Sie hätten es ahnen können, die adretten Damen in ihren Chefsekretärinnen-Kostümen, ausgehfertig gemacht mit Pumps und feinen Handtäschchen. Alle waren sie mit ihren fönfrisierten Beistellherren gekommen, um noch einmal die wachsweichen Musikalien der schottischen Weltenretter Simple Minds zu hören, in deren Texten es aber so was von knallhart gegen das Böse in der Welt zur Sache geht. Sie wollten sich schwelgerisch erinnern an jene Zeiten, als man nach dem übermässigen Genuss von „Mandela Day“ und „Belfast Child“ sein politisches Bewusstsein bis hin zur steuerlich absetzbaren Spendenquittung erweitern konnte.
Jetzt waren sie noch einmal da, die Simple Minds um ihren mit blossem Auge kaum sichtbaren Frontmann Jim Kerr. Hörbar allerdings ist er, der Gott des Gewissens. Sie hätten es ahnen können, die adretten Damen und Herren, als sie der Lautsprechertürme im Saal gewahr wurden, die zu den sonst üblichen hinzugestellt worden waren. In einen Saal, der für 1000 Menschen gebaut ist, hatte der Gott des Donners vor einiger Zeit eine Anlage gestellt, die für ein mittleres Open-Air-Festival gereicht hätte. Aber große Musik braucht große Verstärker, denn auch im 21. Jahrhundert pflegen die Schotten ihren überdimensionierten Breitwand-Sound, der Gitarren wie startende Raumschiffe im Halltunnel klingen lässt, der Trommeln groß wie Atomkraftwerks-Kühltürme erscheinen lässt und der dem Gesang des optisch eher unscheinbaren Sängers eine weitere Dimension beimisst. Aber die Lautstärke! Herrgott! Da kommt Bewegung in die Modekollektion, die Chefsekretärinnen wackeln erstaunt erbleichend im Gestühl. Frau Nachbarin, Ihr Täschchen, pronto. Ob da nicht noch Ohropax drinnen ist? Vielleicht ja auch ein klitzekleines Designer-Taschentüchlein, um es ins zarte Ohr zu stopfen, zur Not vielleicht auch ein Tampon? Ach, wie sie fuchteln und verzweifelt kruschteln. Hätte Jim Kerr das gesehen, er hätte vor Scham über sein eigenes Lärmvergehen sofort den Dalai Lama konsultiert. Der hätte ihm sicher geraten: „Lasse das Verhalten anderer nicht deinen inneren Frieden stören“.
Die Dezibel-Stasi
Was manchmal schwer durchzuhalten ist, wenn es um Lautstärke geht. Denn Lautstärke – ein essenzieller, ja unverzichtbarer Teil jeder Form ernstzunehmender Musik, ist auf der Verliererseite, in einem Rückzugsgefecht, das von verschiedenen Seiten mit unerbittlicher Härte geführt wird. Schon stehen in den Clubs Dezibel-Messer neben den Mischpulten, die ab der Lautstärke eines nassen Furzes ihre Bediener mit aufgeregt rot blinkenden Warnlampen einschüchtern sollen.Vermutlich gibt es schon bald – ähnlich den gelbmarkierten Raucherghettos auf Bahnsteigen – öffentliche Lärmkammern von Telefonzellengröße als letztes Refugium für Dezibelritter wie mich. Wo man dann gegen Einwurf von 50 Cent das Intro eines Iron Maiden-Songs hören kann, ab drei Euro aufwärts auch den ganzen Song.
Die inoffiziellen Mitarbeiter der Lärm-Stasi sind unterdessen schon lange überall unterwegs, und sie können in ganz unterschiedlichen Tarnungen auftreten. Es gibt den Typus, der aus einer ungünstigen Zusammensetzung von Bratwürsten und Schweinshaxen geformt ist. Er trägt tatsächlich Tennissocken in Sandalen, hat eine rote Nase, die dezent ins violette spielt und sitzt vornehmlich auf Stadtfesten, fest in die Brauereigarnitur geschraubt, wo er schweigt und furzt. Nun bringt es mein Nebenberuf als Hobbymusiker mit sich, dass ich gelegentlich auf solchen Stadtfesten auftret. Immer, während ich gerade im Begriff bin, dem Mixer ein paar Snare-Drum Schläge zukommen zu lassen, noch bevor sonst jemand auch nur einen Ton gespielt hat, erhebt sich die von unzähligen Bratwürsten, Herrengedecken und Prunksitzungen geformte Kreatur plötzlich von ihrer Bank und hinkt betont langsam an der Bühne vorbei. Mit möglichst vom Geschehen abgewandten Gesicht signalisiert der selbsternannte Lautstärke-Kontolleur (der im übrigen niemals auf Blasinstrumente reagiert), dass er ganz genau hinschaut und vor allem Flöhe husten hört.
Es kocht in ihm, die Nüstern flattern, während er denkt: Dschungelmusik, Dschungelmusik, Dschungelmusik. Noch ein Schritt näher, und er führt seine wulstigen Pranken zu seinen blaustichigen Ohren, um sich diese mit dem Ausdruck höchster Verachtung zuzuhalten. Dabei schüttelt er seinen direkt auf dem Oberkörper ohne Umweg über dem Hals befestigten Kopf und geht ab. Der verunsicherte Trommler, also ich, bekomme in diesem Moment schlaglichtartig eine Ahnung davon, dass die Zivilisation noch Jahrzehnte weit davon entfernt ist, Orte wie etwa Waldbronn zu erreichen. Und ich erinnere gleichzeitig daran, dass ich als heranreifender homo politicus felsenfest überzeugt war, dass es den homo bratwurstiensis ganz sicher nicht mehr geben wird, wenn ich mal selbst groß bin.
Wenn der Tofumann eskaliert
Dass es schon relativ kurz nach jener hoffnungsfrohen Pubertät Grüne geben würde, konnte ich auch nicht ahnen. Bis mir, es muss im Wahlkampf 1984 gewesen sein – der Mann begegnete, dessen zwei Meter langer, zwei Gramm schwerer Körper komplett aus Tofuwürsten und Dinkelbratlingen geformt zu sein schien. Der Tofumann hatte meine Kapelle engagiert, auf einer Wahlparty der noch jungen grünen Partei zu spielen. Was ihn dazu veranlasst hatte? Keine Ahnung. Die Kapelle sang keine Friedenslieder, fand auch gar nicht, dass man den Flüssen trauen muss oder das weiche Wasser irgendeinen Stein breche, sondern im Gegenteil eher, dass man vom weichen Wasser brechen müsse.
Alles das hätte der Tofumann und seine streng nach Flokati riechenden Gespielinnen wissen müssen. Schliesslich behauptete er ja, mit der Kapelle vertraut zu sein. Was offensichtlich eine dralle Lüge war. Denn kaum begann die Kapelle ihre (im übrigen selbstkomponierte) Musik vorzutragen, sah man den Tofumann Richtung Bühne schlurfen. Mit nachdenklichem Gesicht signalisierte er, was es in ihm dachte: Kommerzkacke, englischsprachige. Unpolitisch und auch noch elektrisch statt auf Ukulelen aus makrobiotischem Anbau vorgetragen. Und dann dachte es in ihm vielleicht noch: Verbieten.
Gut, das ging nun aber nicht. Schließlich hatte er die Kapelle ja engagiert. So zeigte er stattdessen mit seinem dürren Finger auf den verunsicherten Trommler, während seine verharzten Zehen in den Birkenstock- Sandalen ungut wippten: Worauf er einen ernsthaft besorgten Blick aufsetzte, der der Kapelle des Teufels die Anklageschrift überreichen sollte: Ihr habt mir ein Atomkraftwerk in den Garten gebaut. Mindestens. Dafür gab es aber keine Beweise, also sprach er ersatzweise: „Ej du, könnt ihre nicht dezente Tanzmusik improvisieren?“. Es war der Moment, in dem mir zum ersten Mal der Gedanke kam, dass Gewaltlosigkeit nicht immer eine Lösung ist. Die Kollegen waren anderer Meinung, und so entschieden wir uns angesichts dieses Aktes verbaler Aggression zum friedlichen Rückzug unter Verzicht auf die zugesicherte Gage.
Den Tofumann hätte sicherlich – Jahrzehnte später – ein Auftritt von Van Morrison bei einem großen Open Air Festival gefallen. Morrison war dortselbst gerade mal noch zu hören, wenn man das Ohr direkt auf die Bühnenkante legte. Die restlichen 60.000 hörten nichts. Dem Vernehmen nach aber soll der Lautlose nach dem Konzert wutentbrannt seinen Soundmann gefeuert haben, weil der das Konzert viel zu laut abgemischt habe. Die Vorstellung, der Tofumann könnte ein Van Morrison-Fan sein, will mir zunehmend gefallen.
Die leise Querfront
„Norwegens andere junge Künstler müssen weinen, wenn sie Susanne Sundfør hören – so weit ist sie ihnen voraus“, schriebt die Tageszeitung „Dagbladet“ über die 25-jährige Künstlerin, die 2011 beim Tollhaus-Zeltival in Karlsruhe auftrat. Zu hören war düstere Musik: tiefgründig, ambient, exotisch, voller Spannung. Klavierläufe, Holzbläser, Industrial-Samples, hymnische Kirchenchoräle. Keine schöne Musik, eher disharmonisch und unterkühlt. Da gab es kaum einmal eine vertraute Melodie, selten eine gelernte Songstruktur und auch kein wohliges Schaudern in Melodramatik. Wohliges Schaudern allerdings konnte die (der Musik vollkommen angemessene) Lautstärke verursachen. Bei mir zumindest.
Nicht so bei einem Gutteil des Publikums, das mit geballten Fäusten und teils unter lautstarkem Protest den Saal verließ. Es sah aus wie ein einem jener speckschartigen Historienfilme, in denen der Pöbel mit Mistgabeln und Dreschflegeln auf die Burg des Lehnsherren zumarschiert, gutturale Laute von sich gebend, möglicherweise auch in Waldbronner Dialekt. Und wenn man genau hinschaute, erkannte man: was da marschierte, sah ganz nach der exakten Schnittmenge von Bratwurst-und Tofumenschen, von Tennissocken in Sandalen und Birkenstock-Sandalen, die da die Künstlerin den eisernen Willen des deutschen Volkes spüren liess, entarteter Kunst mit der nötigen Schärfe entgegenzutreten.
Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ mit Musikern und anderen Kulturmenschen.