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Wir sind, was wir erzählen

Im Kalten Krieg waren Stacheldraht und Wachtürme der Inbegriff der Grenze. Nicht zufällig wurde der Ostblock als sozialistisches Lager bezeichnet. Nach dem Ende der Systemkonfrontation öffneten sich die Grenzen. Ob ganz abgeschafft, wie im Schengenraum, oder weiter kontrolliert, wurden sie seitdem grundsätzlich durchlässig: für legale und illegale Waren ebenso wie für legale und illegale Menschenströme. Der gemeinsame Nenner für die Überschreitung einer kontrollierten Grenze ist die Korruption. Ob gescheiterte Staaten oder schwache Fassadendemokratien: deren politisches und Sicherheitspersonal verdient mit. Man könnte das auch Globalisierung nennen.
Der Erfindungsreichtum der betroffenen Akteure kennt dabei keine Grenzen. Er reicht von der Bestechung korrupter Beamter in der Entscheidungskette sowohl in den Herkunfts-, als auch in den Zielländern bis zum florierenden Markt der Fälscher und Schlepper, die auf die Nachfrage aus den Abwanderungsgebieten mit vielfältigen Angeboten reagieren. Ein unberechtigtes Visum, eine falsche Identität oder gar eine echte Staatsangehörigkeit sind eine Frage des Preises. Die gefälschten Bescheinigungen der Taliban über die angebliche Verfolgung sämtlicher Asylsuchender zum Preis von tausend Dollar oder die aus der Türkei nach Deutschland geschickten leeren syrischen Pässe führen die schnelle Diversifizierung des Angebots vor Augen.
Der Rechtsstaatsapparat der Zielländer mit ihren Gutachtern und Anwälten, die in den Schengenstaaten an der Verhinderung der Abschiebungen aus humanitären Gründen völlig legal verdienen, vervollständigt das Netzwerk der grenzübergreifenden Korruption. Freilich wird dadurch das individuelle Asylrecht, das die Entscheidung an die Identität des verfolgten und gefährdeten Flüchtlings festmacht, an absurdum geführt.

Ministerium für Paradiesverteidigung

Manchmal hilft die Fiktion besser als öffentliche Kontroversen, solche Absurditäten auszuhalten, ohne zu resignieren oder zynisch zu werden.
Der Hauptheld in Michail Schischkins Roman „Venushaar“ (2011) ist ein Dolmetscher, der für ein Schweizer Flüchtlingsamt arbeitet. Tag für Tag übersetzt er die Interviews mit den Asylsuchenden aus dem Russischen. Der Amtsleiter hat im Anhang dieser Protokolle zu beurteilen, ob deren Geschichten glaubwürdig genug seien, um den Anforderungen des Asylgesetzes zu entsprechen. Schischkins erste Chefin Sabine wurde gefeuert, weil ihr jedermann leid tat und sie niemanden ablehnen konnte. Der neue Türvorsteher Peter ist indes misstrauisch und abgeklärt, er stellt verwirrende Fragen und ist Meister darin, die angeblichen Flüchtlinge der Lüge zu überführen. „Frage: Sie waren in Afghanistan? Antwort: Wie kommen sie darauf? Frage: Rein deduktiv. Wie Sherlock Holmes.“
Je geringer ihre Chancen auf die Anerkennung, desto einfallsreicher sind die Asylsuchenden. Ihre angeblich verlorenen Pässe, weiß Peter, liegen im Schließfach am Bahnhof versteckt, Namen und Biografien sind erfunden, Volljährige geben sich für Minderjährige aus, manch einer spielt verrückt, um in die Psychiatrie eingeliefert zu werden. Diebe sichern sich eine Unterkunft, um während des Verfahrens auf Raubzüge zu gehen.
„Oder es kommen beispielsweise Hebräer, entlassen aus babylonischer Gefangenschaft, mit dem Freiheitschor aus Nabucco, dritter Akt, auf den Lippen, und unser Vorsteher fragt: ‚Welche Sprache wird im Königreich der Chaldäer gesprochen?’“
Schischkins Flüchtlinge kommen aus dem Bildungsbürgertum und aus dem Tschetschenienkrieg, aber auch aus „sicheren“ Ländern. Die Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen, erscheint hoffnungslos: „Wie soll man …rauskriegen, wie es sich wirklich verhält, wenn die Leute mit den Geschichten, die sie auftischen, verwachsen sind? Wenn man schon nicht hinter die Wahrheit kommt, sollte man zumindest hinter die Unwahrheit kommen.“
Peter aus dem Schweizer Migrationsamt, der den Schlüssel zum Paradies hält und die Entscheidung treffen muss, formuliert die Prinzipien der Auswahl: „Mögen die Sprecher fiktiv sein, das Gesagte ist wahrhaftig. Wahrheit gibt es nur dort, wo es etwas zu verbergen gibt. Gut, die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! …Wir sind, was wir sagen.“
Anders gesagt, der Flüchtling mag lügen, doch er transportiert eine Geschichte, die, obwohl nicht seine eigene, deswegen nicht falsch sein muss. Dieser Sachverhalt widerspricht zwar dem Asylgesetz, nicht aber den Mythen und Überlieferungen, die seit Menschengedenken von Flucht und Vertreibung erzählen. Peter ist ein fähiger Beamter. Er kennt sich nicht nur mit der Antike aus, die voll von unbeschreiblichen Grausamkeiten war, sondern kann den Asylsuchenden ihre eigenen Geschichten erzählen, so dass seine Frage mitunter die vorausgeahnte Antwort enthält. Denn ins Paradies, das von Peter bewacht wird, gelangen nur jene, die eine wahre Geschichte zu erzählen wissen. Das einzig Authentische am absurden Verfahren ist die Erzählung, nicht die Person, die sie in der Hoffnung auf eine positive Entscheidung herbei fantasiert. Es ist die Erzählung, die auch den falschen Asylsuchenden als Opfer erscheinen lässt: ein Opfer seines Schicksals, der betrogenen Liebe, der Rekrutenschinderei, des Krieges – der conditio humana.
„Was ist mit uns? Die wir früher unser Leben gelebt haben und jetzt vor Ihnen sitzen?“
Doch nach dem Buchstaben des Gesetzes ist das existenzielle Leiden kein ausreichender Asylgrund, und Peter ist der Resignation nahe. „Ich wundere mich immer wieder über eure Naivität. Kreuzt hier auf und glaubt, jemand könnte was mit euch anfangen. Aus allen Löchern kriecht ihr hervor, man kommt mit den Befragungen gar nicht hinterher. Für wen soll das gut sein, frage ich mich? Ob ich ihnen glaube oder nicht, was ändert das?“

Die Illusion des Rechtsstaats

In der Tat: ein Refugium für Leben und Schicksal kann es nur in der Literatur geben. Natürlich ist Schischkins Parabel eine Fiktion. Doch sie trifft den Nerv der europäischen Asylkrise. Ihr Paradoxon besteht darin, dass das ostentative Festhalten am Buchstaben des „Rechtsstaats“ – das Recht auf Asyl kennt keine Obergrenze – den Rechtsstaat schwächt. Wenn das Recht die Gesellschaftsordnung, die es bewahren sollte, unterminiert, stellt sich die Frage nach seiner Legitimation.
Man sieht sich in einigen EU-Staaten wie Ungarn und Polen mit einem demokratisch legitimierten Verfassungsputsch durch rechtskonservative Regierungen konfrontiert. Die „illiberale Demokratie“ ist aber nicht nur in den ehemaligen Ostblock-Ländern auf dem Vormarsch. Auch in Frankreich wird ein nationalistischer, antieuropäischer Richtungswechsel immer wahrscheinlicher. Heute scheint es in der Bundesrepublik angeblich ganz anders zuzugehen. Die Demokratie ist gefestigt, die Wirtschaft brummt, der Staat kann beträchtliche Kapazitäten für die Integration der Migranten frei machen. Deutschland erhebt sich als einsamer Pol gesinnungsethischer Selbstlosigkeit über verängstigte Krämer-Länder. Dennoch kommt man um einige historischen Parallelen nicht umhin, zumal in den 20er Jahren des letzen Jahrhunderts das Problem der „unmöglichen“ Grenzen und der Flüchtlingsströme zur Souveränitätskrise der Weimarer Republik beigetragen hat. http://www.cornellpress.cornell.edu/book/?GCOI=80140100181080.
Der Verlust der nationalstaatlichen Souveränität wird nicht durch die Souveränität der EU kompensiert. Die Abschaffung der Grenzen hat die Kriechströme der Migranten – auch im Rahmen europäischer Freizügigkeit – in Richtung einiger weniger Länder gelenkt. Je mehr sich die anderen EU-Mitglieder auf ihre Souveränität besinnen und versuchen, ihre Nationalstaaten zu stärken, umso stärker wirkt Deutschland als Magnet für Migranten aus aller Herren Länder. Während jedoch über die fehlende Solidarität in Europa und den Verrat an den europäischen Werten räsoniert wird, soll die „unmögliche“ Grenze und damit der Schutz der deutschen Souveränität an die Türkei outgesourced werden, ohne das sakrale Asylrecht anfassen zu müssen. Das Ministerium für Paradiesverteidigung wird nun an den Bosporus verlegt.
Der autoritäre Staat, der seine politischen Gegner bombt und sich um die universalen Werte nicht schert, kann den Flüchtlingsstrom gewiss geschickter lenken. Allerdings zeigt die unfassbare Abmachung mit der Türkei, dass Deutschland sich moralisch übernommen und sich in ein realpolitisches Desaster hineinmanövriert hat. Da wäre eine Wiederherstellung der alten Institution Grenze moralischer und legitimer als der törichte Deal mit dem Sultan. Zumal in der Türkei nicht nur das syrische Öl, sondern auch allerlei Pässe zu erwerben sind.

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