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Nun rilkt mal schön

Es naht die Zeit, der Wein über meiner Terrasse hängt dunkelrot und prall, wo meine Freunde und Bekannten zu rilken beginnen. Kein Facebook-Tag ohne Verweis auf sein Gedicht „Herbsttag“:

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Es ist schwer, sich dem Sog dieses Gedichts zu entziehen, aber die Mühe lohnt sich. Ich schicke voraus: Die Zeile „Der Sommer war sehr groß“ ist sehr geil, gerade wegen seiner Unbestimmtheit. Man assoziiert flimmernde Felder in der Mittagshitze, lange Tage am Badesee, Abende mit Wein und verbrannter Haut und vielversprechenden Blicken, man riecht Staub, Sonnencreme und Jasmin. Aber sonst …

Schon der Anfang: „Herr: Es ist Zeit.“ Ein Gefängniswärter, der einem verurteilten Adeligen ankündigt, dass der Henker bereit ist. Doch dann folgt statt der Hinrichtung eine To-Do-Liste: Sonnenuhren beschatten, Winde loslassen, zwei heiße Tage schicken, ausreichend Fruchtzucker herstellen lassen. Alles klar, Herr?

Wäre ich der Schöpfer und Herrscher des Universums, ich würde dem Dichter antworten: „Lieber Herr Rilke, ich mache das schon seit ein paar Millionen Jahren. Ich weiß, wie Spätsommer geht.“

Das scheint Rilke an dem Punkt des Gedichts auch aufzufallen, denn abrupt bricht er ab und kommt mit einem Werbespruch fürs Bausparen um die Ecke:

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“

Die Zeile hat 2023 eine gewisse Aktualität; wer es versäumt hat, einen Baukredit aufzunehmen, als sie einem das Geld hinterhergeschmissen haben, dürfte es schwierig finden, jetzt ein Haus zu finanzieren. Andererseits gibt es wieder Zinsen, also Geld anlegen und abwarten, die nächste Chance kommt bestimmt.

Schließlich die wehleidige Beschreibung eines Alltags, um den die meisten Menschen den Dichter beneiden würden: lesen, Briefe schreiben, Spaziergänge machen, den treibenden Blättern zusehen, statt: Wecker klingelt um 6, aufschrecken, den Kindern Frühstück machen, sie wecken, dafür sorgen, dass sie Zähne putzen, Ranzen packen, rein ins Auto, erst zur Kita, dann zur Schule, dann ab in den Betrieb, Arbeit bis vier, Chef schlechtgelaunt, Kollege anbaggernd, Kinder abholen, Einkauf, Abendessen kochen, bei zufallenden Augen ihnen etwas vorlesen, auf der Couch einschlafen, nach Stunden aufschrecken, die Kleinen ins Bett bringen, checken, ob der Arzttermin mit der Mutter morgen noch steht, und während draußen der Wind heult und sich die Blätter auf dem Balkon häufen, morgen mache ich die weg, noch ein liebloses Glas Wein kippen, Nachrichten im Radio, Kindergrundsicherung immer noch ungeklärt, und ab ins Bett.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.

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6 Gedanken zu “Nun rilkt mal schön;”

  1. avatar

    … besser so;

    Im Herbst, wenn Blätter fallen leis‘,
    erstrahlt die Weintraube im Sonnenkreis.
    Die Rebe rankt sich hoch hinauf,
    und trägt die Frucht, so süß und saftig, drauf.

      1. avatar

        … meinetwegen. Ich lese ohnehin Walt Disneys Mickey Mouse.

        KI – kommt von Kitsch. Aus dem Wörterbuch: Kunstprodukt (besonders Gegenstand aus dem Bereich des Kunstgewerbes, Musikstück, Film o. Ä.), das in Inhalt und Form als geschmacklos und meist als sentimental empfunden wird.

  2. avatar

    … nun gut. KI by BILD macht ’s möglich. 😉

    Im Herbst, wenn Blätter fallen leis‘, erstrahlt die Weintraube im Sonnenkreis. Die Rebe rankt sich hoch hinauf, und trägt die Frucht, so süß und saftig, drauf.

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    Lieber Alan,
    die Arbeits- und Alltagshölle, die du bildhaft beschreibst, findet ja so nicht im Herbst eines Lebens statt. Diese Metapher aber hat Rilke ja zweifelsfrei gemeint.
    Gruß
    Haase

    1. avatar

      Zweifelsfrei gewiss nicht. Davon ist im ganzen Gedicht – auch nicht im Titel – die Rede, anders als etwa bei Hölderlins großer „Hälfte des Lebens“, wo Bild und Reflexion ineinander verwoben sind. Gewiss kann man jedes Herbstgedicht auch auf den „Herbst des Lebens“ übertragen, aber auch dann – gerade dann – stimmt nichts daran. Ich habe mir mit 50 das erste Mal ein Haus gebaut. Ich kenne viele Freunde, die in einem Alter, das man schon als Winter bezeichnen muss, sehr aktiv sind und nicht durch die Straßen hin und her wandern. Außerdem hat die ganze To-Do-Liste für den Herrn im ersten Teil nichts mit dem Altern zu tun.
      Herzlich
      A

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