Was sich Leyla Roos in der taz mit dem Satz „Allerdings spielt die Verdachtsberichterstattung eine große Rolle bei der Aufarbeitung von Straftaten, die juristisch meistens nicht nachweisbar sind“ leistet, ist brandgefährlich – und eine rhetorische Abrissbirne gegen das Fundament eines jeden Rechtsstaats: die Unschuldsvermutung. In zivilisierten Gesellschaften gilt ein klarer Grundsatz: Niemand ist schuldig, solange seine Schuld nicht bewiesen ist – nicht gefühlt, nicht vermutet, sondern bewiesen. Punkt.
Was Roos da formuliert, ist nichts anderes als ein Frontalangriff auf diesen Grundsatz. Sie wünscht sich faktisch eine Art mediale Ersatzjustiz, wenn die juristische Justiz – wie sie unterstellt – „versagt“. Das klingt vielleicht mutig, ist in Wahrheit aber erschreckend zynisch: Wer diesen Weg beschreitet, ebnet nicht etwa den Opfern den Weg zur Gerechtigkeit, sondern öffnet der öffentlichen Hinrichtung Unschuldiger Tür und Tor.
Sexualisierte Gewalt ist ein großes Problem, Hexenjagden aber auch
Und ja, selbstverständlich ist sexualisierte Gewalt ein reales, großes Problem. Niemand mit einem Funken Anstand stellt das in Abrede. Aber gerade deshalb braucht es sorgfältige Ermittlungen, rechtsstaatliche Verfahren – und eben keinen moralischen Pranger, bei dem eine Journalistin entscheidet, wann mediale Vorverurteilung erlaubt sein soll, weil ihr die Beweislage nicht gefällt.
Roos tut so, als sei Verdachtsberichterstattung eine moralisch gerechtfertigte Notwehrmaßnahme gegen ein versagendes System. Dabei unterläuft sie selbst alle Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und journalistischer Verantwortung. Wer so argumentiert, legt Feuer an die Idee der fairen Verfahrensführung. Wer so schreibt, zeigt nicht Mut, sondern Missachtung für rechtsstaatliche Prinzipien.
Medien haben große Macht – und deshalb große Verantwortung
Die Medien haben die Macht, Existenzen zu zerstören – und deshalb die Pflicht zur maximalen Zurückhaltung, solange Schuld eben nicht bewiesen ist. Roos hingegen scheint diese Grenze nicht nur zu verschieben, sondern einzureißen. Was bleibt, wenn man ihrer Logik folgt, ist eine Welt, in der das Bauchgefühl der Presse über die Beweislage eines Gerichts triumphiert. Willkommen in der Gesinnungsjustiz!
Leyla Roos meint, dass die Karrieren von Lindemann und Boateng doch „offensichtlich nicht geschädigt“ seien. Was für ein Zynismus, denn natürlich bleibt trotz nicht erfolgter Verurteilungen immer etwas hängen. Dafür sorgen schon irrlichternde Hobbyrichter wie Frau Roos, die sich in den längst überfüllten Schmollwinkel zurückziehen und dort felsenfest weiterhin behaupten, was nicht beweisbar ist – die Schuld eines Beschuldigten. Aber nicht die mediale Schlagzahl, sondern das Urteil eines unabhängigen Gerichts entscheidet über Schuld und Unschuld. Und wenn dieses Gericht mangels Beweisen kein Verfahren führt oder freispricht, dann heißt das nicht: „Die sind halt davongekommen.“ Es heißt: Sie sind unschuldig – und verdienen Schutz, nicht Dauerbeschuss und Nachtreten. Ja, es ist so einfach.
Dass die taz solch eine Haltung unkommentiert durchwinkt, ist kein mutiger Journalismus, sondern das Gegenteil: ein Rückfall in dunkle Zeiten, in denen Rufmord zum legitimen Mittel der Moral wurde. Nein, die Unschuldsvermutung ist keine Bagatelle für Systemfreunde – sie ist die letzte Bastion gegen die Willkür. Auch – und gerade – für jene, die nichts verbrochen haben. Und wer diese Bastion schleift, gefährdet nicht nur Einzelne, sondern uns alle.
Ja klar: Der Rechtsstaat soll die Klappe halten, wenn es politisch opportun ist. Jan v. Aken von der Linkspartei will ja auch linksradikale Gewalttaten geringer bestraft sehen als die des politischen Gegners. Dazu soll Moral, deren linke Moral wohlgemerkt, herhalten. Die ‚gute Sache‘ sozusagen. Interessant: Wer deswegen allzu moralisierende Argumenta. tionen in der Politik kritisch sieht – ja es geht immer um Deutungshoheit bzw. Macht – ist mindestens ein verkommen er Nietzscheaner, ‚rechts‘ sowieso.
Gut dass es die TAZ gibt, da kann man zumindest wissen, wie es in ihnen denkt. Und Nietzsche hilft ja tatsächlich, diese Versuche, die totalitäre Macht über Recht und Moral zu ergreifen, zu erkennen: Denn Gott ist ja bekanntlich tot.