Wer das bildungsbürgerliche Zwangsklavier genossen hatte, hielt wahlweise „Tales from Topograhic Oceans“ von Yes oder „The Lamb Lies Down on Broadway“ von Genesis für der Weisheit letzen Schluß. Weisheit, das war wörtlich gemeint, denn: Wenn man etwas beim besten Willen und trotz Anglistik- und Literaturstudium nicht versteht, muss es das sein, Weisheit. Wer behauptet, Zugang zu dieser Genesis-Story zu haben, bei dem würde ich gerne eine Razzia durchführen. Mit dem Ziel vor Augen, bislang unbekannter Drogen habhaft zu werden.
Ach hätten wir geahnt, dass die Band selbst nicht wusste, was sie da auf die Bühne brachte… Immerhin, über 20 Jahre danach, hatte zumindest Peter Gabriels Bandkollege Mike Rutherford begriffen, worum es ging: „Peter hat in den letzten Monaten während der Nachbearbeitung versucht, mir diese Rock-Oper zu erklären, und das, ohne unter dem Einfluß von irgendwelchen Halluzinogenen zu stehen. Ich weiß jetzt, worum sich diese Geschichte dreht. Toll, nicht?“, sagte er im Fachblatt Interview Anfang 1997. Ach so…. worum denn eigentlich? Später konnte ich ihn selbst mal dazu befragen, in der vornehmen Lobby von Brenners Parkhotel in Baden Baden. Wo er zunächst aufstand, um dem übenden Barpianisten Bescheid zu geben: „Excuse me Sir, would you please be so kind as to stop playing the piano for about half an hour, cause we‘re doing an interview….“. Zum Thema „The Lamb Lies Down On Broadway“ sagte er dann seltsamerweise, jetzt wisse er erneut von nichts.
Wir aber wollten es wissen, damals. Also setzten wir uns auf einen Motorroller und fuhren zu einer Art Kultstätte. Zusammen mit meinem Freund Michi, der wie ich Angehöriger der Genesis-Glaubensgemeinschaft war, brach ich Wochenende für Wochenende nach Neckargemünd auf. Das Ziel war ein JZ in SV. Wer etwas auf sich hielt, sprach in Abkürzungen. Was die bedeuten? Ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung, dessen führende Köpfe sich vor allem dem Kampf der vietnamesischen Staudammbauern für die weitere wissenschaftliche Entwicklung des Sozialismus verschrieben hatte, in dem aber auch ein warmes Plätzchen war für jenen Freund Michael und mich. Wir fuhren, bewaffnet mit einer 18 cm BASF-Tonbandspule dort hin, liessen sie in ein passendes Bandgerät einlegen, und abspielen. Darauf zu hören war das komplette Doppelalbum „The Lamb lies Down on Broadway“. Rund 20 junge Männer versammelten sich um diesen Tisch und schrien das von Anfang bis Ende mit, wunderten uns über Sätze wie „and the wise and foolish virgins giggle with theier bodies glowing bright“ – aus Carpet Crawlers, sangen aber umso lauter, Unterdessen sich die weisen und närrischen Jungfern im JZ in SV mit verständnislosen Blicken von uns abwandten. Am Ende standen wohl deutlich über hundert leere Bierflaschen auf dem Tisch. Mike Rutherford hätte seine wahre Freude gehabt, hätte er uns dabei zuschauen können. Dann packten wir die Bandspule wieder ein und fuhren auf dem Motorroller (den Michi bemalt hatte wie eines diese Yes-Cover von Roger Dean zurück nach Heidelberg). Bevor sie jetzt fragen: Nein, wir haben nicht gekifft. Damals nicht,damals nicht.
Thomas Zimmer schreibt seit 1980 über Rock, Pop und Folk. Er war Rundfunk-Musikredakteur, Dozent für Pop- und Rockgeschichte an der Musikhochschule Karlsruhe. Er hat u.a. die Biografie des BAP-Drummers Jürgen Zöller und ein Buch mit Konzertkritiken aus 20 Jahren veröffentlicht. Er hat Rock-Größen wie Phil Collins, Ian Gillan, Beth Hart und viele mehr interviewt. Er moderiert eine regelmässige musikalische Live-Talkshow im Jazzclub Bruchsal und betreibt den Interview-Podcast „Das Ohr hört mit“ mit Musikern und anderen Kulturmenschen.
Eine feine, von Nostalgie verwaschene Geschichte mit einem subversiven Schuss. Vielen Dank dafür, Thomas Zimmer.
Als Jugendlicher in der DDR war ich Teil einer Gruppe von acht Leuten, die sich hin und wieder trafen und „feindlich-negativen Musik“ tauschten. Wir saßen meist im Dachgeschoss von Judith, die Spulentonbandgeräte untereinander mit sogenannten Diodenkabeln verbunden und rauchten die, unseren bescheidenen Mitteln geschuldete Marke KARO. Auch wir versuchten hinter den Sinn von Texten wie „Locomotive Breath“ oder „Court of the Crimson King“ oder „Houses of the holy“ zu kommen. Es ist uns, ob der fehlenden Sozialisation des Westens, damals nicht gelungen.
Von der Truppe sind nur noch drei übrig und einmal pro Jahr treffen wir uns immer noch und lamentieren über die Inhaltslosigkeit heutiger Texte.
Oh, danke. Die Sozialisation des Westens hätte bei vielen Texten auch nichts genützt. Meine Highlights sind ja immer noch die Texte von Yes. Close to the Edge etwa: “ a seasoned witch could call you from the depths of your disgrace and rearrange your liver to the solid mental grace“. Da braucht es Sozialisation from outer space. Mindestens.