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Keine lebenswerte Sicherheit ohne gutes Gewissen

Darum geht es bei der Migrations- und Flüchtlingspolitik: man muss eine Balance finden zwischen dem berechtigten Bedürfnis der Europäer, dass nicht zu viele Menschen zu schnell nach Europa kommen, und der Pflicht, die Menschen, die kommen wollen, menschlich zu behandeln.

Die Fehler wurden VOR 2015 gemacht, weil die EU zu dieser Politik nicht gefunden hat, obwohl Zeit dazu war. Das lag auch an dem Beharren Deutschlands auf den Dublin-Regeln, die das Problem allein den (Süd)Ländern mit einer EU-Außengrenze auf‘s Auge drückten.

Deshalb ging es 2015/2016 drunter und drüber. Notmaßnahmen mussten getroffen werden, oft zu Lasten von Flüchtlingen. Aber auch die Länder, die sich wie Deutschland der humanitären Verantwortung stellten und ihre nationalen Grenzen nicht schlossen, sahen sich zunehmend überfordert. Das politische Klima polarisierte sich weiter.

Inzwischen haben die getroffenen Maßnahmen dazu geführt, dass die Zahl der Flüchtlinge auf 5% gesunken ist im Vergleich zu 2015/2016.

Es wäre also Zeit, jetzt die europäische Lösung zu erarbeiten, die 2015 gefehlt hat. Das wäre auch dringend notwendig, denn jeder Blick in den Nahen Osten oder nach Afrika zeigt, dass die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Migration nicht verschwunden sind. Im Gegenteil.

Angesichts der Größe der Probleme ist es völlig ausgeschlossen, dass die Lösungen für die eingangs beschriebene notwendige Balance durch nationalstaatliche Alleingänge gefunden werden kann, ohne die europäische Integration auch jenseits der Freizügigkeit im Schengen-Raum in Frage zu stellen.

Es ist dieser Wunsch nach nationalstaatlicher Regression, der Politiker wie Orban, Kurz oder Seehofer entgegen jeder Evidenz von großem Zeitdruck reden läßt. Sie beschwören apokalyptische Verhältnisse für den Fall, dass nicht SOFORT gehandelt werde. Die EU habe seit drei Jahren nichts erreicht, behaupten sie wider besseres Wissen. Deshalb seien die Nationalstaaten gefordert. JETZT SOFORT. Ausgerechnet die vergleichsweise marginale Frage einer Zurückweisung bereits registrierter Flüchtlinge an der Grenze – mit gutem Grund nur einer von Seehofers 63 Punkten – wird zur Frage nationaler Sicherheit aufgeblasen.

Was ist der Grund für dieses Verhalten? Orban, Kurz und wohl auch Seehofer wollen keine Balance mit humanitären Verpflichtungen. Sie wollen den klaren Vorrang nationaler Interessen, die sie einseitig mit „Sicherheit“ definieren. Und was noch wichtiger ist: Europäische, zu Humanität verpflichtende Werte stehen in ihrer Sicht mit dem nationalen Interesse im Widerspruch. Als könne es lebenswerte Sicherheit ohne gutes Gewissen geben.

Orban, aber auch Kaczynski definieren Nation eng als Einheit von Volk und Staat. Jedenfalls in Orbans völkischem Denken ist dabei kein Platz mehr für Nicht-Ungarn, Flüchtlinge oder gar Muslime.

Sie sehen die Flüchtlingspolitik als Hebel, die EU insgesamt in diese Richtung zu verschieben. Wenn Schengen fällt, weil der Nationalstaat seine Grenzen wieder betont, bleibt über kurz oder lang auch von der sonst erreichten Integration immer weniger übrig. Auf die Finanztransfers an die eigene Adresse wollen Orban und Kaczynski trotz Desintegration selbstredend nicht verzichten. Von Solidarität mit Griechenland wollen sie weniger wissen. Zurück zu Nationalismus statt eine „ever closer Union“, wie es als Ziel in den EU-Verträgen heißt – darauf kommt es ihnen an.

Sie propagieren eine Abschottung der Außengrenzen der EU. Erst dann könne man auf die Sicherung der nationalen Grenzen vielleicht wieder verzichten. „Festung Europa“ erscheint ihnen die richtige Metapher, um das Gefühl, von allen Seiten feindlich belagert zu sein, zum Ausdruck zu bringen. Da wird es ein weiter Weg zu einem Marshall-Plan mit Afrika, um Fluchtursachen entgegenzuwirken. Auch kontrollierte Arbeitsmigration nach Europa kann für jemanden, der im Festungsdenken befangen ist, kaum in Frage kommen. Schließlich kämen ja Angehörige einer „Invasionsarmee“ (O-Ton Orban).

Mit den Maßnahmen, die nach 2015 getroffen wurden, hat die EU Zeit gewonnen. Man wird diese Zeit auch brauchen, angesichts der unterschiedlichen Interessen. Aber eine Lösung für globale Migrations- und Flüchtlingsprobleme lassen sich nur finden, wenn sich die EU als das versteht, was sie neben Friedensordnung und Entwicklungsmotor auch ist: unsere Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung.

Es steht deshalb mehr auf dem Spiel als die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU. Vielleicht ist es ja gerade dieses Bewusstsein, das die Union zusammenhält. Vielleicht erinnert sich die CSU ja an den überzeugten Europäer Franz-Josef Strauß, statt Söders Sirenengesängen von einem Ende des Multilateralismus in den nationalistischen Irrweg zu folgen. Schließlich gehört es seit ihrer Gründung zum Markenkern von CDU UND CSU, sich als Europapartei zu verstehen.

 

 

 

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Über Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz (68) gehörte von 1994 bis 2013 dem Deutschen Bundestag an und war 2000 Generalsekretär der CDU. Von 2005 bis 2013 war der Politiker aus Münster Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und Dean des Global Diplomacy Lab. Der Jurist ist verheiratet und hat mit seiner Frau vier erwachsene Kinder.

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