2007 veröffentlichte ich ein Buch, „Imperium der Zukunft“, in dem ich begründete, warum Europa das Primat der Außenpolitik begreifen und sich den entsprechenden Herausforderungen stellen müsse. Da das Buch inzwischen verramscht wird, darf ich wohl einen längeren Abschnitt daraus zitieren. Es handelt sich um das Protokoll eines Gesprächs mit dem Leiter eines Moskauer Thinktanks, in dem er den Gedanken eines strategischen Bündnisses zwischen Europa und Russland auf der materiellen Grundlage des Rohstoffexports und der ideologischen Grundlage des Ethnonationalismus entwickelte. Etwas Ähnliches könnte das Ergebnis des historischen Verrats der Trump-Administration an der Ukraine und der kollektiven Verteidigung bald Wirklichkeit werden. Es sei denn, Europa …
Hier der Text von 2007:
Wjatscheslaw Nikonow ist der Enkel des alten Stalin-Vertrauten Wjatscheslaw Molotow. Ein derart intimes Familienverhältnis zu einem Bürokraten des Todes würde man in Deutschland vermutlich eher vergessen machen wollen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich etwa der Enkel Joachim von Ribbentrops, der mit Molotow den Hitler-Stalin-Pakt aushandelte, mit einer solchen Verwandtschaft hausieren ginge. Dass Nikonow, der einen Moskauer Think-Tank leitet und sich selbst als „Guru der jungen Putin-Leute im Kreml“ bezeichnet, bei jeder Gelegenheit genau das tut, sagt einiges über ihn aus. Und es sagt einiges über das Verhältnis des heutigen Russland zu seiner totalitären und imperialen Vergangenheit, dass diese Verwandtschaft als Empfehlung gilt.
Ich treffe Wjatscheslaw Nikonow in Jerusalem anlässlich einer Konferenz über die künftige Erweiterung der Europäischen Union. Es geht den Veranstaltern eigentlich um Israel, aber sie haben Vertreter weiterer Beitrittskandidaten eingeladen, einen Professor aus Ankara zum Beispiel – und aus Moskau Nikonow.
Bei Couscous und Rotwein kommen wir ins Gespräch. Am Nachmittag hat Israels Außenministerin Tsipi Livni die müden Konferenzteilnehmer elektrisiert mit der spontanen Bemerkung, in den Beziehungen ihres Landes mit der EU dürfe es keine Denkverbote geben: „The sky is the limit.“ Nikonow ist sichtlich belustigt über die „Europhorie“ der Teilnehmer, aber auch sichtlich verärgert über die Zumutung, als Vertreter eines Beitrittskandidaten eingeladen zu sein.
„Russland ist nicht auf dem Weg zur Europäischen Union“, sagt er. „Die Chance gab es, Anfang der 1990er Jahre. Aber Europa hat diese Chance verspielt. Wir haben den Franzosen damals eine großeuropäische Lösung angeboten. Europa hätte dadurch eine Supermacht werden können, heute wäre es vielleicht die einzige Supermacht. Aber Europa mangelte es damals an Politikern, die groß denken. Stattdessen setzten sie auf die Nato-Erweiterung. Also auf die amerikanische Option statt auf die russische. Russland hat daraus seine Schlussfolgerungen gezogen. Heute setzt Russland nur auf sich. Wir sind nicht mehr bereit, über unsere Souveränität mit irgendjemandem zu verhandeln. Wenn wir jetzt über die europäische Integration reden, meinen wir etwas anderes als damals. Integration ist keine Einbahnstraße. Verstehen Sie?“
Molotows Enkel wedelt mit seiner Gabel und zeigt auf die Einrichtung des Jerusalemer Restaurants, das von marokkanischen Juden betrieben wird: die maurischen Bögen, die arabischen Schriftzüge an der Wand. „Wissen Sie, was das hier ist? Das ist die Europäische Union. Wissen Sie, was der beliebteste Name für neugeborene männliche Kinder in Brüssel heute ist? Mohammed. Und wissen Sie, wie die größte europäische Stadt heißt? Moskau. Verstehen Sie? Think big! Auf solchen Konferenzen wie heute halten die Leute Vorträge über europäische Werte, aber wo ist Europa noch Europa? In Brüssel oder in Moskau? Wer kämpft noch für Europas Werte? Allenfalls die Amerikaner, und die sind dabei, im Irak aufzugeben. Wir haben in Tschetschenien einen islamistischen Aufstand besiegt. Think big!”
Wir bestellen noch eine Flasche Rotwein von den Golan-Höhen. „Verstehen Sie, mir geht es nicht um Idealismus”, sagt Nikonow. „Mir geht es um reinen Opportunismus. Dem Opportunismus gehört die Zukunft. Ich appelliere also an den berühmten europäischen Opportunismus. Denn ihr braucht uns mehr, als wir euch brauchen. Die Autarkie ist für uns eine echte Option, für euch nicht. Mit sieben Prozent Wachstum schon im siebenten Jahr hintereinander wird Russland bis zum Jahr 2020 Deutschland als größte Volkswirtschaft des Kontinents ablösen. Wer ist unser wichtigster Handelspartner heute? China. Wer sind unsere Handelspartner der Zukunft? Indien und die anderen asiatischen Tiger. Unsere Geschäftsleute sind heilfroh, dass ihnen die sozialistische Bürokratie nicht im Wege ist. Ich meine die in Brüssel. Nirgendwo macht man es den Geschäftsleuten schwerer als in der EU. Und wissen Sie, wer mir das sagte? Michail Chodorkowski.“ Nikonow sagt das ohne einen Anflug von Ironie.
„Den haben nicht die Brüsseler Bürokraten ins Arbeitslager nach Sibirien geschickt, sondern Sie“, werfe ich ein wenig verärgert ein. „Das stimmt“, sagt Nikonov. „Das haben allerdings wir getan.“ Und er schmunzelt zufrieden. „Wie gesagt, Sie brauchen uns nicht zu mögen. Aber Sie sollten mit uns rechnen. Russland ist dazu bestimmt, vielleicht dazu verurteilt, ein unabhängiger Machtpol zu werden, wie die USA, wie China, wie die EU. Und wir sind jetzt stärker als die alte Sowjetunion. Wissen Sie warum? Weil wir ein echter russischer Nationalstaat geworden sind. Jetzt sind 83 Prozent unserer Bevölkerung Russen, in der alten Sowjetunion waren es nur 43 Prozent. Wir wissen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Verstehen Sie?“
„Für uns im Westen sieht es aus, als ob Putin das alte Zarenreich wieder errichten will“, sage ich.
Meinem Gesprächspartner steigt die Zornesröte ins Gesicht. „Das ist die alte westliche Doppelmoral. Wie sollen wir denn eure Politik nennen? Die Ausdehnung der Nato bis an unsere Westgrenze? Die Stationierung eurer Truppen in Zentralasien? Die Besetzung Afghanistans? Warum sind die Araber, die euch angreifen, Terroristen, aber die Tschetschenen, die uns angreifen, Freiheitskämpfer? Warum sollen wir akzeptieren, dass die Nato und die EU ohne Legitimation durch den Sicherheitsrat Krieg gegen Serbien führen? Warum sollen wir akzeptieren, dass sie anschließend die Provinz Kosovo vom christlichen Serbien abtrennen, um es muslimischen Terroristen zu geben? Wie kann es angehen, dass EU und Nato Serbien aufteilen, uns aber verbieten wollen, vergleichbare Lösungen für Abchasien, Südossetien oder Transnistrien anzustreben?“ Die Rede ist von den georgischen und moldawischen Provinzen, die den Anschluss an Russland suchen.
„Aber reden wir nicht von Recht und Anstand, reden wir von dem, was ihr Europäer am besten versteht, vom Geschäft. Wir sind nicht nur euer drittwichtigster Absatzmarkt. Wir sind der größte Energieproduzent der Erde, noch vor Saudi-Arabien. Wissen Sie, wir wollen gern ein zuverlässiger Lieferant für Europa sein. Aber wie jeder Lieferant brauchen wir zuverlässige Kunden. Wenn die EU einen Kalten Krieg in Sachen Energie haben will, könnte es in Europa eines Winters sehr kalt werden.“
Die Weinflasche ist leer. „Das klingt beinahe wie eine Kriegserklärung“, sage ich. Nikonov steht auf und klopft mir freundlich auf die Schulter. „Nein, mein Freund, im Gegenteil: das sind unsere Friedensbedingungen.“
– @APO
Wenn Ihr Gesprächspartner etwas wie Ethnonationalismus im Sinn hatte – in dem von Ihnen zitierten Text ist das eher nicht zu sehen – ist er heute einer von gestern. Der dumpfe alte Ethnonationalismus würde zu bedrohlichen oder auch nur lästigen Konflikten führen, siehe Russland vs. Ukraine.
Putin und Trump sind inzwischen weiter, Ihre Methoden raffinierter. US-Vizepräsident Vance zeigt sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz nicht besorgt über die Bedrohung des Westens von außen. Er stellt die innereuropäischen Verhältnisse als Bedrohung dar. Erklärt sie in einer ellenlangen Aufzählung für undemokratisch und westliche Werte verletzend. Und verspricht, der neue Sheriff in Washington werde für die Rechte der Menschen in Europa kämpfen.
Es geht wiedermal um, Gott habe die Neocons selig: regime change! Nur eben nicht mit Raketen, Bomben und Luftlandetruppen, sondern billiger und womöglich wirksamer. Ziel ist es, innerstaatlich bewunderte und mit globalem Freifahrtschein ausgestattete DealMaker an die Macht zu bringen.
Es geht nicht um Ethnonationalismus. Glaube ich jedenfalls nicht. Die Losung ist eher: „Lass‘ die kosmopolitischen Eliten mal machen! Das funktioniert. Das ist effektiv. Denen kannst Du vertrauen.“
Nein, lieber EJ, das glaube ch eben nicht. Gerade gegen die kosmopolitischen Eliten geht es. Entweder sie ordnen sich unter, wie Musk, kuschen, wie vorauseilend Zuckerberg, oder sie werden entsorgt. Das ist das Programm von Steve Bannon, das Trump – natürlich nicht so radikal, er ist kein Ideologe – umsetzt, und zwar nach dem Vorbild Putins, der die Oligarchen auch gezähmt hat.
@APO
Ich stimme Ihnen zu: Die Eliten haben zu kuschen. Und sie kuschen. Keine Frage! Aber dafür bekommen sie etwas, das sie ohne Kuschen nicht bekommen würden: Machtteilhabe.
Tump ist kein Ideologe. Ein Schlüsselsatz! Er hat keine der klassischen politischen und / oder gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Zu denen, nebenbei, auch Ethnonationalismus gehört / gehören würde. Selbst Kapitalismus und erst recht Markt sind ihm fremd, denke ich. (Den Foreign Corrupt Practices Act hat er kurzerhand per executive order außer Kraft gesetzt.)
Es geht um den Deal. Und America First beschreibt die „Struktur“ des Deals. Immer mit Gefälle, aber – qua Machtteilhabe – für den Deal-Partner auch mit der Eröffnung ungeahnter – trumpischer – Möglichkeiten. Wenn Musk im Auftrag Trumps mit Alice Weidel spricht, bietet er ihr ein Franchise an, bietet er ihr Machtteilhabe an, bietet er ihr an, Trump-Elite – der zweiten oder dritten Reihe – zu werden: Trump gestützten regime change.
Richtig, Lieber EJ, Trump ist kein Ethnonationalist. Aber Putin. Er will die Ukraine, weil er die Ukrainer für Russen hält. Er hat den Russen in den baltischen Staaten die russische Staatsbürgerschaft angeboten und will mit ihrer Hilfe diese Staaten beherrschen. Trump schwebt ein Deal vor: USA plus Russland gegen China. Europa ist dabei Verhandlungsmasse. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Hammer oder Amboss sein wollen.
Dass Moskau einmal das Erbe Europas, des „Abendlandes“ übernehmen würde, ist das „Fazit“ Oswald Spenglers in „Der Untergang des Abendlandes.“
Dem Rudolf Steiner hat das irgendwie eingeleutet, oder wie das in Anthroposophenkreisen ausgedrückt wird: „Es wurde ihm geoffenbart.“
Russischunterricht gibt es an Waldorfschulen seit es dieselben gibt.
Der Gründungsvorsitzende eines Ihrer „68er“ Konkurrenzunternehmen, des Marxistischen Studentenbundes Spartakus MSB, …
Der heisst Dr. Christoph Strawe und kommt aus anthroposophischem Haus. „Marxismus und Anthroposophie“ lautete der Titel seiner Promotionsarbeit.
Nachdem nach 1990 sein Arbeitgeber, die Vereinigung der Verfolgten das Nationalsozialismus, VVN, pleite war, …
Weil die Finanzierung aus Ostberlin wegbrach …
Nach 1990 widmete er sich wieder der „reinen“ Anthroposophie. Gründete ein „Institut für Dreigliederung“.
Merke:
Die fixe Idee, Moskau sei die letzte Instanz Europas, ist nach „rechts“ und „links“ anschlussfähig.
Aber auch:
Es ist nicht falsch, eine slawische Sprache zu erlernen.
Und:
Moskau ist sehr wohl AUCH Europa, weshalb „Europa gegen Moskau“ nicht so recht semantischen Kontakt zur Wirklichkeit hat.
Lieber Bodo Walther, ich antworte mit Ernst Jandl:
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum
In der DDR, lieber Alan Posener, bin ich in einem Milieu aufgewachsen, in dem ich mit 6 meinen Namen zu tanzen lernte (Auch so was gabs im Osten).
Steiner hatte ich als Teenager VERSCHLUNGEN.
Gedanken „out of the box“.
Ja, Steiner war ein schlimmer Finger, keine Frage.
Diese ‚off topic‘ – Informationen sind für mich bisweilen ziemlich interessant, lieber Bodo Walther: Ich kenne einige Anthroposophen und vor allem -innen und das erschien mir immer als eher harmlose Spinnerei und sehr deutsche Innerlichkeit und Romantik. Warum hätte das DDR-Regime dieses Ventil für Emotionen auch schließen sollen? Wäre das System nicht noch illiberaler und damit schwerer zu halten gewesen, wenn man das als ‚klassenfeindlich‘ verboten hätte?
Aber ja doch, Sie sind, konsequent, ein bekennender Völkermörder. Demokrat sind Sie nie gewesen. Alan: Als Imperialist – was ich damit meine, will ich hier nicht ausführen, verweise auf mein Buch „Imperium der Zukunft“ (2009) – bin ich kein Freund der „Selbstbestimmung der Völker“.
Müßig an die Toten, das hundertmillionenfache Morden im vergangenen Jahrhundert, auch die der Shoa, Ihrer Machtansprüche wegen, zu erinnern. Schlimmer, Ihr Bekenntnis bestreitet schlechthin das Existenzrecht Israels. Als Soros‘ Claqueur ist das allerdings nicht überraschend.
Q.e.d..
Das ist so typisch für Feiglinge wie Sie: „Die eingegebene E-Mail-Adresse konnte nicht gefunden werden.“ qed
Tja, der Mann kann noch dialektisch denken. Und Energieautarkie liegt übrigens in Niedersachsen unter der Erde. Da würde das „es sei denn..“ anfangen. Sehe ich nicht.