Eine Geschichte, die sich um den schwedischen Musiker Christian Kjellvander dreht. Auch. Aber auch um etwas ganz anderes. „A Village Natural Light is an album about living, loving and dying. When I listen to these songs I think about how important it is to really live your life“. Ja, nun. Das schrieb „ein Freund“ auf der Homepage des schwedischen Musiker Christian Kjellvander über das genannte Album. Es sind zwei Sätze, bei denen man sich unvermittelt fragen sollte: Warum um Gottes willen versenkt der Autor dieser Zeilen unmittelbar nach Abfassung jene nicht mit vor Schamesröte glühendem Gesicht im Papierkorb?
Wenn er auch nur einen Augenblick über seine Worte nachdächte, sollte es ihm auffallen: Das kann man über 99,9 Prozent aller Werke des Genres Rock und Pop, über mindestens 100 Prozent im Bereich Singer/Songwriter schreiben. Genauso wie meine eigene Artikelüberschrift „Der nordische Melancholiker“. Zwei Zwillingswörter, nach der Geburt nie getrennt, etwa wie „Konvulsivisch“ und „Zuckungen“. Noch mal einzeln betrachtet: der Mann ist aus Göteborg in Schweden, soweit geht das „nordisch“ in Ordnung. Aber Melancholiker? Das schreibt man immer dann geradezu wie von Geisterhand gesteuert, wenn man eigentlich Langweiler meint. Meist bei Songwritern. Bei Rockmusik benutzt man es, wenn Pink Floyd-Epigonen nerven.
Die nordischen Melancholiker
„Melancholisch“ bietet sich aber auch als Füllwort für alle Lebenslagen an, wenn man gar nicht weiter weiss, weil man nicht so sicher ist, wie man das rätselhafte Schaffen eines Künstlers denn nun von der höheren Warte aus einordnen soll. Also tanzt man irgendwie das nach, was man sich schnell an Rezensionsdreck von Kollegen zusammen gegoogelt hat, und lässt dabei gleich noch souverän die eigene Unsicherheit spüren, um Denktiefe vorzutäuschen. Und wenn man dann noch weiss, dass Kjellvander mal über einen längeren Zeitraum in einem Zelt gelebt hat, um sich vollkommen auf seine Musik konzentrieren zu können, geht die Denktiefe restlos mit einem durch. In einem Zelt! Gelebt! Und gearbeitet! Das ist ja in einer Künstler-Biografie schon fast so wertvoll wie mit dem Dalai Lama an der gleichen Pissrinne Wasser abgeschlagen zu haben.
Kjellvander gehört zu den Figuren, die ich mir ab 2014 vorgenommen hatte: Schaue dir Unbekanntes an, erobere Welten, von denen du bislang nichts zu verstehen glaubtest und setze dann verständnisinnig deine Worte, wenn der gleißende Strahl der Erkenntnis dich durchbohrt hat. Mit seinem Repertoire vertraut durch Gelegenheitskäufe aus den Grabbelkisten in schwedischen Tankstellen, in denen man auch Klobürsten und Glühbirnen erwerben kann, war ich bestens vorbereitet auf die „melancholischen“ Hervorbringungen des mysteriösen Mannes. Dessen CDs immer wieder einen interessante Abspielgeschichte hatten: Reinschieben, durchlaufen lassen, nach einer Dreiviertelstunde wieder raus, und keine Erinnerung an das Gehörte. Was war das?
Oh Schmerzensmann, wie tot sind deine Augen
Auf der Bühne steht da nun also Kjellvander, ein wahrer Schmerzensmann mit toten Augen. Verborgen hinter einer toten Brille, schlurft er mit totem Gang auf die Bühne. Seine Gattin, mit respektablem Abstand links neben ihm, wie ein halbverhungertes Mager-Model. Gesichtsausdruck: Toter Fisch, eine besonders schwer auskurierbare Form der nordischen Melancholie. Zusammen singen sie tote Lieder, die Gitarre immerhin ans Stromnetz angeschlossen. Aber was schreibt nun der ratlose Rezensent – also ich – in seiner Verzweiflung in die Zeitung hinein? Er fabuliert von „Melodien von hochfahrender Schönheit, so beiläufig und innig intoniert, das jeder Kitschverdacht wirkungslos an ihnen abprallt“. Das aber, werter Leser, heisst übersetzt: der Künstler fingert sich ein banales Kinderliedchen zurecht, aber es fällt halt nicht so auf, wie einfältig das ist, weil es nicht noch mal von 100 Streichern verstärkt in die Welt hinausgeblökt wird. Langsam brummt die Rezension ihrem Höhepunkt zu: „Es klingt nach Stillstand und Bewegung, nach Kontemplation und Aufbruch. Es ist Innenschau und Beobachtung zugleich. Stadt, Land, Fluss, Meer Menschen“. Genauso gut könnte aber folgender Satz an seiner Stelle stehen, und wäre nicht weniger wahr: „Es klingt nach Autoreifen und Häkeldecken, nach Masturbation und Handarbeitsunterricht. Es ist Eiertanz und Voltigieren zugleich. Sonne, Mond und Sterne, Pippi Langstrumpf, Hoppetosse und Herr Nilsson.“
Der Kollege, der mir angesichts dieses Elends noch am Tatort erklärt, was für ein großartiger Musiker dieser Schjellvander doch sei… ja. „Schjellvander, wie wir Kenner sagen“, sagt der Kollege, nicht Kjellvander. Ich denke bei mir: Und du Kenner sagst bestimmt „Goetheborg“, aber es heisst „Jöteboriii“, wie wir nordischen Melancholiker sagen.
Wirklich durchschaut aber hat das alles der amazon Kunde namens „Pseudonym“. Der hat das Kjellvander-Albums „The Pitcher“ rezensiert. Unter der Überschrift „Gefällt mir“ schreibt er „Ich bestelle nur Artikel die ich brauche, die sollten immer meinen Interesse entsprechen! Das einzige was umständlich ist, dass man immer einen Text schreiben muss. Anklicken würde auch reichen.“ „Pseudonym“ vergibt drei Punkte.
Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ – https://open.spotify.com/show/4FuFLyd1w66aRSnYYdCkOY mit Musikern und anderen Kulturmenschen.
Denke, lieber Thomas Zimmer. Ist amüsant zu lesen und ja: Habe mich reingeklickt.