Jan Ross hat ein Buch geschrieben, Hannes Stein hat es rezensiert:
Ross hatte mir das Buch geschickt und gefragt, ob ich es rezensieren möchte; ich hatte, weil ich die zentrale These des Buches unhaltbar finde, es aber nicht verreißen wollte, ihn an Hannes weiterempfohlen, und ich freue mich, dass Hannes nun das Buch rezensiert, und so schön rezensiert hat.
Ich bin wie Hannes davon überzeugt, dass es zur wahren Größe im Bösen wie im Guten einer religiösen Haltung bedarf. Insofern gehören 9/11 und Antigone zusammen. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass echte Gläubige niemals das menschliche Gesetz – auch nicht ein so humanes Gesetz wie das deutsche Grundgesetz – als das für sie letztlich bestimmende achten können. Es gibt immer ein göttliches, das darüber steht.
Glaubt der religiöse Mensch, sein Gott habe ihm das Tragen eines Kopftuchs, die Beschneidung seines Sohns, das Akzeptieren des Dogmas der leiblichen Himmelfahrt Mariens befohlen, so wird er das Urteil selbst des aufgeklärtesten Gerichts nicht akzeptieren, wenn es ihm vorschreiben sollte, das Kopftuch abzulegen, den Sohn unbeschnitten zu lassen, oder zu bekennen, dass es so etwas wie eine leibliche Himmelfahrt in der physikalischen Welt schlechterdings nicht geben könne.
Patrick Bahners hat in seiner Kritik liberaler Fundamentalisten (oder totalitärer Liberaler) wie etwa Necla Kelek, auf die Hannes ja auch anspielt, darauf hingewiesen, dass sich in diesem inneren Vorbehalt selbst gegenüber dem Grundgesetz Christen, Juden und Muslime einig sein müssten.
Mein Haupteinwand gegen die These Jan Ross’ betrifft das alles gar nicht. Geschenkt, sage ich. Der Glaube an eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt dem Menschen eine besondere Kraft. Mich hat schon vor Jahrzehnten beim Lesen des „Archipel Gulag“ beeindruckt, wie Solschenizyn die stoische Haltung der internierten Christen der Verzweiflung der internierten Kommunisten entgegenstellte. Jene fanden ihren Glauben bestätigt: Die Erde ist ein Jammertal, der Unschuldige wird verfolgt; wen Gott liebt, den prüft er; der Himmel ist der Lohn. Diese jedoch zweifelten an allen Wahrheiten, an die sie bisher geglaubt hatten, und konnten ihrem Leiden keinen Sinn abgewinnen. Der Tod war das Ende, ein sinnloser, grausamer Witz auf ihre Kosten.
Aber wenn die Religion – oder eine religiöse Haltung: der Glaube an die Bestimmung der deutschen Nation, der arischen Rasse oder der Partei des Proletariats etwa – nötig ist, damit die Menschen über sich hinauswachsen, dann ist sie doch aus menschlichen Gründen nötig. Dann erfüllt sie ein menschliches Bedürfnis. Dann ist die Religion nicht das Opium des Volkes, wie Karl Marx meinte, sondern eben Amphetamin des Volkes. Den Religiösen mag man dann vergleichen mit einem Menschen auf LSD oder Kokain. Aber Droge bleibt Droge: ein Produkt des Menschen, das über ihn Macht gewinnt: das, was Marx und Freud „Fetischisierung“ nennen.
Die Religion aber – wenn sie wahr wäre – würde auch dann wahr sein, wenn sie den Menschen faul und feige machte, böse und dumm. Was ihr gelegentlich auch vorgeworfen worden ist. Das ist übrigens das Thema von Graham Greenes Roman „The Power and the Glory“, der auch einem Nichtkatholiken imponieren muss. Die Nützlichkeit der Religion hat mit ihrer Wahrheit allenfalls umgekehrt proportional etwas zu tun: Je nützlicher sie ist, desto suspekter müsste ihr Wahrheitsgehalt sein.
Nun würde Hannes – und Jan Ross – vermutlich einwenden, dass Antigones Haltung ja nicht nützlich sei. Weder für sie noch erst recht für den Staat. Aber das wäre ein vordergründiges Argument. Wir wären bessere Menschen, menschlichere Menschen, vollständigere Menschen, meint Jan Ross, wenn wir an Gott glauben würden. Und das ist dann doch eine Nützlichkeitserwägung.
Da sind mir Leute wie Richard Dawkins, die mit Gott ringen, denen es um die schlichte und einfache Frage der Existenz Gottes geht, denn doch näher. Mag sein, dass wir, die wir diese Frage verneinen, unseren Bruder eher unbegraben lassen, als es der Gläubige tut. Dass wir ihn eher unbehaust, unbekleidet, unterernährt lassen, als es die Gläubigen tun, das ist nicht bewiesen; und im übrigen hat das kein Geringerer gewusst als Jesus aus Nazareth, der den Priester und den Pharisäer an jenem Mann vorübergehen ließen, der auf der Straße von Jericho nach Jerusalem unter die Diebe gefallen war; der Samariter aber kümmerte sich um ihn. Samariter, das waren nach damaligem jüdischem Verständnis Ungläubige, in den Augen der selbstgerechten Gläubigen nicht besser als Atheisten heute. Aber auch der Atheismus wäre – so wenig wie der Glaube der Samariter – nicht deshalb wahr, weil er die Menschen besser, tapferer, glücklicher oder gesünder machte. Und nicht falsch, wenn das Gegenteil der Fall wäre.
„Dies gelingt für mich am eindrucksvollsten Wittgenstein, z.B. mit dem weltberühmten, weil unmittelbar für jeden verständlichen Satz: “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”“ (Roland)
In diesen Satz mündet Wittgensteins Tractatus, nachdem er die Grenzen jedes nicht-transzendenten Versuchs, die Welt zu erklären, vor Augen geführt hat.
Petrus argumentiert in überwältigender Tiefe für genau jene transzendente Offenbarung, die Wittgenstein Zeit seines Lebens gesucht und nie gefunden hat und schließt mit dem Satz:
„Wir können’s ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten, was wir gesehen und gehört haben.“ (Apg. 4,20)
Übrigens finde ich auch, dass Stein da eine sehr gute Rezension geschrieben hat. Die Passage über Jürgen Fuchs gefiel mir gut und besonders dieser Satz:
„Etwas ist älter und stärker“, schrieb Fuchs im Rückblick über sie. Dieser Satz könnte von Antigone stammen. Etwas ist älter und stärker als Kreon und sein Gesetz.
Zum Thema passend auch ein Stück über Kierkegaard:
http://www.welt.de/kultur/lite.....erger.html
Interessant die letzte Passage:
„Eignet ihm die kritische Kraft, sub specie Dei alles Weltliche an seine Endlichkeit zu erinnern, dann muss der Glaube dies auch auf sich selbst anwenden. Nicht nur die Vernunft hat ihre Grenzen, auch der Glaube. Er darf sich nicht selbst an die Stelle Gottes setzen wollen.
Genau dies aber hat Kierkegaard getan und damit ein kognitives Muster für all jene fundamentalistisch Frommen geliefert, die keine Grenzen anerkennen wollen und so die Grundlagen der Zivilität zerstören.“
Das Große muss also Gott sein und nicht der Gläubige selbst. Der Fundamentalist kann das Große zerstören. So geht die Gefahr für den Islam nicht etwa von modernen Lebensweisen aus, sondern von seinen eigenen Fundamentalisten.
@ Roland Ziegler:
Animus. Anima.
Die Schöne und das Biest, Stein und Flöte von Hans Bemmann, außerdem von demselben Autor „Die Beschädgte Göttin“, Die Metamorphosen von Ovid. Keine Zeitvergeudung.
@ Roland Ziegler
„Hier würde ich also Zweifel anmelden, ob die Torheiten wirklich nur töricht sind oder ob sie nicht auch eine versteckte Bedeutungsschicht – eine bestimmte Offenbarungsfunktion – haben.“
Natürlich. Das sind reine Seelenbilder.
Außerdem müssten Sie wissen, dass Ihr Hund immer mehr versteht, je öfter und klarer Sie mit ihm sprechen. Und er bellt in verschiedenen Tonlagen. Wir verstehen das bloß nicht.
Die Seele ist nur töricht für Interessenten, die uns zu funktionierenden, lediglich konsumierenden Robotern erziehen wollen.
Kleine Provokation zum Sonntag:
Insgesamt war es früher leichter, Glauben zu verwerfen. Es gab Argumente hierfür, die aus den Missetaten jeder Glaubensgemeinschaft resultierten.
Heute, wenn einer pleite geht,könnte er auch ebensogut fragen: Wozu brauchte ich dieses neue Bad/Auto/Mobiliar/neue Küche auf Kredit?
Will sagen, mancher Konsum beruht auch auf einem Glaubenssystem. Sonst hätten wir keine Werbung. Stelle man sich vor, der ganze Konsum würde zurückgehen, weil die Gläubigkeit, dass man diesen Film sehen muss/das neue Handy haben sollte/der alte Fernseher schäbig aussieht/die Hose weit, eng etc sein muss, nachlassen würde – die Wirtschaft käme in genau dieselben Schwierigkeiten wie die Kirchen.
Es könnte doch sein, dass eine Mehrzahl irgendwann sagt, sie brauche diese gadgets nicht mehr, was dann?
Da die Wirtschaft das weiß, empfindet sie immer neue Strategien, auch angeblich death dates von Geräten. Das ist der Unterschied zwischen der Wirtschaft und den Kirchen. Die Kirchen dachten, das ginge immer so weiter wegen Gott. Sie verwechselten sich mit Gott, das ist ihr Problem, das Jesus schon schön dargelegt hatte (den Tempel mal auskehren). Die Wirtschaft würde nie auf den Gedanken kommen, sich mit einem Auto zu verwechseln und weiß um die wankelmütige menschliche Gläubigkeit. Und sie weiß auch, dass, wenn irgendwo ein verdorbener Hamburger auftaucht, alle glauben, da könnten noch mehr sein und weniger Hamburger essen.
Es ist also doch weniger der Glaube an Gott das Problem als generell die Gläubigkeit, vor allem, wenn sie als Massenbewegung auftritt.
@Alan Posener/Parisien: Die „starke These“ des Atheisten über die „letzten Dinge“ speist sich, wie Herr Posener angegeben hat, aus zwei Quellen: einerseits aus der Ablehnung der Torheiten der Religion, andererseits aus einer Interpetation der Physik.
„Torheit“ ist in diesem Zusammenhang ein doppeldeutiger Ausdruck. Die Aussagen der Theisten enthalten viel Wunderglauben; Herr Posener hat ein Beispiel gegeben. Niemand kann daran im gewöhnlichen Sinn glauben. Das zu fordern bedeutet eigentlich, den menschlichen Verstand auszuschalten. Auch durch das genaue historische Nachschauen und durch die Gegenüberstellung verschiedener Texte wird die Faktizität der Geschichten widerlegt. Mir erscheint das, wie wenn man ein Märchen widerlegt, indem man sagt, Tiere könnten nicht sprechen. Das stimmt zwar, aber hat man dadurch die Bedeutung des Märchens richtig erfasst und zurückgewiesen? Oder nicht eher unterlaufen? Hier würde ich also Zweifel anmelden, ob die Torheiten wirklich nur töricht sind oder ob sie nicht auch eine versteckte Bedeutungsschicht – eine bestimmte Offenbarungsfunktion – haben.
Was die Interpretation der Physik betrifft, so erinnert mich das an einen Indizienprozess. Im Mittelpunkt steht die Geschichte unserer Welt. Am Anfang war der Urknall, dann kamen Raum und Zeit; mit der Schwerkraft die Sternenverklumpungen und mit den Sternen die Kernverschmelzungen, aus denen die chemischen Elemente und mit ihnen auch das Leben – wie – entstanden, um den Stand der Dinge leicht verkürzt zu sagen. Ein zufälliger Prozess, der sich so aufschaukelt, dass er sich am Ende selber in den Blick rückt, mit uns Menschen, die das alles im Spiegel ihres Bewusstseins betrachten? Jedenfalls ein extrem komplexer Prozess, den wir bei weitem noch nicht verstanden haben; von dem jetzt schon klar ist, dass unübersehbar große Bereiche, ja Dimensionen der physikalischen Wirklichkeit vollständig außerhalb unserer Zugriffsmöglichkeiten liegen.
Kurz und gut: diese Indizien aus der physikalischen Welt sprechen nicht unbedingt für die These des Atheisten. Sie nötigen uns zur Zurückhaltung, scheint mir.
Nehmen Sie mal das, Alan Posener, und schauen Sie sich vor allem das Bild Nr.8 an. Das Gesicht des Tieres ist göttlicher als jede Nachfrage nach Elfenbein. Und der Glauben an das Aphrodisiakum ist irrer als jeder Religionsglaube. Aber da steckt noch mehr dahinter:
http://www.spiegel.de/wissensc.....99255.html
@Alan Posener
Sie schrieben:
Es gibt natürlich auch eine Mystik für Atheisten – den Buddhismus. Meditation usw. ist eine Technik der “Achtsamkeit”, wie man heute sagt, keine im eigentlichen Sinne religiöse Praxis.
Ein Vertreter des „old atheism“, der Philosoph Joachim Kahl hat dazu einen interessanten Text verfasst. Da ist Spiritualität durchaus nicht nur für Anhänger einer Religionen gedacht. Lesenswert!
Weltlich-humanistische Spiritualität: „Wie hältst Du’s mit der Spiritualität?“, diesseits 2012, Heft 1
http://www.kahl-marburg.privat.....taet_4.pdf
@ Alan Posener
„Richtig. Es ist eine Torheit.“
Deshalb wird ja der Parcival als Tor bezeichnet. Und hierbei geht es nicht um Dummheit, sondern um Reinheit. Parcival, der reine Tor. Unschuld also.
Jetzt muss ich hoch greifen. Glauben Sie, dass ein in diesem Sinne reinerer DSK heute in der Lage stecken würde, in der er sich befindet?
Anders formuliert: Ist nicht die alleinige Macht, die nicht mehr unterfüttert ist von einem Glauben, seduktiver als der Glauben und verleitet zu verhängnisvollen Fehlern?
(Führen Sie bitte die Päderastie nicht an, denn das ist eine Krankheit, vermutlich).
Sind nicht die Taten der Nazis auch möglich gewesen, weil sie sich nicht auf den uns gemeinsamen Moses besonnen haben? Sind muslimische Attentäter so fehlgeleitet, weil sie nicht den gemeinsamen Abraham im Kopf haben, mit dem man keineswegs in fidels und infidels unterteilen kann?
Und ist Israel, wie Sie sagen, wirklich von Atheisten gebaut? Das glaube ich nicht. Warum hätten Atheisten Hebräisch als Landessprache wählen sollen? Warum sollte es den Sabbath noch geben?
Wie ist es mit Einstein und Szilard? Glauben Sie nicht, ihre Bedenken wären beeinflusst gewesen von einer höherstehenden Ethik, höher als sie selbst? Und denken Sie an Max Planck, der sagte: „Auf dem Grunde des Bechers wartet Gott.“ Wir haben ihn also ausgetrunken, diesen Becher, und da ist nichts mehr. Außer… Etwa so: „Und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis….und hätte die Liebe nicht“ (Paulus).
Viele Physiker kehren zum Glauben zurück.
Den Islam müssen wir hier übergehen, denn wir kennen ihn gar nicht. Wir kennen nur eine von Gewalt verzerrte Fratze, eine Verzerrung, Machtgehabe, Politik. Wenn Sie die Jamkaran-Moschee in Ghom betrachten, sehen Sie kein „Bajonett“. Sie sehen zwei nicht besonders hohe Minarette, die oben rundlich sind und harmonisch neben der Kuppel stehen. Da war also mal etwas anderes. Man muss es nur sehen.
Mir geht es mehr um Religion an sich, nicht um diese Verzerrungen.
Wissen Sie, ich habe vor Jahren etwas fundamental Schlimmes erlebt. Da habe ich festgestellt, dass Menschen inzwischen unfähig sind, in ausgefallenen Situationen die richtigen Worte zu finden. Menschen können nicht mehr wirklich trösten, aufmuntern. Menschen reden in solchen Situationen nur von sich, so wie wir oft völlig abgehoben von zum Beispiel den Griechen reden. Es gibt Zeiten, wo Worte Hülsen sind. Aber es gibt Worte in den Büchern, die nie zu Hülsen verkommen. Wahre, zeitlose Worte. Wir sind doch nur Babel und bauen an unseren Türmen, immer wieder neu.
Lieber Parisien, ich habe ja selbst die Problematik einer atheistischen Ersatzreligion wie etwa in der Sowjetunion angesprochen, in so fern muss ich da auch nichts verteidigen oder hinzufügen. Was Israel betrifft, so ist es entschieden wichtig zu wissen, dass das Land vor 1945 und auch in den Jahren danach in erster Linie von Atheisten aufgebaut wurde, jedenfalls von nicht-religiösen Juden. Das Land ist in der Tat das beste Beispiel dafür, dass es idealistisches und hoffnungsfrohes Verhalten – aber auch Tapferkeit im Angesciht von Gefahr und Rückschlägen – geben kann ohne Religion. Obwohl der eine oder andere Leser einwenden könnte, der Zionismus sei, wie der Kommunismus, auch eine weltliche Ersatzreligion. Was nicht ganz vonder Hand zu weisen ist.
Aber sehen Sie: Das, was Sie über die Jugend in den südeuropäischen Ländern sagen, mag stimmen, obwohl ich es nicht glaube. Nehmen Sie zum Beispiel Irland und die Iren im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Alle Leute, die darüber geschrieben haben, ob James Joyce oder Frank McCourt, betonen die üble Rolle, die die katholische Kirche gespielt hat. Und man kann kaum umhin, dem Islam einen noch größeren Vorwurf im Hinblick auf die Rückschrittlichkeit der arabischen Gesellschaft zu machen. Mein Argument ist aber: Das Christentum unterscheidet sich ja gerade dadurch von den Religionen der Antike, das es nicht eine Zivilreligion ist, eine Religion, deren mehr oder weniger offen zugegebener Zweck die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Sitten ist. Moderne Religionen wie das Christentum, das pharisäische Judentum und der Islam machen Aussagen über die Wirklichkeit. Darum sagt Paulus irgendwo, es erscheine den Philosophen als „eine Torheit“. Richtig. Es ist eine Torheit. und wo es nicht als ein solches erscheint, sondern praktischen Zwecken dient, ist es nicht mehr Christentum, sondern eine Zivilreligion wie im alten Rom oder ein New-Age-Selbsthilfe-Kult.
Gerade zu Christi Himmelfahrt muss sich derjenige, der sich zum Christentum bekennt, ob er diesem Bericht glauben schenkt. Denn die Apostel sahen Jesus am Ölberg vor ihren Augen abheben und in den Himmel entschweben. Das haben sie bezeugt. Und weshalb soll dieses Zeugnis weniger glaubhaft sein als jenes vom leeren Grab? Es geht also, ich wiederhole es, um die Torheit der Religion, und um die Gesamtheit ihrer Aussagen, nicht um die Nützlichkeit eines von allen Ecken und Kanten befreiten, für den modernen Skeptiker kompatibel gemachten „Glauben“, der ihm nichts abverlangt, ihm aber Trost und Distinktionsgewinn spendet.
@ Alan Posener
Es gibt keinen Buddhismus für Atheisten. Wenn einer dem Buddhismus angehört, ist er religiös. Der Buddhismus ist die viertgrößte Religion. Und Meditation reicht nicht. Der Buddhismus ist mehr als bloß Meditation. Er ist genauso ein schwieriger Erkenntnisweg wie alle anderen Religionen, meidet aber einerseits Askese, andererseits Hedonismus.
Ich habe schon gelegentlich den Eindruck bekommen, dass Deutsche, die mit dem Buddhismus liebäugeln, ihn betrachten wie Yoga und Spa, so ein bisschen Wohlgefühl, also letztlich Hedonismus pur, genau, was der Buddhismus ablehnt. Also bekommt man den Eindruck, dass die meisten Deutschen den Buddhismus gar nicht kennen und nur besser finden, weil er nicht ihr Eigenes ist, so wie manche Italien besser fanden, weil’s so witzig im Urlaub war.
Ich halte Ihnen mal einen Atheisten hin, den ich respektiere: Das ist Christopher Hitchens, bis zu seinem Ende ein konsequenter Atheist. Nur muss man bedenken, dass er damit Geld verdiente. Daher weiß niemand, was er wirklich am Ende dachte. Aber ein Disput zwischen Hitchens und dem Papst hätte mich fasziniert.
Also, was nun? Atheisten mit Hedonismus oder religiöse Buddhisten?
@ Alan Posener
Meine Anmerkung übr Holocaustüberlebende verlangt eine Spezifizierung. Ich meine, dass der jüdische Glauben vor dem Holocaust sehr tief war, und selbst, wenn die Überlebenden Gott verwarfen, ihnen Bestandteile aus diesem Glauben erhalten blieben, die sie befähigten, weiter zu leben. Die Fröhlichkeit von Israelis ist ein Phänomen. Was hat uns dagegen der Kommunismus hinterlassen?: Weitgehend desillusionierte Menschen, oft verbittert. Die Systeme versprechen, aber halten nicht, weil die Versprechungen oft Lügen sind. Der Glauben verspricht gar nichts. Und deswegen ist er wichtig.
@ Alan Posener
Das ist ein guter Einwand. Aber Hölle oder Jüngstes Gericht ziehen nicht mehr.
Wenn man aber über die frühere Glaubensvermittlung an das einfache Volk via Märchen denkt, ging immer folgende Botschaft daraus hervor: Es ist der härtere Weg, er sei mit Stolpersteinen gepflastert. Der Held ist jeweils der moralisch nicht eindeutig Bessere, sondern wie im Parsifal der Einfältige, der aus dem Bauch heraus die richtigen Entscheidungen trifft, die aber nicht die leichteren sind.
So kann man einem abgesättigten Wesen wenig übel nehmen, dass es glaubensfrei leben kann. Man kann aber Atheisten übel nehmen, dass sie bei den Ärmeren die Illusion erzeugt haben, ohne Glauben wäre alles besser. So mancher arbeitslose Jugendliche in Griechenland oder Spanien wäre möglicherweise mit Glauben besser dran, einfach deswegen, weil er einerseits sein leben weniger im finanziellen Kontext verabsolutieren würde, andererseits, weil ihm möglicherweise eine Kreativität erhalten geblieben wäre, die ihn zu irgendeiner Lösung seines Problems bringt, sei es, dass er auswandert, sei es, dass er irgendeine Arbeit annimmt. Auf jeden Fall würde er möglicherweise eigenständig sein, aber das ist nur Theorie. Jedenfalls geht es vielen Leuten schlechter, und dass man ihnen im Lauf der vergangenen Dekaden diesen mutmachenden Halt genommen hat, ist ein Verbrechen der besonderen Art. Niemand hat ihnen vermittelt, dass die Wirtschaft kollabieren kann.
Die Bibel aber kollabiert nie und ist voll von solchen Geschichten, denken Sie nur an Hiob/Job. Dem es eines Tages wieder besser geht, was durchaus Hoffnung erhalten kann.
Will sagen, von den drei Dingen Glaube, Hoffnung und Liebe fand Paulus die Liebe am wichtigsten. Ich selbst finde die Hoffnung am wichtigsten, weil nur ein Mensch, der die Hoffnung nicht verliert, auch lieben kann. Gucken Sie die Holocaustüberlebenden: Sie haben zwar oft den Glauben verloren, die Hoffnung aber nie, sonst hätten sie Israel nicht aufbauen, nicht lieben, heiraten und fröhliche Kinder zeugen können.
Die Politik kann keine Hoffnung nähren wie die Religion. Die Politik arbeitet immer für die eine Gruppe gegen eine andere. Nur die Glaubenssysteme inklusive Buddhismus können dem Menschen solche Dinge geben wie Hoffnung, Liebe, Durchhaltevermögen, Ruhe oder auch Weisheit. Und jetzt, wo sie in den Mutterländern Spanien und vor allem Italien dünn geworden sind, werden sie von der jungen Generation an sich gebraucht.
Denn ich meine, dass die Religion, die christliche zumindest, vermittelt, dass nicht immer alles easy-going ist, und dass sie damit viel realistischer ist als z.B. atheistische Systeme wie der Kommunismus.
@ Parisien: Sie haben sicher Recht, dass (manche) Atheisten mehr über gott schreiben als (manche) Religiöse. Das sollte Ihnen nur Recht sein.
Echter Atheismus bedeutet nämlich, mit einer These über die letzten Dinge ins Leben gehen. Hingegen ist die Allerweltsberuhigung, irgendetwas Liebes, Väterlich-Mütterliches werde es „Überm Sternenzelt“ schon geben, nur eine bequeme moderne Fantasie, die Tod und Gericht und Hölle und damit die Hälfte der christlichen (und muslimischen) Theologie ausblendet, mitsamt der Tatsache, das wir nur ein Leben haben, das auch scheitern kann, und das deshalb sehr kostbar ist.
Sie schreiben:
„In der Mystik kommen alle Religionen zusammen zu einem sehr tiefen, strahlenden Zentrum, zu dem auch Schiller kam.“ Es gibt natürlich auch eine Mystik für Atheisten – den Buddhismus. Meditation usw. ist eine Technik der „Achtsamkeit“, wie man heute sagt, keine im eigentlichen Sinne religiöse Praxis.
Es stimmt natürlich, dass es eine Nützlichkeitserwägung ist, zu sagen, dass Religion den Menschen besser, menschlicher oder vollständiger macht und dass solche Überlegungen nichts mit der Frage zu tun hat, ob die Religion wahr ist. Aber warum ist das ein Einwand? Was spricht den bitte gegen Nützlichkeitserwägungen, sofern man kein Fundamentalist ist? Es muss ja nicht alles, was ein menschliches Bedürfnis befriedigt, gleich eine Droge sein.
Aus einer innerreligiösen Perspektive muss man natürlich sagen, dass ein Gott, der dafür da ist, nützlich für die Menschen zu sein, kein richtiger Gott wäre. Aber erstens gibt es ja nicht nur die innerreligiöse Perspektive und zweitens bedeutet, dass die Religion nützlich ist, nicht, dass Gott auf das Nützlichsein reduziert wird.
(Ich denke allerdings, dass die These von Jan Ross falsch oder zumindest nicht allgemeingültig ist. Religion macht sicher manche Menschen besser, menschlicher und vollständiger, andere Menschen macht sie bösartig, heuchlerisch oder weltfern. Dieser Befund spricht nicht für Religion, allerdings wohl gegen prinzipielle Religionsfeindlichkeit.)
@ Roland Ziegler
„@Parisien: eine Antwort auf Ihre Verwunderung: “Wir Agnostiker” sind uns unsicher; “Ihr Theisten” seid euch sicher.“
Ich bin gar nicht so ein Supertheist und nicht das, was eine Kirche sich wünscht. Ich gehe selten zum GD und wenn, dann in irgendeine prächtige Kirche oder Kathedrale, wobei mir völlig schnuppe ist, ob es sich um eine katholische, orthodoxe, evangelische oder anglikanische handelt. Wenn die Predigt mir zu politisch wird, bin ich schon gegangen, mitten in der Predigt.
Aber ich will Ihnen etwas vielleicht Allgemeingültiges dazu erklären, warum wir so sicher sind: Mindestens in Notsituationen, wo nichts mehr hilft, sind wir dazu in der Lage, zu beten, und das hilft. Es beruhigt zumindest. Man fühlt sich nicht allein. Und man handelt besser in der Folge.
Daher ist da etwas. Und Friedrich Schiller, ein Apostata, wusste dass auch: „Brüder, über’m Sternenzelt…“ Ode an die Freude. Und auch Voltaire wusste das. Den klugen Aufklärern ging es mehr darum, dass die Kirche nicht diktiert. Wirklich Gläubige waren auch aufgeklärt und umgekehrt und wussten, dass Gott nicht diktiert, sondern alles Diktieren des Kaisers ist. So wussten das auch manche Sufis, und in der Mystik kommen alle Religionen zusammen zu einem sehr tiefen, strahlenden Zentrum, zu dem auch Schiller kam.
…ich habe mir grad meine eigenen Auslassungen nochmal durchgeguckt; dem Thema Beschneidung habe ich einen sehr kleinen Raum gegeben. (Es erscheint nur ganz am Ende meines ersten Statements als ein Beispiel, im 2.-5. Statement gar nicht.) Ich habe das Beispiel aus dem Referenztext von Hannes Stein entnommen; warum hätte ich es unter den Tisch fallen lassen sollen? Mich wundert nun, dass dieses kleine Teil-Thema hier als einziges auf- und angegriffen wurde. Ein empfindlicher (möglicherweise sogar blinder) Punkt?
@Parisien: eine Antwort auf Ihre Verwunderung: „Wir Agnostiker“ sind uns unsicher; „Ihr Theisten“ seid euch sicher. Auch die echten Atheisten sind sich sicher und können deshalb das Thema beiseite legen. Deshalb reden „wir Agnostiker“ so viel über das Thema, das für euch so einfach und selbstverständlich erscheint. Ein bisschen Neid ist auch dabei auf usnerer Seite, das will ich gar nicht abstreiten. Aber euren Standpunkt einfach zu übernehmen und das Thema damit für uns alle abzuhaken ist uns nicht möglich (eine Erklärung für diese Unmöglichkeit habe ich für meinen Fall oben abgegeben).
…Korrektur: überschritten wird nicht, wie ich geschrieben habe, die Grenze zwischen den Religionen und dem Staat, sondern die Grenze, die der Staat den Religionen auferlegt – m.E. zu Recht auferlegt – und von der Hannes Stein nichts wissen will.
@Alan Posener/Parisien/Serdar: Ich wollte die Beschneidung nicht mit dem Ehrenmord auf eine Stufe stellen. Das wäre in der Tat unlauter. Wenn dieser Eindruck entstanden ist, entschuldige ich mich. Ich hatte bei der Beschneidung von einem „Grenzfall“ gesprochen (Herr Posener: Sie sprachen von „Abwägung“); der Ehrenmord dient mir als Beispiel dafür, dass diese Grenze – die zwischen den Religionen und dem Staat verläuft – auch gelegentlich eindeutig überschritten wird (es gibt viele andere Beispiele: Vergewaltigung in der Ehe, weil ein Heiliger es so will; Terrorakte im Namen des Herrn; Fatwa…)
Zur Erinnerung: Hannes Stein schrieb, der Staat möge sich „gefälligst raushalten“ aus solchen religiösen Fragen. Dagegen habe ich mich hier ausgesprochen. Bei Ehrenmord, Fatwa usw. usf. darf sich der Staat nicht raushalten, und die Beschneidung ist ein Grenzfall. Wenn sich die Religiösen gegen den Staat verbünden, um ihn zu bekämpfen, so wie es Hannes Stein am Ende andeutet, fühle ich mich nicht mehr wohl.
Und jetzt, lieber Parisien, halte ich mich zumindest aus dem Beschneidungsthema heraus, und werde über den Rest, den Sie geschrieben haben, nachdenken. Auch mir ist mein eigener Eifer suspekt geworden, aber meine gewöhnliche Lethargie ist es nicht weniger.
@Roland Ziegler
Das müssen sie die Menschen fragen, die jetzt beschnitten werden. Denn früher gab es so ein Verbot nicht. Ist ja interessant nicht wahr? Das sich sowas ändern kann. Morgen könnte es wieder anders aussehen.
Ich denke es gibt viel mehr Entscheidungen, die ein Kind seinen Eltern vorwerfen kann an Entscheidungen als wenn sich der Vater ins Gefängnis begibt, weil ein Kölner Gericht „Ersatzreligion“ spielen wollte.
Es gibt leider die Tendenz in Deutschland anderen vorzuschreiben wie sie zu leben haben. Das geschieht nicht dadurch, das man den Leuten es direkt aufzwingt. Aber der gehobene Zeigefinger schwingt bei jedem Diskurs mit.
Daher auch die Aufregung zum Kölner Gericht, als gäbe es keine anderen Probleme.
Genauso gut hätte man auch den Glauben an Gott verbieten können. Ist das gleiche, die Leute werden dafür ins Gefängnis gehen egal wie „vernünftig“ und säkular so eine Begründung daher kommt.
Denn insgeheim sind viele Säkulare empört, das die Menschen immer noch nicht einsehen, das sie an Märchen glauben. Spätestens wenn von staatlicherseits ein Verbot erlassen wird, sollen die Menschen doch bitte schön ihre Spielchen aufgeben und dem Folge leisten.
Wenn mein Vater damals deswegen ins Gefängnis gegangen wäre, ich wäre stolz auf ihn.
@ Roland Ziegler
Im Grunde ist es phänomenal, dass Sie, der sich zu Nichtgläubigkeit bekennt, auf einem posting über Religion zehn von 28 comments schreiben und dabei schaffen, auf die Beschneidung zurückzukommen.
Am meisten über Religion schreiben ja Atheisten. Es scheint eine Art Eifersucht in ihnen zu wohnen, dass die Gläubigen etwas Nichtmaterielles besitzen, für das sie nicht mal zahlen müssen, und das sie in Einzelfällen signifikant bereichert. Also muss man sie da packen, wo man sie packen kann, und das ist bei dem Tatbestand Körperverletzung.
Sie wollen nicht begreifen, dass die Jungen-Beschneidung, eine uralte Sitte, die zuerst dem Moses eingegeben wurde, ein tief in der jüdischen und muslimischen Religion verankertes Ritual ist, während die Mädchen-Beschneidung eine dämliche afrikanische Sitte und Verstümmelung ist, die der Islam in islamisch geprägten afrikanischen Ländern weitergeschleppt hat.
Die Beschneidung der Jungen bedeutet für Juden und Muslime auch, dass sie sich von uns unterscheiden und zwar religiös. Sie gehören damit für sie selbst sichtbar einer Religion an. Da die männliche Beschneidung keine späteren Nachteile hat, wird es Ihnen und den versammelten Beschneidungsgegnern nicht gelingen, durch phantasierte Straftatbestände Muslime und Juden zu überzeugen, dass sie sich an Ihre Vorstellungen anpassen sollten.
Mein Gott, mein persönlicher Gott, in manchen Stunden angerufen, hat mich auch schon Dinge machen lassen, die gesellschaftlich eher antik erscheinen, dafür aber im Sinne von Heilsein, Ganzheit, Familie sinnvoll. Darüber hinaus gibt mir dieser, mein Gott, der mir vor allem verzeiht, dass ich ihn manchmal nicht brauche und eine Zeitlang vergesse, das Verständnis für diese Sitte, also ein intuitives Einfühlungsvermögen in die anderen monotheistischen Religionen ohne das Bedürfnis, Sinn und Zweck einer solchen Sitte zu hinterfragen.
Bei aller entstandenen Sympathie für Sie – lassen Sie das Thema Beschneidung ruhen. Machen Sie doch den Crocodile Dundee: „Es geht mich nichts an.“
Wenn die Muslime und Juden je etwas daran ändern, wird es von ihren Söhnen kommen, aber ganz sicher lassen sie sich von Atheisten nicht bewegen, und das finde ich vollkommen richtig. Sich bei anderen in Körperlichkeit, Familie und Sexualität zu hängen, hat etwas Autoritäres, Bestimmendes, Bevormundendes, und es funktioniert nicht. Juden und Muslime werden diese Tradition weiterführen, und wir müssen sie geradezu verteidigen, denn falls in hundert Jahren Muslime hier regieren und verlangen, dass Christen oder Atheisten die Sitte übernehmen, wird dieselbe Verteidigung für das Eigene nötig sein.
Aber die Einmischung passt exakt zum Gendern, wo es auch um „nurture versus nature“ geht. Mit nurture ist gemeint Einmischung in natürliche Geschlechterentwicklung.
Lieber Roland Ziegler: wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich einen Artikel in der „Welt“ geschrieben, in dem ich meinem Vater dafür gedankt habe, dass er mich nicht beschneiden ließ und deshalb auch auf eine Professur in Israel verzichtete. Ich bin also kein Freund der Beschneidung. Ich bin aber auch ein Gegner der Kindstaufe und der religiösen Indoktrination von Kleinkindern, und das habe ich in besagtem Artikel auch dargelegt. Die geisitge Beschneidung ist viel schlimmer als die körperliche. Noch schlimmer jedoch wäre die einheitliche Indoktrination mit einem staatliche verordneten Atheismus. Wir hatten das in der DDR, und das Ergebnis ist eine kulturelle Wüste, eine Ignoranz, eine selbstzufriedene Wurstigkeit, ein Mangel an Herzensbildung. Und zwar von erschreckendem Ausmaß.
Dass Sie Ehrenmorde auf eine Stufe stellen mit Beschneidung, ist unlauter. Alle Muslime und alle Juden sind gehalten, ihre Söhne beschneiden zu lassen. Kein Moslem ist gehalten, die „Ehre“ eines weiblichen Familienmitlgieds zu retten, indem er die Schwester oder Tochter – wie im Aufklärungs-Drama „Emilia Galotti“ – tötet.
@Serdar: Aber Ihr Vater musste nach der Beschneidung nicht ins Gefängnis, nehme ich an. Aber das meinte ich: den Sohn, dessen Vater im Gefängnis sitzt, weil er ihn entgegen dem staatlichen Gesetz beschnitten hat. Ist er da stolz auf seinen Vater, dass er dem Staat getrotzt hat? Oder stört es ihn, dass der Vater diese Priorität gesetzt hat? Es ging ja darum, was an einer solchen Geschichte interessant ist.
Nun zu etwas ganz anderem, nämlich zur Philosophie: Die ist spätestens mit Kant in erster Linie zur allgemeinen Kritik der Metaphysik geworden (Christian nennt das etwas verengt „Anti-Theismus“). Dies gelingt für mich am eindrucksvollsten Wittgenstein, z.B. mit dem weltberühmten, weil unmittelbar für jeden verständlichen Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Wittgenstein halte ich für den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Die Philosophiegeschichte beschreibt hier einen weiten Bogen; die Betrachtungen der Scholastiker haben sich beim Thema Wahrheit gegen sich selbst gewendet. Aber was ist das, was wir nicht erkennen können? Nichts als ein nichtdefinierter Ausdruck? Hier haben wir ein ständiges, unlösbares Rätsel.
Natürlich hält sich keiner an diesen Satz von Wittgenstein und spekuliert munter über Dinge, deren Dinglichkeit höchst fraglich ist, bei denen man gelegentlich sogar verboten bekommt, sich überhaupt einen Begriff zu machen geschweige denn ein Wort zu verwenden. Aber gerade das respektlose Reden über Fragliches bzw. vermeintlich Letztes erscheint mir angenehm menschlich, jedenfalls selbstverständich.
Jeder versucht sich über „letzte Dinge“ Klarheit zu verschaffen, mehr oder wneiger hartnäckig. Oft allerdings – z.B. bei mir – vergeblich.
Mein Ansatz wäre, zuerst die Religions- von der Glaubensfrage zu trennen. Zunächst es offen zu halten, ob und in welchem Sinn, Form oder Wesensart Gott existiert oder auch nicht existiert. Die Beantwortung dieser jedenfalls schwierigen, womöglich sogar vollends sinnlosen Frage zu verschieben. Nur die Religion und ihre Texte zu betrachten, ohne die dazugehörigen Referenzen.
Dann sieht man die Religion als Vermittlungsinstanz, die bei uns Menschen und unserer Sprache ansetzt und deren Fäden erst einmal ins Unabsehbare führen. (Denn die Frage, wohin sie führen, wurde anfangs ja zurückgestellt.) Dadurch sieht man, dass die Religion sehr menschliche Züge hat, ja haben muss. Sie wird „nützlich“, weil sie den Horizont ins Unermessliche/Nebulöse weitet (bestenfalls einen Zugang zu Gott schafft). Ihre Verankerung bei den Menschen ist zweifellos.
Die Frage nach der Faktizität der religiösen Geschichten halte ich für abwegig; für mich ist offensichtlich, dass die Dinge, so wie sie beschrieben sind, zur angegebenen Zeit X am angegebenen Ort Y anders abgelaufen sind als beschrieben. Wie weiß ich nicht, aber SO bestimmt nicht.
Natürlich bin ich dadurch eigentlich schon unreligiös und falle aus der Gemeinde heraus. Allerdings muss das nicht heißen, dass es keine Wahrheit in den Texten gäbe, die ich sehen könnte, denn natürlich besteht – wie bei den Heiligenlegenden auch – immer die Möglichkeit, nach metaphorischer Wahrheit Ausschau zu halten und sogar fündig zu werden. Dann spielt die historische Wirklichkeit – dass es anders war damals in Bethlehem – keine entscheidende Rolle.
Nun allerdings, bei der Frage, was denn da metaphorisch bedeutet wird, muss man sich langsam aber sicher der zurückgestellten schwierigen Frage widmen.
Bei der Frage nach Gott geht es mir nun so, dass ich schon ein dunkles Gefühl zu spüren meine, dass es eine universale Willensmacht (welchen Ausdruck soll man wählen? Man befindet sich hart an der Grenze der Sprache) gibt, der wir alle blind ausgeliefert sind. Eine Notwendigkeit und Kontingenz zugleich. Insofern bin ich vielleicht doch nicht ganz so religiös-unmusikalisch, zumal ich Musik intuitiv für die angemessenste Ausdrucksform für dieses Gefühl halte. Allerdings ist mir dieses Gefühl ungreifbar und suspekt. Es sind die Grenzen meiner Sprache und meiner Welt. Wenn überhaupt würde ich in der Natur und ihren Gesetzen nach einer Ursache suchen.
Als Quintessenz dieser beiden Aspekte würde ich mich also am ehesten als einen Agnostiker verstehen. Jemand, der den Religionen und ihrem exklusiven Wahrheitsanspruch nicht glauben kann, aber der die Aussage „es gibt keinen Gott“ angesichts der Sinnhaftigkeit der Welt ebenfalls nicht glauben kann, anders als der Atheist, der mit Überzeugung „Nicht Gott“ wörtlich glaubt. Ich glaube also gar nicht. Wenn der Theist das für Haarspalterei hält, ist es recht, dann lasse ich mich ohne großes Widerstreben auch in den Atheismus einreihen.
So weit diese Selbteinschätzung zum Himmelsfahrts- bzw. Vatertagsabend. Mich würde interessieren, wie die Selbsteinschätzung der anderen Blogteilnehmer ist? Falls daran Interesse besteht.
@Roland Ziegler
Ein Jude oder Moslem, der lieber ins Gefängnis ginge, als darauf zu verzichten, seinen Sohn zu beschneiden – meine Sympathien wären bei dem Sohn. Und ich frage mich, was ich denken würde, wenn ich dieser Sohn wäre.
Ich bin so ein Sohn, es hat mir nicht geschadet. Meine Eltern haben noch in tausend anderen Dingen für mich entschieden. Das hat auch nicht geschadet.
„… ich glaube, dass der Ansatz, den Sie unter (3) kritisieren, nicht erst von Kant herkommt. Sie finden ihn bei Augustinus und Thomas von Aquin vorgeformt.“ (Alan)
Lieber Alan, gewiss hat Kant den von mir dargestellten anti-theistischen Ansatz nicht erfunden. Er spielte schon in der griechischen Spekulation eine große Rolle und spiegelt sich auch in der analogia entis des Chefepistemologen der Römischen Kirche wider. Nur hat Kant ihn in zuvor nie dagewesener Radikalität formuliert.
Augustinus hat viel in der Begrifflichkeit von Sensualismus und Idealismus argumentiert. Dabei begründet die Abhängigkeit der Phänomene von den Ideen selbst noch keinen Theismus, sondern lediglich Deismus, solange die Ideen nicht mehr als abstrakte Wesenseinheiten sind. Doch darin besteht gerade Augustins philosophisches Verdienst, dass er die Entwicklung hin zu einem echten Theismus ein gutes Stück vorangebracht hat.
@Roland Zieger @Alan Posener
Herr Ziegler, als ich das laß von ihnen:
Das preußische laissez-faire, die tolerante Haltung, entspringt tatsächlich einem milden Deinteresse am Menschen und dem multiplen “Firlefanz” (Hannes Stein), den er für das Höchste hält. Es verhält sich dem Wunsch gegenüber, den Menschen “groß” zu machen, eher neutral. Aber dieser Toleranz, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, Lieblosigkeit anzudichten, geht entschieden zu weit; dagegen muss man sich wehren.
ist mir eingefallen, das ich das mal abgespeichert habe:
Jeder nach seiner Façon: Die Toleranz und das liberale Credo
Gérard Bökenkamp
http://ef-magazin.de/2009/02/1.....rale-credo
@Stefanovic
„Die Abgrenzung der res publica von der res privata. Abwägen von Rechten – Religionsfreiheit, Elternrecht, Recht auf körperliche Unversehrtheit. Gibt es etwas Spannenderes? Ich würde mir wünschen, wir würden öfters über Abgrenzungen streiten (Rauchen, Gurtpflicht, Polygamie) – das wäre für den Einzelnen gewinnbringender als eine Klimadebatte.“
Da stimme ich Ihnen allerdings zu: Während man Rauchverbote mit viel gutem Willen noch der res publica zuordnen kann, weil hier ein Interessensausgleich gegenüber sich gestört fühlenden Nichtrauchern von der Wissenschaft für erforderlich gehalten wird, besteht durch nicht angeschnallte Fahrer keinerlei öffentliche Gefahr. Allerdings durch Raser und notorische Drängler, die „Freie Fahrt für freie Bürger“ tätlich durch Nötigung einfordern. Kommt hier nicht einiges durcheinander?
Und wer schützt uns eigentlich vor der
Wissenschaft und deren Dschihadisten – ich meine nur, weil Roland Ziegler so herzhaft die „Machtansprüche und Pfauenhaftigkeiten“ der Religionen angehen muss.
Auf wen kann ich mich denn noch berufen, wenn mir Nützlichkeitserwägungen (Zahlen, Statistiken!!!) um die Ohren gehauen werden – mit welcher Absicht und mit welchem wahren (Einzel-, oder Gruppen-) Interesse dahinter auch immer?
…sorry, aber das will ich mir jetzt doch nicht verkneifen, zumal der Hinweis auf die Begräbnis-Geschichte des Boston-Attentäters hier gleich zwemal gefallen ist. Diese durch und durch religiöse Geschichte findet aktuell in Amerika statt, wo die Sowjetunion gemäß Hannes Stein ja nicht gesiegt hat und die Uhren anders ticken. Die beiden Attentäter haben ihren Terrorakt aus religiösen Motiven durchgeführt (wenn die Berichte stimmen); der Terror gründet auf einer religiösen Frage, aus der sich der Staat ja nach de ransicht von Hannes Stein gefälligst herauszuhalten hat. Und die, die jetzt das Begräbnis des toten Attentäters verhindern wollen, das sind doch Christen? Also die, die angeblich so viel mitfühlender sind? Einige davon werden wahrscheinlich an die Todesstrafe oder an den Kreationismus glauben.
Ich behaupte, hier im analphabetisch-atheistischen Berlin würde man auch einem religiösen Attentäter das Begräbnis ermöglichen, das seine Religion und seine Verwandtschaft fordert, ohne dass sich ein flächendeckender Widerstand formiert.
Und zum Schluss noch eine persönliche Note, die vielleicht erklärt, warum ich auf die anmaßende Unterstellung, „religiöse Analphabeten“ (H. Stein) würden ihre Toten nicht achten, so empfindlich reagiere: Ich selber bin ein solcher Anaphabet und bin aktuell mit der Frage konfrontiert, was mit dem Grab und dem Grabstein meines Vaters, dessen Grab nach 25 Jahren nun eingeebnet wird, geschehen soll. Wir werden den Stein in den Garten meiner Mutter verpflanzen, unter den Lieblingsbaum meines Vaters.
Ein Jude oder Moslem, der lieber ins Gefängnis ginge, als darauf zu verzichten, seinen Sohn zu beschneiden – meine Sympathien wären bei dem Sohn. Und ich frage mich, was ich denken würde, wenn ich dieser Sohn wäre. – Aber ich sehe ein, dieses Thema ist nichts für mich; ich habe weder Talent noch Gefühl dafür, werde zu schroff und halte mich ab jetzt lieber zurück. Wenn meine zu langen und zu schroffen Beiträge gestört haben sollten, tut es mir leid.
@Alan Posener: Die Beschneidungsdebatte hat Hannes Stein in das Thema eingebracht, und ich habe auf seinen Text reagiert. Er schreibt:
„So kommt es, dass unter „säkularer Staat“ heute nicht mehr verstanden wird, dass Parlament und Regierung sich aus Religionsfragen gefälligst rauszuhalten haben.“
Keine Regeln bei der Religion, so lautet seine Forderung. Aus religiösen Fragen hält man sich „gefälligst“ raus. Ehrenmord lässt sich aber auch als religiöse Frage interpetieren. Neulich habe ich gelesen, die Befürworter hätten gesagt, einen Ehrenmord dürfe man nicht an Ramadan machen. Eine religiöse Frage?
Ihre Replik geht am Punkt vorbei. Sie oder Hannes Stein könnten z.B. fordern, dass der säkulare Staat seine Regeln ändern soll, um den Juden und den Muslimen (wieso fallen die bei Ihrer Replik eigentlich unter den Tisch?) entgegenzukommen. Nach dem Motto: „Normalerweise schützen wir den Leib, aber in geringfügigen Fällen und wenn es die folgenden alten ehrwürdigen Institutionen fordern…“
Mein Punkt war, dass der säkulare Staat übergeordnete Regeln hat und auch haben sollte. Wenige Regeln, aber eben schon Regeln. In dem Moment, in dem eine Religion sich außerhalb dieser Regeln begibt – meinetwegen auch in einem Zweifelsfall – , entsteht ein Konflikt. Ein wichtiges Thema der Zukunft – mit zunehmender Globalisierung – ist, wie übergeordnete Regeln aussehen können, mit denen man diese Konflikte entscheidet. Einfach zu sagen, am besten sind gar keine Regeln, wie das Hannes Stein erklärt (und sich damit zu einem „fundamentalen Liberalen“ erklärt), ist keine Lösung, die ich befürworten kann.
Wozu ist Religion denn sonst gut, wenn sie uns nicht zu besseren Menschen machen soll? M.E. um dem Leben einen stabilen Sinn zwischen dem Geborenwerden und dem Sterben anzubieten, die Mitmenschlichkeit ins Zentrum zu rücken und die Angst vor dem Tod zu nehmen. Dem Menschen also eine Glücksperspektive aufzuzeigen. Dadurch ist sie immer noch nützlich, aber das spricht ja nicht gegen sie. Und ein „bisschen wahrer“ wird sie auch, indem sie ihre Machtansprüche und Pfauenhaftigkeiten beiseite legt.
p.s.
@ Albrecht Kolthoff:
Wenn Atheist Richard Dawkins sein Buch „The Blind Watchmaker“ mit der Aussage beginnt: „Biology is the study of complicated things that give the appearance of having been designed for a purpose“, läge es an ihm nachzuweisen, weshalb das, was nach Ente aussieht, nach Ente riecht, wie eine Ente schnattert und nach canard á l’orange schmeckt, am Ende nur eine Kumquat ist.
„…Ich bin wie Hannes davon überzeugt, dass es zur wahren Größe im Bösen wie im Guten einer religiösen Haltung bedarf. Insofern gehören 9/11 und Antigone zusammen.(…) Da sind mir Leute wie Richard Dawkins, die mit Gott ringen, denen es um die schlichte und einfache Frage der Existenz Gottes geht, denn doch näher. Mag sein, dass wir, die wir diese Frage verneinen, unseren Bruder eher unbegraben lassen, als es der Gläubige tut. …“
Der Bruder ist das eine. Viel spannender ist die Frage, wie man mit den Feinden umgeht:
http://www.zeit.de/politik/aus.....ettansicht
By the way (es gibt keine Zufälle):
http://www.welt.de/print/die_w.....-Ruhe.html
Lieber Christian, ich glaube, dass der Ansatz, den Sie unter (3) kritisieren, nicht erst von Kant herkommt. Sie finden ihn bei Augustinus und Thomas von Aquin vorgeformt. Meiner, das wird mir klarer, je mehr ich über ihn und von ihm lese, ist der des großen William von Occam. Nur dass der aus der völligen Freiheit Gottes von allen menschlichen Nützlichkeitserwägungen – „Er hätte den Heiland auch als Esel zur Welt kommen lassen können, wenn es Ihm gefallen hätte“ – geradezu seine Notwendigkeit erschließt; ich hingegen seine Überflüssigkeit.
Man kann jedenfalls, ohne einen atheistischen Standpunkt einzunehmen, mit dem großen William gegen Jan Roß (und meinen Freund Hannes) argumentieren.
Ansonsten ist es ja so, lieber Christian, dass mit der Evidenz Ihrer Erfahrung, die sie unter (1) referieren, nicht zu hadern ist. Sie müssen freilich zugeben, dass ein Moslem, ein Jude und ein Buddhist eine ebensolche Evidenz für ihren Glauben geltend machen können.
Liebe Steinmaus, in gewisser Weise haben Sie Recht, in so fern es keine jüdische „Theologie“ im chrstlichen Sinne gibt. Wie Gott ist, das ist in der Tat eine Frage, deren Beantwortung Frevel wäre, obwohl die Bibel voller Andeutungen ist, von der Feuersäule bis zum „kleinsten Windhauch“. Jude ist demnach, wer die Gesetze einhält. Das ist der größte Gegensatz zum Protestantismus, den man sich vorstellen kann, wo allein der Glaube selig macht.
Und dass also – dies zu Ronald Ziegler – der säkulare Staat den Juden verbieten sollte, sich als Juden zu betätigen, indem ihnen verboten wird, das älteste Gebot auszuführen, das also schon Abraham gegeben wurde, nicht erst Moses, wäre ein größeres Unrecht als es die Entfernung der Vorhaut ist. Wir hatten ja die Diskussion, und ich will sie nicht unbedingt wieder aufleben lassen. Es handelt sich um eine Abwägung, so viel ist klar, nicht um eine Sache, die sich so oder so klar und ein für alle Male entscheiden ließe. Jedenfalls aber hätte ein Jude oder ein Moslem meine Sympathie, der bei einem Verbot der Beschneidung lieber ins Gefängnis ginge als es nicht auszuführen. Der wäre eine moderne Antigone. Vielleicht schreibt einer mal ein entsprechendes Stück?
…was es allerdings schon gibt, ist eine unterschiedliche Gewichtung/Bedeutung des Glaubens. Leute, denen dieser ganze Themenkomplex völlig egal ist; andere, die darüber schier verzweifeln. Die Verzweiflung kann sich aber sowohl im Glauben als auch im Nicht-Glauben ergeben; und das Glück ist oft bei Leuten, denen es überhaupt nicht in den Sinn käme, sich über metaphysische Dinge Gedanken zu machen.
@Macbeth Findlaich: Ich bin anderer Meinung und glaube nicht, dass nur Fundamentalisten wirkliche Gläubige sind. Stattdessen meine ich, dass es wirkliche Gläubige nicht gibt, genauso wenig wie unwirkliche/uneigentliche/mindere Gläubige, Gläubige 2. Klasse o.ä. Die Religion ist das, was Menschen daraus machen; und es geht auch gar nicht anders, als sich selektiv am heiligen Textkorpus zu bedienen. Denn die Texte sind in sich widersprüchlich.
Jeder Mensch vertritt irgendeinen Glauben, meinetwegen auch einen Nicht-Glauben oder die Auffassung, gar nicht zu glauben (Agnostizismus). Der Unglaube kann zu schlimmen Verbechen führen, aber eben auch der Glaube. Hinter vielem Unglauben verbirgt sich in Wirklichkeit ein verwandelter Glaube (z.B. bei Nazis), was die Bewertung noch schwieriger macht.
Ich würde einer Aussage nicht zustimmen – der nämlich, dass nur Religion die Droge bietet, die Menschen ein jenseitiges Ziel und damit eine besondere Größe möglich macht.
Prinzipiell bietet jede Ideologie diese Möglichkeit; ein überzeugter Nationalist, der bereit ist, für sein Vaterland zu sterben, zeigt ähnliche Opferbereitschaft wie der religiöse. Das Beispiel der Kommunisten im KZ passt nur auf diese, weil der vermeintliche Sieg und das irdische Paradies mit dem roten Bruder im Osten so nah und doch so fern lag.
Nachtrag: Stevanovic: … nicht zitierfähig.
… ich zitiere mal den, an den ich glaube: … etwa aus Johannes 8:58 ‚… Ehe Abraham wurde, bin ich.‘
Stevanovic: Bleibt nur der Rechtspositivismus als Grundlage des Verhältnisses unter Menschen. Die Summe persönlicher Meinungen, die res publica. Da stören die Götter der anderen nur. Obwohl sie im Hintergrund immer da sind und die Fäden ziehen, sind sie nicht zitierfähig.
Die res publica ist damit eine säkulare Sache. Damit jeder eine persönliche Beziehung zu Gott haben kann, die Religionsfreiheit. Erziehung zum Atheismus ist ein Übergriff auf die res privata und somit analog zum Gottesstaat. Das: So wahr mir Gott helfe… eine reine Privatsache.
… werter Gen. Stevanovic, Rechtspositivismus endet im Staatssozialismus. Früher oder später, lechts oder rinks. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess stützten sich die ‚Nazigrößen‘ auf das positive Recht. Geltendes Recht, Gewohnheitsrecht, u.a..
Mit Bertolt Brecht: ‚Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!‘ wird Rechtspositivismus zum Naturrecht. Und das ist auch gut so.
Übrigens beginnt das Grundgesetz der ‚BRD‘ mit der Präambel:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, ..
(1) Glaube an Christus – LSD? Nun, ich habe beides erfahren, nacheinander, in umgekehrter Reihenfolge. Mein Fazit: Es ist vom Wesen und der Art der Erfahrung her nichts Unterschiedlicheres denkbar als Glaube an Christus und die Wirkungskraft des Heiligen Geistes einerseits, und psychedelische Drogen anderseits. Letztere sind selbstgenerierter Wahnsinn und Gebundenheit, während Glaube an Christus von Nüchternheit, Berührung mit Wahrheit und Freiheit geprägt ist.
(2) Jesus will im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter gewiss keinem Atheismus das Wort reden. Die Samariter waren eine Religionsgemeinschaft, die sich der Bewahrung des alten Mosaischen Gesetzes verschrieben hatte und dem Gott Israels verpflichtet fühlte.
Atheisten hingegen sind in Wahrheit Anti-Theisten, mit, wie Freud sagen würde, einem angeborenen ausgeprägten Anti-Gott-Komplex.
(3) Der ganze utilitaristiche, religionspsychologische Ansatz, religiöse Erfahrung und Glaube nach Nützlichkeitskriterien zu beurteilen, ist zutiefst anti-theistisch, weil er implizit leugnet, dass jenseits der unterschiedlichen Erfahrungen und Glaubensinhalte so etwas wie objektive, verbindliche Wahrheit zu finden sei.
Es ist der Ansatz des Philosophen aus Königsberg, der Gott zubilligt, sich im Geltungsbereich der praktischen Vernunft nützlich zu machen, solange er sich bitteschön aus der theoretischen Vernunft raushält.
Schönes Stück. Zur Solschenizyn-Dichotomie wäre anzumerken, dass durchaus nicht wenige verfolgte Kommunisten bereitwillig ihre Verfehlungen gestanden und ihre eigene Bestrafung nicht nur akzeptierten, sondern auch rechtfertigten, eben weil sie ihrem Leid einen Sinn abgewannen. Brecht hatte das in seinem Stück „Die Maßnahme“ thematisiert, wo ein Revolutionär seine eigene Tötung durch die Genossen befürwortet. Mit jenem proletarischen Opferlamm wird nebenbei auch die Nähe zur traditionellen Religion handgreiflich.
Der Sinn von allerlei Sinnlosem, Inkohärentem, Komplexem und Undurchschaubarem ist denn auch nach meinem Dafürhalten der zentrale Begriff für die „Funktion von Religion“, wenn man so will, denn nur mit einem prinzipiell nicht wahrnehm- und erkennbaren X, einer dem menschlichen Verstehen entzogenen Unbekannten, einem natur- oder geschichtsphilosophischen Fluchtpunkt im Nebel der Zukunft, einer metaphysischen kosmologischen Konstante, einer Projektion einer Vollkommenheit in unvollkommener Welt, kann man aus der Unverbundenheit von Erscheinungen Kausalität stiften, kann man das Absurde (siehe Camus) zum Rationalen wenden, kann man aus dem Zufall eine Absicht lesen, kann man der eigenen Begrenztheit und Ambivalenz trotzen und die Gewissheit schöpfen, dass man das Wahre, Gute, Schöne tue oder ihm zumindest zustrebe. Und so wird aus einer Erklärung die Verklärung, aus Bedarf an Verstehen der Bedarf an Glauben.
Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und wenn er glauben will, mag es ihm Amphetamin sein und er erlebt das Himmelreich auf Erden. Genau so kann es Gift sein (nach Paracelsus eine Frage der Dosierung), mit dem Ergebnis der Hölle auf Erden. Da liegt mir allerdings die Metapher des Placebo näher, das sich der Hypochonder selbst verabreicht. Wenn’s hilft, ist ja in Ordnung, allerdings leiden nicht wenige Placebo-Konsumenten (und deren Umfeld) auch unter erheblichen Nebenwirkungen. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker; in weltanschaulichen Fragen ist Dawkins eine gute Adresse. Sinnhaftes (das seinen Sinn sowieso nur bekommt, weil wir es ihm kategorial zuschreiben) kann aus Sinnlosem entstehen, aber dazu probiert der blinde Uhrmacher erst doch mal eine ganze Menge Sackgassen aus.
“Es gibt keinen moderaten Islam. Moderate Muslime, ja, aber einen moderaten Islam? Nein.” sagte Ali Ahmad Said Esber
Da kann man genausogut jede andere monotheistische und mit graduellem Unterschied polytheistische Religion einsetzen. Das Problem dabei ist der Alleinvertretungsanspruch für Wahrheit und der Missionsauftrag.
Ich hörte mal einen Vortrag von Cahit Kaya von den exMuslimen. Er legte sehr schön dar, dass die „moderaten/liberalen“ Muslime eigentlich gar keine Muslime mehr sind, da sie wesentliche Forderungen Mohammeds übergehen. Sie suchen sich einfach nur das raus, was gerade noch akzeptiert wird, um nicht als „Ungläubige“ zu gelten. De facto sind sie es aber, wie auch viele „Christen“. Die wirklichen Gläubigen sind das, was man gemeinhin Fundamentalisten nennt. Diese sehen sich ohne Rücksicht auf irdische Werke nur dem Göttlichen verpflichtet, was sie aus den heiligen Schriften entnehmen.
Mit einem liberalem Muslim über den verborgenen Imam, das Kalifatproblem oder das Islamverständnis des Sufismus sprechen zu wollen, ist meist Zeitverschwendung.
Und da schließt sich ein Kreis:
“Es sind die Theologen, die nach Blut verlangen, durchaus nach Blut. “Nur erst ab den Kopf, mit der Besserung wird es sich schon finden, so Gott will.” Welch ein Glück, das die Zeiten vorbei sind, in welchen solche Gesinnungen Religion und Frömmigkeit hießen; das sie wenigstens unter dem Himmel vorbei sind, unter welchem wir leben! Aber welch demütigender Gedanke, wenn es möglich wäre, das sie auch unter diesem Himmel einmal wiederkommen könnten!” aus: Theologiekritische Schriften I und II, von Gotthold Ephraim Lessing
Die Zeiten sind wieder da: “Atheisten sollen hängen!”
http://www.welt.de/politik/aus.....-Amok.html
Da ich aus weltanschaulichen Gründen (ich bin zu faul) selten Texte lese, die länger als Zeitungartikel sind, begebe ich mich auf ein schmales Brett und bin bereit mich Gelächter auszusetzen, belesenere mögen mich berichtigen:
Nach Humes Gesetz kann von einem Sein nicht auf Sollen geschlossen werden. Ein Sollen wird durch ein Sollen begründet, die Kette lässt sich bis einem Ur-Sollen weiterführen, oder wir unterbrechen die Kette aus praktischen Gründen durch Gott. Meine Moral kann ich mir ohne Gott nicht erklären. Deswegen brauche ich persönlich Gott und meine Beziehung zu Gott ist sehr persönlich.
Nur, wie alle Götter, so schweigt auch mein Gott. Das Gebet, der Dialog mit Gott, ist ein Monolog. Deswegen kann und will ich ihn nicht als Referenz ins Spiel bringen. Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Gott ist nicht zitierfähig.
Bleibt nur der Rechtspositivismus als Grundlage des Verhältnisses unter Menschen. Die Summe persönlicher Meinungen, die res publica. Da stören die Götter der anderen nur. Obwohl sie im Hintergrund immer da sind und die Fäden ziehen, sind sie nicht zitierfähig.
Die res publica ist damit eine säkulare Sache. Damit jeder eine persönliche Beziehung zu Gott haben kann, die Religionsfreiheit. Erziehung zum Atheismus ist ein Übergriff auf die res privata und somit analog zum Gottesstaat. Das: So wahr mir Gott helfe… eine reine Privatsache.
Die Beschneidungsdebatte war richtig. Die Abgrenzung der res publica von der res privata. Abwägen von Rechten – Religionsfreiheit, Elternrecht, Recht auf körperliche Unversehrtheit. Gibt es etwas Spannenderes? Ich würde mir wünschen, wir würden öfters über Abgrenzungen streiten (Rauchen, Gurtpflicht, Polygamie) – das wäre für den Einzelnen gewinnbringender als eine Klimadebatte.
Hallo Herr Posener,
hat nicht die jüdische Religion das Aussprechen des einen Namens untersagt; nicht nur das Aussprechen, vielmehr auch das ‚Abbild formen‘? Sie sind nun als Atheist in dieser Linie konsequent, indem Sie auch das „—-„-Denken für sich mit einem Tabu belegen. Keine unwürdigen Entscheierungsversuche der Isis, deren Tempelinschrift in mir Assoziationen mit dem Spruch des brennenden Dornbuschs weckt.
Und hat nicht gerade dieser Respekt, den ich mit Ihnen teile, religiöse Züge? Das Erkennen, von „—-“ abzustammen, „—-“ nie erreichen zu können (dürfen), und doch von „—-“ durchwoben zu sein, treibt die Gedanken auf einsame Gipfel…
Warum reagiere ich so allergisch auf diese Haltung? Weil das für mich den Gipfelpunkt möglicher Anmaßung darstellt: „Ich bin der bessere Mensch.“ Zum Ausgleich dazu mit ruhiger und demütiger Stimme reden, in dezenter dunkler Kleidung auftreten, mit zur Schau gestellter Bescheidenheit, gütig lächeln und jederzeit mit dem Kopfe nicken, so wie der Weise den Ungezogenheiten eines Kindes begegnet, für das er seinen Erziehungsplan hegt.
@Alan Posener: ich habe mich ja bislang nur direkt zu Hannes Steins Text ausgelassen; nun zu Ihnen sozusagen. Sie halten entgegen, dass die Religion in diesem Konzept lediglich nützlich (aber nicht wahr) wäre: nützlich dazu, ein besserer Mensch zu werden.
Das scheint mir kein echtes Gegenargument zu sein: Ja, könnte man sagen, das reicht doch. Wahr oder falsch ist nebensächlich, zu kompliziert, für die meisten sowieso und wahrscheinlich auch für alle; wenn die Religion es schafft, uns Menschen zu besseren Menschen zu machen, dann brauchen wir die Religion.
Demgegenüber kann man etwas anders einwenden, nämlich: Wir brauchen keine besseren Menschen. Wir sind gut genug. Wir bekommen auch keine besseren mit der Religion, und wenn wir alle noch so religiös würden. Die Taliban sind auch keine besseren Menschen geworden, und wenn die auf dem falschen Pferd sitzen sollten, dann sind auch die, die auf dem richtigen sitzen, keine besseren Menschen. Jedenfalls nicht automatisch. Micht weil sie ihr (Stecken-)Pferd reiten. Alles andere wäre eine vermessene und im übrigen höchst sündige Eitelkeit: „Seht her: ICH bin religiös, ich bin sogar auf die richtige Weise religiös! Und das ist in dieser schrecklich unreliiösen Zeit nicht leicht! Der liebe Gott – gepriesen wei ER – hilft mir, ein besserer Mensch zu sein als DU es bist!“ – Diese Haltung ist eine wirklich schlimme Haltung, auf die ich allergisch reagiere.
„Wir wären bessere Menschen, menschlichere Menschen, vollständigere Menschen, meint Jan Ross, wenn wir an Gott glauben würden. Und das ist dann doch eine Nützlichkeitserwägung.“
„Besser“ oder „vollständiger“ ist eine menschengemachte Bewertung und damit eine Nützlichkeiterwägung. „Menschlicher“ jedoch nicht – und darum geht es. Religion ist auch ein Ausweg aus dem totalitären Wahrheitsanspruch der Nützlichkeitsdenker, also derer, die z.B. wissen, was wir zu essen, wie wie zur leben haben. Antigone: Klar, Einäscherung braucht weniger Platz – ich möchte aber lieber die Unvernunft verteidigen. So verstehe ich auch Martin Mosebach mit seinem Bändchen „Der Ultramontane“.
Das preußische laissez-faire, die tolerante Haltung, entspringt tatsächlich einem milden Deinteresse am Menschen und dem multiplen „Firlefanz“ (Hannes Stein), den er für das Höchste hält. Es verhält sich dem Wunsch gegenüber, den Menschen „groß“ zu machen, eher neutral. Aber dieser Toleranz, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, Lieblosigkeit anzudichten, geht entschieden zu weit; dagegen muss man sich wehren. Nach meiner Meinung handelt es sich im Gegenteil bei den religiösen Erziehungsformen (denn um einen Wunsch nach Erziehung handelt es sich doch eigentlich), die den Menschen um der heiligen Texte willen größer ziehen wollen, als er ist, viel eher um Lieblosigkeit.
Immerhin sind „die Religiösen“ – in diesem Fall also Hannes Stein bzw. Jan Ross – bereit einzuräumen, dass im Namen der Religion erheblichste Verbrechen begangen worden sind. Allerdings beharren sie darauf, dass trotzdem Liebe/Güte/Hoffnung nur mit Religion denkbar sind. Atheisten wie Kreon würden ihre Toten den Geiern zum Fraß vorwerfen, man bauche Gottesglaube, um sie sittlich zu begraben und ihr Andenken zu bewahren.
Diese These ist falsch; schlicht u. ergreifend. Auch die Annahme, dass heutzutage „viele Menschen“, wie es im Artikel von Hannes Stein so schön dämlich heißt, unter säkularem Staat das Verbot religiöser Praktiken verstehen würden, ist höchst fraglich. Hat Hannes Stein als Österreicher womöglich kein Verständnis für die besagte preußische Auffassung, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll? Er versteht jedenfalls nicht, dass ein säkularer Staat zwar wenige, aber doch eben schon ein paar Grundsätze hat, die durchsetzen will, notfalls auch gegen die Religion. Innerhalb dieser Grundregeln darf man nach Belieben machen, was einem so an „Firlefanz“ einfällt. Das einzige, was man gegen die Beschneidung einzuwenden hatte, ist genau dies: dass sie sich außerhalb der Grundregeln befindet, die die Unverletzlichkeit des menschlichen Leibes betreffen. Nicht mehr, nicht weniger. Das soll also jetzt lieblos sein, und stattdessen liebevoll, den Jungs ihren Pimmel abzusäbeln? Wieder einmal wird hier schwarz zu weiß umgedichtet. Mag sein dass die Beschneidung voller Liebe ist. Vielleicht ist ja auch die Idee der Jungfäulichkeit oder der Ehrenmord voller Liebe. Aber wie gesagt: Den Gegnern solcher Praktiken ihre Form der Liebe ABzusprechen – DAS ist auf gar keinen Fall Liebe. Aber leider typisch für Religiöse.