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Der Schwanengesang des Imperiums, Teil 2

Von Sonja Margolina:

General Dawydow, ein Protagonist meines Romans „Brandgeruch“ (Berlin-Verlag 2011), hat eine steile Karriere in der sowjetischen Außenaufklärung hinter sich. In den 70er Jahren war er einem Zirkel von Geheimdienstverschwörern beigetreten, die zum Ziel hatten, das unfähige Politbüro zu entmachten und die Konfrontation mit dem Westen zu beenden. Anfangs von der Perestroika und dem Zerfall der Sowjetunion (SU) überrumpelt, gelang es den Verschwörern doch noch, ihren Einfluss zurückzugewinnen und ihn sogar noch auszubauen.

Auf der Jahresversammlung des erstarkten Geheimordens, die im Gebäude des KGB (heute FSB) stattfindet, tritt Dawydow mit einer programmatischen Rede auf, in der er seine Mitstreiter auf die bevorstehende konservative Wende einschwört. Russland sei im Begriff, eine Standesgesellschaft zu werden, in der Macht und Besitz einer neuen Schicht gehörten, dem Neuen Adel der Geheimdienstler.

Die Geschichte ist frei erfunden, aber nicht aus der Luft gegriffen. Anfang der 00er Jahre verdichteten sich Hinweise darauf, dass unter Putin ausgerechnet Vertreter der Geheimdienste und des Militärs massiv an die Schaltstellen der Macht vorgedrungen waren (Olga Kryschtanowskaja: Anatomie der russischen Elite. Kiepenheuer 2004). Die sogenannten Medien-Oligarchen, Gussinskij und Beresowskij, wurden aus dem Land gedrängt. Die Verhaftung von Michail Chodorkoswkij und die Enteignung seines Konzerns „Jukos“ hatte Signalwirkung auf das ganze Land.
In den folgenden Jahren fand eine Umverteilung des Vermögens zugunsten des Personals der Geheimdienste nicht nur ganz oben, sondern überall dort statt, wo es etwas umzuverteilen gab. Geheimdienste haben kriminelle Banden teils zurückgedrängt, teils mit ihnen fusioniert. Eine Folge dieser „Raider-Attacken“ ist heute in den Straflagern zu besichtigen. Ein Viertel der gegenwärtigen Lagerinsassen sind – laut der NGO „Russland, das im Knast sitzt“ – Unternehmer, die ihren Besitz nicht abtreten wollten und Opfer „feindlicher Übernahme“ wurden.
Unter Putin sind Mitglieder der Geheimdienste, des Militärs und anderer systemrelevanten Gruppen im großen Stil zu Reichtum gekommen. Und sie haben ein Standesbewusstsein entwickelt und sind bestrebt, das Erworbene an ihre Kinder weiter zu geben. Politologen geben dem System, das unter Putin entstanden ist, unterschiedliche Namen. Mal heißt es „Petrostaat“, mal „hybrider Autoritarismus“, mal „Putinismus“ oder gar „postsozialistischer Feudalismus“. Wegen der Konzentration der Macht und des Besitzes in nur wenigen Händen wird das politische Regime in Russland auch als „korporatistischer Staat“ bezeichnet und damit in die Nähe des Faschismus gerückt. Die Benennungen heben jeweils unterschiedliche Aspekte der neuen Machtverhältnisse hervor. Gemeinsam ist ihnen, dass Russland unter seiner Führung ein autoritärer, korrumpierter Staat geworden ist, dessen raison d’être in der Herrschaft einer neuen Elite – der Milliardäre aus dem Geheimdienst – besteht. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Karen Dawisha geht noch weiter. In ihrer Studie „Putin’s Kleptocracy: Who Owns Russia?“ zeigt sie anhand zahlreicher Belege, dass Russland von einer regelrechten Geheimdienst-Mafia regiert wird. (Vgl. die Besprechung von Anne Applebaum in The New York Review of Books: http://www.nybooks.com/articles/archives/2014/dec/18/how-he-and-his-cronies-stole-russia/?insrc=hpma )
Selbstverständlich war der Neue Adel bestrebt, seine Pfründe im Westen abzusichern. Er verband seine Vorstellungen vom Erfolg mit westlichem Lebensstandard und mit westlicher Ausbildung für seine Kinder. Er suchte westliche Sicherheit für sich, seine Familie und sein Vermögen. Er verdiente sein Vermögen in Russland, lebte aber in der Schweiz oder in London. Mit dem Anstieg der Ölpreise soll sich die Zahl derer, die sich eine solche Lebensweise leisten konnten, verzehnfacht haben. Und die Eurokrise trug dazu bei, den Erwerb einer Immobilie in Prag, Berlin oder in anderen preiswerten Städten selbst einem durchschnittlichen Provinzbeamten leicht zu machen. Auf diese Weise ist im Westen eine russische Transfer-Diaspora entstanden, die ihr Vermögen zu Hause verdient, es in Europa aber hortet und ausgibt.
2007 hat KGB-General Viktor Tscherkassow, der zu jener Zeit einem der staatlichen Geheimdienste – der Behörde für Drogenbekämpfung – vorstand, einen Aufruf an den FSB unter dem Titel veröffentlicht:  „Man darf nicht zulassen, dass aus Kriegern Händler werden“. Zwischen seiner Behörde und dem FSB, gestand er, gebe es einen Konflikt: Die FSB-Mitarbeiter seien nur auf Bereicherung aus, statt Verantwortung für das Land zu übernehmen.
Tscherkassov war also der Meinung, dass die Verwandlung der Geheimdienste in eine Mafia die Interessen des Staates gefährdete. Der Beitrag missfiel Putin. Tscherkassov fiel in Ungnade und wurde entlassen.
Allerdings war damit das Paradoxon des Putinismus zur Sprache gebracht: Wie kann man Milliarden von Dollars im Westen investieren oder verstecken – Zbigniew Brzeziński sprach von 500 Milliarden Dollar aus Russland allein in den USA – und eine Parallelaktion zur Zerstörung des europäischen Systems vorbereiten?
Putin und seine Cronies seien eine KGB-Mafia, schreibt Dawisha. Das autoritäre, revanchistische Regime, das sich jeder Kontrolle entledigt habe, entspreche dem Bedürfnis Putins und seiner Umgebung, sich selbst und ihr Geld zu schützen.
Folgt man der Logik von Dawisha, könnte die Auflösung dieses Paradoxons im Versuch des Regimes gesehen werden, Europa, in dem sich ein Großteil seines Vermögens befindet, mafiös zu unterwandern. Als Wertegemeinschaft ist Europa eine Bedrohung für das Regime. Im Europa der Amici wie Berlusconi und Orban, fühlen sich die russischen Genossen und ihre Transferleistungen indes gut aufgehoben.
Durch Bestechung schwacher und korrupter Regierungen, durch Unterstützung rechter und linker Parteien und durch die Schaffung wirtschaftlicher Abhängigkeiten, vor allem im Energiebereich (Gaspipelines), wie auch durch Informationskrieg bemüht sich Moskau, europäische Eliten und Institutionen zu korrumpieren und zu schwächen.
„Wandel durch Handel“ war vom Kreml durchaus erwünscht. Bloß sollte der Wandel nicht in Russland, sondern in Europa stattfinden. Und zu Bedingungen, die von ihm zu bestimmen wären. Leider haben die Wohlgesinnten im westlichen Establishment das nie verstehen wollen. Der Wertewandel – wie er nun auf den deutschen Straßen zu bemerken ist – kann in eine unerwartete Richtung drehen. Wertewandel ist keine Einbahnstraße.
In „Brandgeruch“ erfährt Nikolaj Gribojedow, ein missratener Geheimdienstler und Untergebener Dawydows, einen heilenden Wandel – durch die Liebe, versteht sich.
Für seinen Boss, Dawydow, war diese Gnade indes nicht vorgesehen. Auf dem Zenit seiner Macht setzte er ein lukratives Projekt in den Sand – ein orthodoxes Kloster in Uckermark, in dem die Einkünfte seiner Bande gewaschen werden sollten. Die Kollegen in der Moskauer Zentrale nahmen ihm das übel und ließen ein Strafverfahren gegen ihn anstrengen. Der General fand sich in Untersuchungshaft wieder. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt, seine Konten gesperrt.
Um Anwälte – und Richter – bezahlen zu können, verschuldete er sich bei seiner eigenen Mafia und kam auf Bewährung frei. Doch die Hoffnung, die Schulden jemals zurückzahlen zu können, entpuppt sich als Illusion. Aber wer seine Gläubiger enttäuscht, ist ein toter Mann, weiß Dawydow. Das ist ein ehernes Gesetzt der Unterwelt. Der alte, einsame Mafioso hält es nicht mehr aus, in seiner Wohnung auf das Unvermeidliche zu warten. Halb wahnsinnig vor Angst wandert er durch die Straßen. Er mischt sich unter die Menschenmenge, die auf sich dem Weihnachtsmarkt tummelt, und macht vor dem festlichen Christbaum halt. Dort holt ihn die Nemesis ein.
Dawydow wurde für seine Entmenschlichung und seine Hybris bestraft. Damals fand ich sein Ende gerecht. Heute stimmt es mich optimistisch.

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