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Randy Newmans Lieder (4): In Germany Before the War

Dieser Song ärgert mich. Er ärgert mich vor allem, weil ich ihn so gut finde. Weil er mich anrührt und beschäftigt, obwohl ich nicht sicher bin, dass er das verdient.

Früher ging mir das mit Bob Dylan so. Ich dachte: „Warum muss ich mir so viele Gedanken um etwas machen, was am Ende doch nur ein Song ist? Es kann nicht sein, dass ich länger an der Interpretation sitze als Dylan an der Komposition gesessen hat. Bei Hölderlin, Rilke oder Kafka weiß ich, weil sich darüber mittlerweile ein Konsens herausgebildet hat, dass sich die Deutungsarbeit lohnt. Aber bei Dylan?“ Mittlerweise bin ich überzeugt, dass es sich bei vielen, vielleicht den meisten Dylan-Songs lohnt, genauer hinzuschauen; aber ich war immer Randy Newman sehr dankbar dafür, dass er nicht in Zungen redet und selten in Parabeln, zuweilen zwar ironisch, aber fast nie dunkel oder raunend. Das ist hier etwas anders, und das nervt mich.

Hier ist schon mal der Text.

In Germany before the war
There was a man who owned a store
In nineteen hundred thirty-four
In Düsseldorf

And every night at five-o-nine
He′d cross the park down to the Rhine
And he’d sit there by the shore

I′m looking at the river
But I’m thinking of the sea

A little girl has lost her way
With hair of gold and eyes of gray
Reflected in his glasses
As he watches her

A little girl has lost her way
With hair of gold and eyes of gray

I′m looking at the river
But I’m thinking of the sea
We lie beneath the autumn sky
My little golden girl and I
And she lies very still

„Normalerweise sage ich genau, was ich meine, so dass mich jeder versteht“, hat Randy Newman mal gesagt. „Aber das Thema von ‚In Germany Before the War‘ ist zu grausam, um genau ausbuchstabiert zu werden. Vielleicht gibt es im Text zu wenige konkrete Informationen, aber ich habe versucht, das durch die gespenstische Orchestrierung zu kompensieren. Obwohl es nicht ausgesprochen wird, weiß der Zuhörer, dass die Hauptgestalt ein Kindesmörder ist. Jedenfalls war das meine Absicht, und ich denke, das ist mir gelungen.“

Schon. Aber was will uns der Dichter damit sagen? Falsche Frage, ich weiß. OK: was sagt mir der Song? Ulf Kubanke beantwortet das in einem Essay über Newman bei den „Kolumnisten“ folgendermaßen:

„Doch Newman, diese strahlende Fackel am oft trüben Himmel flachster Musiktrends, ist die Finsternis nicht unbekannt. Ausgerechnet dieser kalifornische Philanthrop leuchtet 1977 auf seinem Kernalbum „Little Criminals“ die dunkelste Seite der Menschen aus. Auf ‚In Germany Before The War‘ vertont er den Sachverhalt des weltberühmten Serienkillers Peter Kürten alias ‚Der Vympyr von Düsseldorf‘, der Ende der 20er Jahre sein Unwesen trieb. Diese auch als Vorlage zu Fritz Langs Filmklassiker ‚M‘ dienende Blutspur setzt Newman – dessen damalige Frau aus der Rheinmetropole stammte – mittels schauerlich anrührender Zartheit in Szene. Tragischer, sinistrer und gruseliger als jeder Horrorfilm oder Gothicsong beschreibt er das Grauen mit einfühlsamer Sprache, die kein Auge trocken lässt. Mehr Intensität in knapp vier Minuten Laufzeit geht kaum. ‚I’m looking at the river but I’m thinking of the sea, thinking of the sea, thinking of the sea…‘“

Hm. Ich schätze Kubanke, aber der Punkt ist, erstens, dass Newman, wie er selbst sagt, das Grauen eben gar nicht beschreibt, schon gar nicht mit einfühlsamer Sprache. Wenn wir es hier mit der Kunst zu tun haben, die Kunst verbirgt, so ist es die Kunst des Weglassens.

Das mag dann „tragischer, sinistrer und gruseliger als jeder Horrorfilm“ sein, aber der Punkt ist: das, worum es geht, spielt sich im Kopf des Zuhörers ab, eben nicht im Text. Es hilft auch nicht weiter, einfach den Refrain zu zitieren: „I’m looking at the river, but I’m thinking of the sea …“ Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.

Zweitens aber vertont Newman nicht „den Sachverhalt des Serienkillers Peter Kürten“. Kürtens Mordserie fand 1929 statt, er wurde 1931 hingerichtet. Er kann mithin nicht der Mann sein, den Newman 1934 am Ufer des Rheins sitzen lässt. Dieser Mann hat einen Laden, er ist ein Pedant, der Punkt 17 Uhr abschließt und neun Minuten später nach einem Gang durch den Park den Rhein erreicht, wo er sitzt und den Fluss – und wohl auch die spielenden Kinder – beobachtet. Kürten hingegen war zeitlebens ein gewalttätiger Tunichtgut, besaß nie ein Geschäft, sondern lebte von seiner Frau, die in einem Lokal kellnerte, und zum Teil von anderen Frauen, die er für sich einzunehmen wusste. Seine Opfer sprach er in der Regel auf Jahrmärkten und dergleichen an. Brillenträger war er auch nicht. Kurzum: Es geht hier nicht um Kürten. Und auch nicht um den Kindermörder Hans Beckert aus „M“, der in Berlin, nicht Düsseldorf, sein Unwesen treibt.

Um Newmans Song „It’s a Jungle Out There“ zu zitieren: „I could be wrong now / But I don’t think so.“

Man kann sagen: Nun gut, Newman hat das Aussehen, den Beruf, die Verhaltensweisen des Hauptcharakters geändert und die Handlung zeitlich versetzt, aber es soll doch Kürten sein. Warum aber sollte Newman das tun? Gut, er könnte „1934“ genommen haben, weil es sich mit „before the war“ und „by the shore“ reimt; „owned a store“ wäre dann auch dem Reimdichoderichfressdich-Syndrom geschuldet, und „five oh-nine“ auch, weil Newman etwas brauchte, was sich auf „Rhine“ reimt. So etwas kommt vor. Auch bei Dylan. Aber Newman ist für gewöhnlich weder um Wörter noch um Reime verlegen.

Es kann sein, dass ihn die Erzählungen seiner deutschen Frau Roswitha Schmale oder ein Arthouse-Kinobesuch inspiriert haben, einen Song über einen deutschen Serienmörder zu schreiben; aber von da ab übernimmt Newmans dichterische Fantasie die Gestaltung des Songs, und das Datum „1934“ – ein Jahr nach der Machtübergabe an die Nazis – wirkt als Signal, muss als Signal gemeint sein. Im „Observer“ schrieb Sean O’Hagan 2003: „Der Song (…) ist auch eine Metapher für eine Nation, die dabei ist, eine Periode der Transgressionen und des Horrors zu betreten.“

Daher denn auch, so ergänze ich O’Haras These, der pedantische Ladenbesitzer mit der Brille; Sinnbild des deutschen Kleinbürgers, der Adolf Hitler zur Macht verhalf; eines Menschenschlags, der, in den Worten eines anderen pedantischen und kleinbürgerlichen Brillenträgers, bei der Ausrottung der Juden „von wenigen Ausnahmen abgesehen anständig geblieben“ sei.

Ich weiß nicht, ob Newman Paul Celans „Todesfuge“ kennt, oder ob Roswitha Schmale sie kannte; aber die goldenen Haare und grauen Augen des Opfers erinnern an die wiederkehrende Zeile:

Dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith

Zuviel hineingelesen? Vielleicht. Aber wir können weder Peter Kürten noch „M“, weder die „Dreigroschenoper“ noch Fritz Haarmann mit denselben Augen sehen wie die Zeitgenossen; sie wirken auf uns Nachgeborene, die wir aufgetaucht sind aus der Flut, wie Flüsse, die ins Meer des Mordens flossen. Nach 1945 konnten die Deutschen mit Fritz Langs Kindesmörder mitfühlen, der 1931 klagte: „Ich will davon, vor mir selber davonlaufen, aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! (…) Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe, und lese. Das habe ich getan?“

Die Flüsse und das Meer habe ich schon angesprochen. Für Sean O’Hagan ist das „ein schmerzlich klagender Refrain“, in dem „die Konturen der Gedanken und der Seele eines alten Mannes in zwei beziehungsreichen Zeilen umrissen“ werden. Er geht also davon aus, dass der Sänger des Refrains – der Erzähler des Songs, wenn man so will – ein anderes „Ich“ ist als jener, der im stillen Herbstlicht mit „dem goldenen Mädchen“ liegt, das er gerade vergewaltigt und getötet hat.

Davon gehe auch ich aus, nur scheint dieser Erzähler bei O’Hagan ein „alter Mann“ zu sein, der sich an das erinnert, was sich in Düsseldorf vor nunmehr 90 Jahren abgespielt hat, dessen Gedanken ständig abdriften ins „Meer“. Es könnte aber eben sein, dass ich hier ausnahmsweise nicht ein anderer ist, sondern Randy Newman, für den, ob er es will oder nicht, der Rhein mit seinen mythischen Gestalten, von Hagen über die Loreley bis Peter Kürten, in ein unheimliches Meer deutscher Bodenlosigkeit fließt.

Jetzt, wo ich es mir überlege, ärgert mich der Song nicht mehr. Jedenfalls weniger als vor einer Woche, als ich begann, mir die Gedanken für diese Interpretation zurechtzulegen.

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4 Gedanken zu “Randy Newmans Lieder (4): In Germany Before the War;”

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    … es macht keinen wirklichen Unterschied zwischen einem Psychopaten und einer Ideologie. Eine Ideologie ist immer psychopatisch. Mit anderen Worten; die Psychopaten/Ideologen sind immer am ‚Werken‘. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Es hat sich nix geändert.

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        … danke, ich dachte schon Sie machen sich über meine Legasthenie lustig. Ich zähle ja bei anderen auch nicht mit. Wer will schon als ‚Rechtschreib-Nazi‘ da stehen. Und immer noch besser, als wenn, wie Ihre neuen Kumpels hier, (vor Angst?) gar nicht antworten. 😉

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    Sehr gut! Da steckt weit mehr drin als diese Kürten-Geschichte. Gehe jeden Gedanken mit. Ein unheilvolles Dröhnen dessen, was an unfassbarem Grauen bevorsteht, durchzieht dieses scheinbar schlichte Lied. Ein Meisterwerk.

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