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Wozu Religion gut sein soll

Jan Ross hat ein Buch geschrieben, Hannes Stein hat es rezensiert:

http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article115869097/Etwas-ist-aelter-und-staerker-als-Kreons-Gesetz.html

Ross hatte mir das Buch geschickt und gefragt, ob ich es rezensieren möchte; ich hatte, weil ich die zentrale These des Buches unhaltbar finde, es aber nicht verreißen wollte, ihn an Hannes weiterempfohlen, und ich freue mich, dass Hannes nun das Buch rezensiert, und so schön rezensiert hat.

Ich bin wie Hannes davon überzeugt, dass es zur wahren Größe im Bösen wie im Guten einer religiösen Haltung bedarf. Insofern gehören 9/11 und Antigone zusammen. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass echte Gläubige niemals das menschliche Gesetz – auch nicht ein so humanes Gesetz wie das deutsche Grundgesetz – als das für sie letztlich bestimmende achten können. Es gibt immer ein göttliches, das darüber steht.

Glaubt der religiöse Mensch, sein Gott habe ihm das Tragen eines Kopftuchs, die Beschneidung seines Sohns, das Akzeptieren des Dogmas der leiblichen Himmelfahrt Mariens befohlen, so wird er das Urteil selbst des aufgeklärtesten Gerichts nicht akzeptieren, wenn es ihm vorschreiben sollte, das Kopftuch abzulegen, den Sohn unbeschnitten zu lassen, oder zu bekennen, dass es so etwas wie eine leibliche Himmelfahrt in der physikalischen Welt schlechterdings nicht geben könne.

Patrick Bahners hat in seiner Kritik liberaler Fundamentalisten (oder totalitärer Liberaler) wie etwa Necla Kelek, auf die Hannes ja auch anspielt, darauf hingewiesen, dass sich in diesem inneren Vorbehalt selbst gegenüber dem Grundgesetz Christen, Juden und Muslime einig sein müssten.

Mein Haupteinwand gegen die These Jan Ross’ betrifft das alles gar nicht. Geschenkt, sage ich. Der Glaube an eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt dem Menschen eine besondere Kraft. Mich hat schon vor Jahrzehnten beim Lesen des „Archipel Gulag“ beeindruckt, wie Solschenizyn die stoische Haltung der internierten Christen der Verzweiflung der internierten Kommunisten entgegenstellte. Jene fanden ihren Glauben bestätigt: Die Erde ist ein Jammertal, der Unschuldige wird verfolgt; wen Gott liebt, den prüft er; der Himmel ist der Lohn. Diese jedoch zweifelten an allen Wahrheiten, an die sie bisher geglaubt hatten, und konnten ihrem Leiden keinen Sinn abgewinnen. Der Tod war das Ende, ein sinnloser, grausamer Witz auf ihre Kosten.

Aber wenn die Religion – oder eine religiöse Haltung: der Glaube an die Bestimmung der deutschen Nation, der arischen Rasse oder der Partei des Proletariats etwa – nötig ist, damit die Menschen über sich hinauswachsen, dann ist sie doch aus menschlichen Gründen nötig. Dann erfüllt sie ein menschliches Bedürfnis. Dann ist die Religion nicht das Opium des Volkes, wie Karl Marx meinte, sondern eben Amphetamin des Volkes. Den Religiösen mag man dann vergleichen mit einem Menschen auf LSD oder Kokain. Aber Droge bleibt Droge: ein Produkt des Menschen, das über ihn Macht gewinnt: das, was Marx und Freud „Fetischisierung“ nennen.

Die Religion aber – wenn sie wahr wäre – würde auch dann wahr sein, wenn sie den Menschen faul und feige machte, böse und dumm. Was ihr gelegentlich auch vorgeworfen worden ist. Das ist übrigens das Thema von Graham Greenes Roman „The Power and the Glory“, der auch einem Nichtkatholiken imponieren muss. Die Nützlichkeit der Religion hat mit ihrer Wahrheit allenfalls umgekehrt proportional etwas zu tun: Je nützlicher sie ist, desto suspekter müsste ihr Wahrheitsgehalt sein.

Nun würde Hannes – und Jan Ross – vermutlich einwenden, dass Antigones Haltung ja nicht nützlich sei. Weder für sie noch erst recht für den Staat. Aber das wäre ein vordergründiges Argument. Wir wären bessere Menschen, menschlichere Menschen, vollständigere Menschen, meint Jan Ross, wenn wir an Gott glauben würden. Und das ist dann doch eine Nützlichkeitserwägung.

Da sind mir Leute wie Richard Dawkins, die mit Gott ringen, denen es um die schlichte und einfache Frage der Existenz Gottes geht, denn doch näher. Mag sein, dass wir, die wir diese Frage verneinen, unseren Bruder eher unbegraben lassen, als es der Gläubige tut. Dass wir ihn eher unbehaust, unbekleidet, unterernährt lassen, als es die Gläubigen tun, das ist nicht bewiesen; und im übrigen hat das kein Geringerer gewusst als Jesus aus Nazareth, der den Priester und den Pharisäer an jenem Mann vorübergehen ließen, der auf der Straße von Jericho nach Jerusalem unter die Diebe gefallen war; der Samariter aber kümmerte sich um ihn. Samariter, das waren nach damaligem jüdischem Verständnis Ungläubige, in den Augen der selbstgerechten Gläubigen nicht besser als Atheisten heute. Aber auch der Atheismus wäre – so wenig wie der Glaube der Samariter – nicht deshalb wahr, weil er die Menschen besser, tapferer, glücklicher oder gesünder machte. Und nicht falsch, wenn das Gegenteil der Fall wäre.

 

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54 Gedanken zu “Wozu Religion gut sein soll;”

  1. avatar

    Aha, wer im gulag sitzt leidet also nicht unter frost, hunger, krankheit, folter sondern unter seinem zusammengebrochenen weltbild, das dringend christlicher korrektur bedarf. es gibt aber keinen widerspruch zwischen kommunismus und christsein. den beweis dafür liefern pussy riot ebenso wie eine milliarde christen in lateinamerika, die neben jesus che guevara und den urwaldgott xango auf dem altar haben.nun zum göttlichen gesetz: bei ovid heisst es „aurea prima sata`st aetas quae vindice nullo sponte sua SINE LEGE fidem rectumque colebat“ das goldene zeitalter kennt also kein gesetz, da das vorhandensein von gesetzen schon ein dekadenzkriterium ist! aber vielleicht meint der schreiber ewige gesetzmäßigkeiten. nun gut, diese karmagesetze gelten dann jedoch auch für den gott, vor allem wenn dieser ein mieser kleiner eselsgott ist wie der aus dem alten testament.

  2. avatar

    @Christian: Eine schöne Replik. „Wir können’s ja nicht lassen“ – ja, diese Fragen stellen sich jedem und immer wieder.
    Wittgensteins durchnummerierter Tractatus (Logisch-Philosophische Abhandlung) schließt mit diesem Satz. Zunächst dachte er, die philosophischen Probleme damit erledigt zu haben und schweigen zu sollen.

    Dies erwies sich aber als ein Irrtum; auch er konnte es „nicht lassen“. Seine stärkste Leistung war – das, was ihn so besonders macht – , dass es nach dem Ende der Philosophie einen zweiten Anfang gab (Blaues Buch -> Philosophische Unterscuhungen), mit dem er einen philosophischen Neustart – auch formal gesehen – hingelegt hat. Hier erscheint vieles wieder, aber eben reformuliert, in neuem Gewand.

    Beide Stränge – Früh- und Spätphilosophie – wurden sehr fruchtbar und beeinflussten die Philosophie des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll.

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