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Anschlag in Magdeburg: Vom Wert des Schweigens

Nach der erneuten Mordfahrt über einen Weihnachsmarkt verbieten sich schnelle Interpretationen. Dennoch schwirrten im Netz und auch in Medien sofort Spekulationen über das Motiv, statt inne zu halten und um die Opfer zu trauern. Dass der Täter wohl kein Islamist ist, beruhigt allerdings nicht.

Ich gebe zu: Auch mir kam gleich der Gedanke, es müsse ein islamistischer Attentäter gewesen sein, als ich die ersten Nachrichten las, ein Auto sei über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast, mehrere Menschen seien getötet und viele verletzt worden. Auf scheckliche Weise schien das Muster vertraut: Aus Hass auf die westliche Lebensart macht sich jemand auf, friedlich feiernde Menschen massenhaft in den Tod zu schicken. Wie auf dem Stadtfest in Solingen und auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz fast auf den Tag acht Jahre zuvor. Doch bald stellte sich heraus: Es war ein saudischer Arzt, der den Islam hasst. Aber macht das irgend etwas besser?

Eine solche Tat ruft Entsetzen und Angst hervor. Genau das ist ja das Ziel, auch wenn keine Organisation, kein Terrornetzwerk dahinter steht, nur ein Einzeltäter. Niemand soll sich mehr sicher fühlen können. Das verstört bis ins Innerste, macht uns hilflos. In einer solchen Situation suchen Menschen nach irgend etwas, an dem sie sich festhalten können. Und sei es Abscheu und Hass auf den oder die Täter und das, was ihn oder sie angetrieben hat.

Was aber, wenn das wie möglicherweise auch in diesem Fall nie restlos geklärt werden kann? Wer kann schon in die Seele und das Gehirn eines womöglich psychisch kranken, jedenfalls offenkundig wirren, wahnhaften Mannes hineinschauen, wenn man danach geht, waser im Internet und auch sonstwo hinterlassen hat? Dass er als Psychiater und Psychotherapeut in einer forensischen Klinik ebensolche Täter behandelt hat, verstört eher noch mehr. Sollte so einer nicht davor gefeit sein, sich selbst in einen Wahn bis hin zu Mordplänen und dann tatsächlich eine entsetzlichen Bluttat hineinzusteigern? Hat das niemand in der Klinik und seinem Umfeld bemerkt?

Abstoßende Reaktionen

Auch seine Lebensgeschichte, dass er sich schon früh in seiner saudi-arabischen Heimat vom Islam abgewendet haben will und er sich deshalb selbst von seiner Familie verfolgt fühlte und den deutschen Behörden vorwarf, nicht genug gegen Islamisten zu tun und saudische Flüchtlingsfrauen nicht zu schützen, hilft nicht wirklich weiter. Sollen wir neben heimlich radikalisierten Muslimen nun auch deren Gegner überwachen? Oder der AfD und anderen auf den Leim gehen, die sagen: egal, Ausländer und Migranten sind immer gefährlich?

Selbstverständlich nicht. Die Ermittler müssen jetzt ihre Arbeit machen und versuchen, die Hintergründe aufzuklären. Die politisch Verantwortlichen bis zur Bundesinnenministerin und zum amtierenden Kanzler, besonders aber die in Sachsen-Anhalt und in der Stadt müssen prüfen, ob sie genug unternommen haben, die Sicherheit bei solchen Menschenansammlungen auch andernorts nach den früheren Anschlägen zu gewährleisten, und ob es tatsächlich Warnungen gab und wenn, warum ihnen nicht nachgegangen wurde. Und daraus Schlüsse ziehen. Die Medien müssen das in gebotener Zurückhaltung begleiten, schließlich ist das Interesse verständlicherweise weltweit riesig. Aber darauf ein schmutziges Süppchen zu kochen, sei es von rechter oder in Reaktion von linker Seite, weil der Täter angeblich AfD-Sympathisant war, ist nur abstoßend.

Der menschliche Anstand sollte gebieten, besser zu schweigen und erst einmal Mitgefühl zu zeigen mit den Opfern, den schwer Verletzten, ihren Angehörigen und Freunden, den mitbetroffenen Augenzeugen und allen anderen, die in der Stadt und im Land nun trauern und geschockt sind. Gerade jetzt, wenige Tage vor dem Weihnachtsfest. Verstehen kann man eine solche Tat ohnehin nicht. Aus welchem Motiv, welcher Ideologie oder welchem Wahn auch immer jemand so etwas tut.

Ludwig Greven ist Publizist. Er war Politikchef der „Woche“ und politischer Autor bei zeit-online. Er schreibt u.a. für „Politik & Kultur“, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, und die christliche Zeitschrift „Publik-Forum“. Außerdem betreut er Flüchtlinge und Kriegsvertriebene aus der Ukraine.

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