Meine Tochter war mit ihren beiden kleinen Töchtern und ihrem Mann auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg. Sie verließen ihn nur drei Minuten bevor der Todesfahrer durch die Menschenmenge raste. Sonst wären auch sie womöglich seine Opfer geworden. Verändert das meinen Blick auf den Täter und seine unfassbare Tat?
Manchmal kann ein Klogang Menschenleben retten. Meine Tochter hatte sich mit ihrem Mann am vergangenen Freitag spontan zum Besuch des Weihnachtsmarkts in Magdeburg entschlossen, nachdem sie vorher seine Eltern in Brandenburg besucht hatten, wie sie mir erst an Weihnachten – noch immer völlig unter Schock – berichtete. Er hat in Magdeburg studiert und wusste, dass der Weihnachtsmarkt dort immer sehr schön ist (oder war – bis zu diesem Tag). Deshalb wollten sie mit meinen drei und sechs Jahre alten Enkelinnen dorthin. Es sei für die beiden Kleinen toll gewesen. Sie seien zum ersten Mal in ihrem Leben Schlittschuh gelaufen. Dann holte meine Tochter etwas zu essen an einem der Stände in der Budengasse, durch die der Täter nur wenige Minuten später als erstes mit seinem SUV raste.
Meine Tochter wollte zurückgehen Richtung Eingang, unwissend dem Todesfahrer entgegen, um dort noch etwas anderes zu kaufen. „Das wäre das Schlimmste für mich gewesen, wenn mir etwas passiert wäre, und die Beiden und mein Mann hätten nicht gewusst, was mit mir wäre“, sagte sie mir. Doch er rief ihr zu, dass die Töchter zur Toilette mussten. Deshalb gingen sie zu Viert in das Einkaufscenter nebenan. „Das hat uns wahrscheinlich gerettet. Als die Mädels vom Klo kamen, war plötzlich Alles voller Krankenwagen, Polizei und Blaulichtern, Hubschrauber kreisten. Weil wir eine leere Straßenbahn sahen, dachten wir zuerst, mit ihr sei ein Unfall passiert. Aber dann hörten wir sofort von anderen, dass ein Wagen durch den Weihnachtsmarkt gerast sei. Es sei noch ein zweiter unterwegs, in dem Wagen hätte man eine Bombe gefunden.“
Nur schwer zu verarbeiten
Deshalb liefen sie sofort zu ihrem Auto und fuhren zurück nach Hamburg. Die beiden Mädchen haben zum Glück nicht mitbekommen, was geschah. Die Größere glaubt, sagt meine Tochter, dass es ein Autounfall war. Sie schirmen sie ab, damit sie nicht erfahren, was wirklich passiert ist.
Für meine Tochter und meinen Schwiegersohn ist es jedoch immer noch der blanke Horror. Sie werden lange brauchen, es zu verarbeiten, genauso wie andere Besucher des Weihnachtsmarkts. Erst recht diejenigen, die Liebste verloren haben, die selbst verwundet wurden, auch seelisch, für den Rest ihres Lebens oder die noch immer um Schwerverletzte bangen. Und für alle anderen in der Stadt und darüber hinaus, die wieder einmal erleben und erleiden mussten, dass so etwas Entsetzliches mitten in einer friedlichen Stimmung geschehen kann.
Weidel schürt Ausländerhass
Ich habe hier in diesem Blog nach der Todesfahrt geschrieben, dass sie sich den gängigen Erklärungsmustern entzieht. Der Täter, ein saudischer Arzt, war nach allem, was man bisher weiß, kein Islamist, sondern im Gegenteil ein Islamhasser (oder doch nicht). Was Nichts besser macht. Dennoch versuchen die AfD-Vorsitzende Alice Weidel und andere daraus fremden- und muslimfeindlichen Honig zu saugen. Und nicht wenige in Magdeburg und auch sonstwo werden ihnen wahrscheinlich folgen.
Wie aber hätte es meinen Blick und mich verändert, wenn auch meiner Tochter, meinen Enkelinnen und ihrem Mann etwas geschehen, sie womöglich getötet oder schwer verletzt worden wären? Ich weiß es nicht. Ich will nicht ausschließen, dass auch ich dann einen Hass auf den Täter bekommen hätte. In jedem Fall wäre ich nicht mehr in der Lage, mit Mitgefühl und Trauer mit den Opfern, aber ohne Abscheu auf seine Mordtat zu schauen.
Mächtige Schutzengel
Zum riesengroßen Glück ist das eine hypothetische Frage. Meinen Lieben ist ja Gottlob nichts passiert, jedenfalls nichts Körperliches. Schutzengel müssen auf sie aufgepasst haben, schoss es mir sofort durch den Kopf, als meine Tochter es mir erzählte. Ich sagte es ihr.
Wenige Tage vorher war mein Bruder abends im Dunklen auf der Autobahn unterwegs, als zwei Autofahrer ein lebensgefährliches Rennen veranstalteten. Einer raste links an ihm vorbei, der andere rechts auf dem Standstreifen. Zum Glück hat er nicht das Lenkrad verrissen, sonst wäre er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Auch mein Bruder muss einen kräftigen Schutzengel gehabt haben. Das habe ich meiner Tochter erzählt, nicht um sie zu trösten, aber um ihr zu zeigen, dass einem auch woanders Schreckliches durch verrückte Menschen passieren kann.
Und auch, dass am 1. Dezember 2020 in Trier (wo meine Frau bis kurz vorher gewohnt hat) ein Deutscher mit seinem Auto durch die belebte Fußgängerzonen gerast ist und sieben Menschen getötet und 23 zum Teil schwer verletzt hat. Es sind also keineswegs nur Ausländer, die so etwas Unvorstellbares tun. Ob das ihr irgendetwas von dem Horror nimmt, dem sie und ihre Familie nur ganz knapp entkommen sind? Wohl kaum.
Versöhnung?
Am vierten Advent durfte ich in meiner bisherigen evangelischen Gemeinde die Predigt halten. Meine Erste. Es ging um Frieden und Versöhnung – die Weihnachtsbotschaft. Frieden zu schließen selbst mit Feinden, wie es uns der Gottessohn aufgetragen hat, sei das Schwerste, sagte ich. Und mit Menschenfeinden und Kriegsverbrechern wie Putin wohl nicht möglich. Aber wenn wir durch schreckliche Taten wie in Magdeburg, vorher in Solingen, in Mannheim, in Halle oder vor acht Jahren auf dem Weihnachsmarkt am Berliner Breitscheidplatz zu einer unversöhnlichen Gesellschaft würden, dann hätte das Böse gesiegt.
Das Foto in diesem Beitrag habe ich an Ostern in Wien gemacht. Die Schutzengel-Apotheke gibt es da wirklich. Woher sie ihren Namen hat, weiß ich nicht. Ich glaube nicht an Engel. Aber wenn sie meine Tochter, meine Enkelinnen, meinen Schwiegersohn und meinen Bruder geschützt haben, schließe ich sie in meine Gebete ein.