Thinking“ auf Jaggers „Moonlight Mile“. Mindestens genauso wichtig dürfte Van Morrisons Album „Moondance“ (1970) gewesen sein, auf dem sich der wunderbare Song „Into the Mystic“ befindet, der harmonisch und melodisch ein wenig an „Moonlight Mile“ erinnert; auch textlich gibt es Parallelen. Gleich in der ersten Zeile singt Morrison: „We were born before the wind“; Jagger: „When the wind blows …“; und sowohl Morrison als auch Jagger versprechen einer Frau: „I’m coming home“ und träumen von einer zugleich sexuellen wie mystischen Vereinigung: „And together we will float / Into the mystic“, singt Morrison, und Jagger: „I’m riding down your moonlight mile (…), flow now, baby“.
Jaggers Song – den Text findet man wie immer unten – ist ein Exemplar des Genres „Ich bin auf Tournee und wäre lieber bei dir“. Man denke etwa an „Homeward Bound“ von Simon & Garfunkle oder „Super Trouper“ von Abba. (Ja, ihr habt nicht gedacht, dass ich die mal zitieren würde, aber manche Abba-Texte sind wirklich gut, man denke an „Fernando“ oder „Knowing Me Knowing You“.)
Kalter Wind, kalter Regen, der Kopf voll Koks, das eigene Gesicht im Tourneebusfenster, Fremde reden durcheinander, der übliche Wahnsinn der Tourneetage, der Nächte, die nicht vergehen wollen, während man langsam runterkommt vom Speed. Wie gern läge ich bei dir, aber ich bin zweitausend Lichtjahre von zuhause, noch eine Mondlichtmeile on the road …
Irgendwann schmeiße ich meine Glitzersachen alle auf einen Haufen, werde endlich wieder warm, höre im Radio einfach gar nichts außer dem Funkwellenrauschen, aber noch schlafe ich unter fremden Himmeln, träume in Zügen, bin eine Mondlichtmeile von dir entfernt.
Vor alledem verstecke ich mich jetzt und träume davon, wie ich deine Mondlichtmeile befahre, wie wir alles fahren lassen und davonfließen.
Da sind ein paar schöne Formulierungen drin, allen voran die „Moonlight Mile“ selbst, aber auch die Bühnenkleidung, die zu einem Lumpenhaufen wird, das Gesicht im verregneten Fenster, das einem irgendwie bekannt vorkommt, das Rauschen des Radios.
Ein schöner Song. Danke für den Tipp, Christian.
When the wind blows and the rain feels cold
With a head full of snow, with a head full of snow
In the window, there’s a face you know
Don’t the night pass slow, don’t the nights pass slow
The sound of strangers sending nothing to my mind
Just another mad, mad day on the road
I am just living to be lying by your side
But I’m just about a moonlight mile on down the road
Made a rag pile of my shiny clothes
Gonna warm my bones, gonna warm my bones
I got silence on my radio
Let the air waves flow, let the air waves flow
Oh, I’m sleeping under strange, strange skies
Just another mad, mad day on the road
My dreams is fading down the railway line
I’m just about a moonlight mile down the road
Yeah-yeah, yeah-yeah-yeah
I’m hiding, sister, and I’m dreaming
I’m riding down your moonlight mile
I’m hiding, baby, and I’m dreaming
I’m riding down your moonlight mile
I’m riding down your moonlight mile
Let it go now, come on up, babe
Yeah, let it go now
Yeah, flow now, baby
Yeah, home now, yeah
Yeah, I’m coming home
‚Cause I’m just about a moonlight mile on down the road