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Der Staat ist ein zartes Wesen

Die innenpolitischen Vorgänge in Italien zeigen eine Zerbrechlichkeit des Staates, die die EU erschreckt. Es ist eine Illusion, dass die Nation jenseits der Alpen historisch gewachsen sei und der Staat deshalb stabil. Gerade die rechtspopulistische Lega Nord, die sich inzwischen nur noch „Lega“ nennt hat lange Schimpf und Schande über den Süden des Landes verbreitet. Auch der Aufstieg der sprichwörtlichen Organisierten Kriminalität wird der fehlenden Staatsgewalt in den Provinzen zugerechnet. Unser Autor Klaus Kocks vertritt die These, dass Staaten schützenswerte Wesen sind und großer politischer Sorgfalt bedürfen.

Schwarze mit braunen Schatten

Dass die CDU eine innere Debatte darum hat, ob die Zukunft in der Mitte oder weiter rechts des politischen Spektrums liegt, das stört mich nicht. Diese Strömungen gibt es in der Gesellschaft, ergo soll man sie auch erkennen können. Ebenso akzeptabel finde ich, dass der eher reaktionäre Teil der Konservativen, früher haben wir ihn die Stahlhelmfraktion genannt, sich klar zu erkennen gibt. Insofern also kein Wort gegen Hans-Georg Maaßen, den Mann mit den notorisch zu kleinen Brillengläsern.

In meiner Jugend hießen manche Fürsten der Finsternis zum Beispiel Alfred Dregger und sie kamen oft aus  Hessen, wo die Schwarzen auch schon mal braune Schatten warfen. Ich habe immer an die Aktualität des Brecht-Wortes geglaubt, das er nach dem Zusammenbruch des Faschismus als Warnung ausgesprochen hat: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Was mich am Fall Maaßen nachdenklich stimmt, ist, dass der Mann der oberste Verfassungsschützer war, bevor er stürzte, weil er Merkel zu widersprechen gewagt hatte (übrigens möglicherweise in der Sache zu Recht). So also sieht die Behörde, die den Staat zu schützen hat, von innen aus. An der Spitze eine Elefant im Porzellanladen.

Kein Leviathan, ein zartes Wesen

Was wir vom Staat als Institution denken, ist nicht erst durch die Preußen versaut, von Anfang an lag unser Verständnis daneben. Schuld ist ein gewisser Thomas Hobbes, der uns schon im 17. Jahrhundert die Staatsidee als Leviathan verkauft hat. Das meint ein allmächtiges Ungeheuer, das über die zivile Gesellschaft wacht. Die Idee geht so: Die Bürger delegieren das Gewaltmonopol an den Staat und leben, nach diesem Verzicht, untereinander friedlich.

Diese Idee hat Charme; wird sie nur unvollständig umgesetzt, leidet der zivile Charakter. Das versteht die politische Linke notorisch nicht: Es gibt keine halben Gewaltmonopole. Man sieht das tagtäglich in den USA, in denen das private Recht zum Waffenbesitz, -tragen und -gebrauch den Wilden Westen bis heute erhält. Aus Skepsis gegenüber dem (Bundes-) Staat hält sich dort eine Hoffnung, sein Recht zur Not durch eigenen Schusswaffengebrauch durchsetzen zu können, eine milde Form der Anarchie. Der Staat ist aber ein höchst zerbrechliches Wesen, eine Gestalt aus Delfter Porzellan, die mit höchster Vorsicht zu handhaben ist. Unsachgemäß angefasst oder gar hin und her geschubst, zerbricht er. Und aus der milden Form der Anarchie kann eine nicht ganz so sanfte hervorgehen. Oder eine Diktatur, die den Staat Verbrechern ausliefert. Über diesen Scherbenhaufen des zerbrochenen Staates verliert die Gesellschaft ihren zivilen Charakter.

Brexit: die Zerschlagung Britanniens

Dies sind nicht nur kräftige Worte; sie beruhen auch auf bösen Erfahrungen. Das Vereinigte Königreich hat sehr lange in einem inneren Kriegszustand gelebt. Der sogenannte Nordirlandkonflikt, ein blutiger Bürgerkrieg zwischen katholischen Kräften, die sich eher der Republik Irland zugeneigt fühlen als den Engländern, und den protestantischen in Nordirland, die sich als loyal gegenüber London begreifen, konnte erst durch das „Belfast-Abkommen“ oder „Good-Friday-Agreement im Jahr 1998 beendet werden. Die Terrororganisation IRA stellte das Bomben ein und ihre Anhänger wollten Nordirland als Teil des United Kingdom zusammen mit den orange-gefärbten Englandtreuen friedlich regieren. Es steht viel auf dem Spiel, wenn der Austritt des UK aus der EU dazu führt, dass die Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland eine harte EU-Außengrenze wird und wieder eine Insel und ein Volk zerreißt.

Der unverhandelte Austritt Großbritanniens aus der EU („no-deal-brexit“) wird, das ist meine Befürchtung, den britischen Staat erledigen, und zwar vollständig. Ohnehin ist er eine hoch volatile Konstruktion aus Schotten, Walisern, Nordiren und Engländern, die dann weiter erodieren wird. Schottland wird seine Unabhängigkeit suchen. Wales, das bisher vollständig am Tropf der EU-Landwirtschaftssubventionen hängt, kommt ins Trudeln. Und Irland, die Republik, wird im Inselreich eine Bastion europäischer Prosperität, was die ohnehin schlecht verheilten Wunden der imperialen Gentlemen in Westminster aufreißen wird. In meinem englischen Club sind sich alle einig: chaos to come. Aber das schreckt eben nicht jeden. Die englische Oberklasse ist zu Zynismus in der Lage.

Staaten sind keine Nationen

Großbritannien ist kein Sonderfall. Beispiel: Belgien ist ein Konstrukt, ein Vielvölkerstaat, jedenfalls keine homogene Nation. Jetzt müssen alle Patrioten ganz stark sein: Auch Deutschland war sehr lange keine Nation, sondern ein wilder Haufen. Das unterscheidet Deutschland von England und Frankreich. Diese beiden haben zumindest für drei, vier Jahrhunderte eine zentralistische Staatsform, in der in London und Paris die Uhren gestellt wurden. Das deutsche Vaterland war ein Sehnsuchtsprojekt. Insofern ist die deutsche Nation zunächst ein Projekt der bürgerlichen Aufklärung. Das Vaterland wurde von diesen Protagonisten als Republik gedacht als ein Gemeinwesen, das den Unrechtszuständen der Adelsherrschaft entrungen werden musste. Dieser Patriotismus will Demokratie und er denkt darin auch den Minderheitenschutz als unerlässliche Tugend. Man darf sich den Blick darauf nicht durch die zwölf Jahre der NS-Herrschaft verstellen lassen, die Nation als Volksgemeinschaft durchzusetzen suchte; diese aber ist eine vernichtungswillige Diktatur, die den Staat zum Handlanger von Verbrechern macht.

Es gab da einen Dichter in meiner alten Heimatstadt Wolfsburg, der die Sehnsucht der zersplitterten deutschen Lande in einem Lied zusammengeschrieben hat, namens Hoffmann. Sein „Deutschland, Deutschland über alles“ ist Ausdruck eines patriotischen Wünschens angesichts einer schwachen Nation und eines fehlenden Staates. Wir singen heute eine andere Strophe dieses Liedes als Nationalhymne, weil die Nazis den Gebietsanspruch des Hoffmannschen Wunschtraumes mit einem Angriffskrieg Wirklichkeit werden lassen wollten.

Unsere Nationalhymne ist Ausdruck des Bestrebens, einen bürgerlichen Staat zu bekommen, indem man eine Nation erträumt. Sagen wir es klar: Ein Staat ist eine juristische Konstruktion, die auf den tönernen Füßen einer politischen Konstruktion steht, nämlich der einer Nation. Diese selbst ist aber weder historisch homogen noch ethnisch noch sonst irgendwie. Denn die Nation ist eine Narration, ein ideologisches Konstrukt, das die Künstlichkeit des Staates wegsimulieren soll. Deshalb ist der Patriot möglicherweise ein anständiger Mensch und der Nationalist ein Spinner, immer. Das weiß jeder, der so gerne wie ich in das Elsass fährt, weil die Weine ausgezeichnet und die Küche, na was, deutsch ist. Sauerkraut. In Frankreich. Alles klar?

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7 Gedanken zu “Der Staat ist ein zartes Wesen;”

  1. avatar

    Bitte tun Sie sich und uns den Gefallen, den von Rechtsextremisten in Umlauf gebrachten Opfermythos, Maaßen wäre wegen Kritik an der Kanzlerin aus dem Amt entfernt worden, nicht noch weiter zu verbreiten. Vielmehr war es so, daß Maaßen entlassen wurde, weil durch seine Aktionen und Verlautbarungen unübersehbar wurde, daß er als Leiter einer Bundesbehörde objektiv ungeeignet ist, da er
    a) für die Gewaltenteilung und die gewählte Volksvertretung offenbar nur Verachtung übrig hat; anders ist es nicht zu erklären, daß er die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die der Aufklärung der NSU-Mordserie dienten, nach Kräften hintertrieben hat;
    b) sein Amt dazu mißbraucht hat, unliebsame Pressevertreter einzuschüchtern, indem er eine an den Haaren herbeigezogene Anzeige wegen Landesverrats gegen netzpolitik.org anstrengte;
    c) absichtlich die Öffentlichkeit desinformierte – sei es, indem er das Gerücht in die Welt setzte Snowden sei russischer Agent, sei es, indem er behauptete, die Berichterstattung über die Hetzjagden in Chemnitz dienten nur der Ablenkung von dem „Mord“ an Daniel H.

  2. avatar

    K.K.: ‚… es ging um die rhetorische Ankündigung einer Aussage, die wahrscheinlich Widerspruch weckt; was Ihre Reaktion bewahrheitet hat. Also alles bestens.‘

    … Mist, jetzt haben Sie mich aber reingelegt. Im Übrigen glaube ich nicht an ein ‚chaos to come‘ in GB. Wie auch immer. Im Gegentum: Die Völker werden ‚aufatmen‘.

    Das Subventionen, gerade für die Landwirtschaft in GB – eine ‚Geschäftsidee‘ – wegfallen, ist zu begrüßen. Es wird wohl weniger den Bauern, als denn die ‚englische Oberklasse‘ treffen. Es ist mir ohnehin unappetitlich, dass von jeder Schrippe die ich mir kaufe, die Queen und andere ein Stückchen mit ab beißen.

    „Nur über die vielen nationalen Experimente können wir im historischen Verlauf der Zeit lernen, was tatsächlich das Beste ist.

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    Jo. Allerdings muss ein Staat sein Gewaltmonopol auch stets durch verantwortlichen Umgang damit rechtfertigen. Verantwortlich ist z.B. nicht, das Gewaltmonopol auf private Wachdienste zu übertragen. Z. B. im Justizvollzug. Oder aber zu behaupten, man könne die Landesgrenzen nicht sichern.

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    Verehrter Incognistus „derblondehans“, eine politische Aussage dazu, wie „stark“ Patrioten sein können, habe ich nicht treffen wollen; es ging um die rhetorische Ankündigung einer Aussage, die wahrscheinlich Widerspruch weckt; was Ihre Reaktion bewahrheitet hat. Also alles bestens. Ich danke für den Belehrungsversuch, verbleibe aber uneinsichtig. KK

  5. avatar

    K.K.: ‚Jetzt müssen alle Patrioten ganz stark sein: Auch Deutschland war sehr lange keine Nation, sondern ein wilder Haufen.‘

    … Patrioten sind stärker als Sie es glauben (wollen), werter Prof.. Deutschland hatten ‚wir‘ hier. … Europa und die Nationen hier.

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