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Rezension zu: Shulamit Volkov, Deutschland aus jüdischer Sicht.

Die Historikerin Shulamit Volkov, eine Expertin für die Geschichte der Juden und des Antisemitismus in den verschiedenen deutschen Gesellschaften des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, legt eine in Zukunft sicher weit diskutierte neue Arbeit vor. Sie blickt auf die deutschen Gesellschaften seit den Tagen des deutsch-jüdischen Philosophen Moses Mendelsohn bis in die Zeit nach der Shoah. Das Buch („Deutschland aus jüdischer Sicht“) legt das lange Zeit für die Geschichtswissenschaften der Bundesrepublik gültige Paradigma eines „Deutschen Sonderwegs“ beiseite, ohne die gegen die Moderne gerichteten Entwicklungen und Tendenzen der deutschen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert aus dem Blick zu verlieren. Im Gegenteil, sie arbeitet sie stärker heraus. Ihre Kritik des Sonderweg-Paradigmas besteht vor allem darin, dass seine Vertreter in der deutschen Sozialgeschichte, zwar die Entwicklung der demokratischen Institutionen und Ideen verfolgen, aber nicht die Geschichte der deutschen Juden und der deutschen antisemitischen Obsessionen.

Wer, wie der Rezensent, in den 70er Jahren die Universität besuchte, wurde in den Geschichtswissenschaften mit einem Methoden- und Paradigmenwechsel konfrontiert. Die bis dahin weitgehend als Geschichte der Ideen, Nationen und wichtigen politischen Richtungsentscheidungen dargestellte Historie wurde fortan als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte verstanden und orientierte sich am Paradigma des „Deutschen Sonderwegs“.

Den wohl wichtigsten Anstoß zu dieser Umorientierung hatte der Soziologe Ralf Dahrendorf mit seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ gegeben.[1] Die deutschen Gesellschaften hatten, so das Kernargument der Sozialhistoriker, auf dem Weg in die Moderne einen Sonderweg beschritten. Demokratische Institutionen und Ideen blieben schwach oder scheiterten gänzlich. Erst mit dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition und dem freundschaftlich durch die USA begleiteten Aufbau einer demokratischen Republik, begann Demokratie, zumindest in einem Teil Deutschlands, Wurzeln zu schlagen.

Geschichtswissenschaften, Juden und Shoah

Studenten der Geschichte, die sich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mit Theologie oder Judaistik beschäftigten, kamen an einem Fachbereich für Geschichtswissenschaft, auch dort wo die Sozialhistoriker dominierten, mit der Geschichte von Juden und jüdischer Geschichtsschreibung kaum in Berührung. An eine Veranstaltung etwa, zu der vielbändigen „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ von Heinrich Graetz, die von 1853 bis 1875 erschienen war, kann sich der Rezensent nicht erinnern.

Auch die Shoah, der deutsche Zivilisationsbruch, wurde an den Seminaren, ganz wie in den damals viel gelesenen Büchern, nur am Rande behandelt. In Karl Dietrich Brachers 1969 erschienenem Werk „Die deutsche Diktatur“ etwa, kam die Vernichtung der europäischen Juden auf gerade 12 von etwa 550 Seiten vor.[2]

Dass die „Geschichte der in Deutschland lebenden Juden (…) sowohl als ein Kapitel der jüdischen Geschichte als auch eines der deutschen Geschichte geschrieben werden“[3] kann, blieb damals unausgesprochen. Heute ist es die Leitidee des gerade erschienenen Buches von Shulamit Volkov. Die Autorin ist davon überzeugt, dass die Geschichte der verschiedenen deutschen Gesellschaften heute ohne die Geschichte von Juden in Deutschland und ohne die Geschichte der deutschen, antisemitischen Obsessionen nicht mehr geschrieben werden kann. „Paradoxerweise“, so schreibt sie, seien Juden „gerade durch (…) radikale Diskriminierung und die Anstrengungen, sie zusammen mit ihren europäischen Glaubensgenossen zu vernichten“, von zentraler Bedeutung für die Deutschen und Deutschland geworden. Während man sie vorher als marginal betrachten konnte und sie selbst so oft wünschten, als Minderheit in der Mehrheit zu verschwinden, „führten nach dem Krieg die Erinnerung an ihr Schicksal, selbst wenn diese nur vage ist, und die Erkenntnis der grauenhaften Dimensionen ihrer Tragödie dazu, dass es nicht mehr möglich ist, die Juden aus der deutschen Geschichte auszublenden.“[4]

Volkov: Projekt einer jüdischen Moderne

Eine maßgebliche und für alle in Deutschland lebenden Juden zutreffende Sicht auf die deutsche Gesellschaft gab es weder im 18. Jahrhundert, noch gibt es sie heute. Shulamit Volkov konstruiert in ihrer Publikation nicht einen einzigen, wahren jüdischen Blick. Sie versteht Judentum nicht nur als eine religiöse, sondern auch als eine nationale Überlieferung und Kultur.

In ihrer neuen Publikation präsentiert Volkov, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Forschungen und der mittlerweile vorliegenden „Deutsch-Jüdischen Geschichte in der Neuzeit“[5], eine Sozialgeschichte der jüdischen Minderheit in den deutschen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert. Volkov analysiert die jüdische Minderheit, ihre intellektuellen Köpfe, aber auch die Netze ihrer religiösen und säkularen Einrichtungen, als ein eigenes, sich entwickelndes „jüdisches Projekt der Moderne“[6] in den deutschen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert.[7]

Volkov erzählt die Geschichte der Blicke von religiösen, säkularen, armen und reichen Juden, Männern und Frauen auf die deutschen Gesellschaften in vier großen Kapiteln: „Deutschland kennenlernen (1780 – 1840)“, „Freiheit und Einheit (1840 – 1870)“, „Leben in Deutschland (1870 – 1930)“ und „Eine verlorene Heimat (1930 – 2000).“ Die vier Hauptkapitel des Buches enthalten jeweils drei weitere Unterkapitel, in denen die Autorin die besondere Lage der jüdischen Minderheit, eine Charakterisierung der ganzen deutschen Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Gesamtbewertung diskutiert.

Volkov löst sich in ihrem Buch von dem Entwurf einer einzigen liberalen Moderne, an dem alle anderen gemessen werden müssten. Sie spricht stattdessen vorsichtiger von „multiplen“ und miteinander „verwobenen“ Modernen.[8] Volkov gibt dabei die Normativität des Begriffs der Moderne, der ohne die Entstehung demokratischer Republiken und auch ohne „Aufklärungen“[9] nicht verstanden werden kann, nicht auf. Sie reklamiert für das Projekt einer jüdischen Moderne in den deutschen Gesellschaften, ungeachtet seiner religiösen, kulturellen und politischen Diversität, die Verbundenheit mit der liberalen, nicht nur von Juden proklamierten und sozial getragenen demokratischen Moderne.

Obwohl Shulamit Volkov ihre Publikation als Gesellschaftsgeschichte und nicht als Ideen- und Personengeschichte verfasst hat, führt sie die Leser in wichtige Geschichten jüdischer Aufklärer, Rabbiner, Politiker und ihrer Ideen, ihrer Verbundenheit aber auch ihrer Konflikte mit der nicht-jüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft ein.

„Deutschland kennenlernen“

Im Kapitel „Deutschland kennenlernen“ (1780 – 1840) rückt Volkov den Streit des deutsch-jüdischen Philosophen Moses Mendelsohn mit seinen Widersachern in Preußen in den Mittelpunkt. Mendelsohn beharrte darauf, dass es in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht nur um Meinungs- und Gewissensfreiheit für Jedermann gehe. Er bestand darauf, dass die Gleichstellung aller Bürger, auch der Juden, „auf den Prinzipien des Rechts basieren müsse“, dass sie „keine Gratifikation für ´gutes Benehmen`“ sein dürfe.[10] Eben dies jedoch wurde selbst von vielen nicht-jüdischen Aufklärern anders verstanden. Sie beharrten darauf, dass eine Gleichstellung von Juden nur dann möglich sei, wenn Juden sich von der Bindung an ihre Traditionen und Religion frei machten. Darüber hinaus entwickelten viele der nicht-jüdischen Aufklärer, wie der jüdische Schriftsteller Saul Asher bereits 1815 in seinem Buch „Die Germanomanie“ beschrieb, die Vorstellung, die deutsche Nation müsse Juden vertreiben oder töten.[11]

Volkov zeigt wie einsam Mendelssohn mit seiner Auffassung blieb und wie sehr die Idee von Mendelsohns Gegnern, einer „Aufklärung ohne Toleranz“[12], zu einer Fortdauer lediglich „wohlwollender Autokratien“[13] sowie nur „halb geöffneten Gesellschaften“[14], nicht nur in Preußen beitrug. Die Verbrennung des Buches von Saul Asher durch deutsche Burschenschaftler während des Wartburgfests am 18. Oktober 1817, veranlasste Heinrich Heine zu seinem verzweifelt-hellsichtigen Ausspruch, dass man dort, wo man Bücher verbrenne, auch Menschen verbrennen werde.

„Freiheit und Einheit“

Im Kapitel „Freiheit und Einheit“ (1840 – 1870) beschreibt Volkov, dass Juden gemeinsam mit christlichen Kampfgefährten in den Revolutionen 1848 hofften, dass Freiheit und Gleichheit bald als Grundprinzipien eines freien, vereinten Deutschlands gesetzlich verankert würden. Mit diesen Revolutionen begann auch ein Prozess der Identifikation vieler Juden mit nicht-jüdischer deutscher Kultur. Volkov zitiert den orthodoxen Rabbiner Leopold Stein aus Frankfurt: „Wir erkennen unsere Sache fortan als keine besondere mehr, sie ist eins mit der Sache des Vaterlandes. Wir sind und wollen nur Deutsche sein. Nur dem Glauben nach sind wir Israeliten.“[15] In dieser Identifikation mit nicht-jüdischer deutscher Kultur steckte jedoch eine spezifische Auffassung, was Kultur sei. Volkov verweist zum Beispiel auf einen der schärfsten Kritiker der Politik Bismarcks, den in der Nähe von Posen geborenen jüdischen Juristen Itzchak Lasker, einen Abgeordneten der Nationalliberalen Partei im norddeutschen Reichstag. Als Bismarck vehement für die Todesstrafe eintrat, erklärte der Abgeordnete, es sei die „jüdische Nation“, der es gelungen sei, die Todesstrafe faktisch abzuschaffen. Da sei es unvorstellbar, dass eine „hochgebildete Nation“, wie die deutsche, mit der Todesstrafe den höchsten Wert, das menschliche Leben, missachte.[16]

Die deutsche Nationalbewegung transportierte, analysiert Volkov, zwei verschiedene politische Konzepte gleichzeitig: eine absolute Monarchie, gestützt auf die protestantische Kirche, die Armee und den adligen Großgrundbesitz, versus eine konstitutionelle Monarchie, die auf einer freien bürgerlichen, vom Nationalgefühl und von den Grundsätzen des Liberalismus sowie einer Trennung von christlicher Religion und Staat beseelten Gesellschaft beruhte. Juden wünschten so sehr, in einer Gesellschaft angekommen zu sein, die sie respektierte, dass sie die antisemitischen Motive der deutschen Nationalbewegung nicht wahrhaben wollten. So wurden die antisemitischen Angriffe, die Teil der Revolutionen im Jahr der Freiheit 1848 waren, in der zeitgenössischen „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ von Heinrich Graetz, nicht erwähnt. Sie wurden in der jüdischen Geschichtsschreibung zum ersten Mal umfassend 1968 vom deutsch-israelischen Historiker Jacob Toury analysiert.[17]

„Leben in Deutschland“

Im Kapitel „Leben in Deutschland“ (1870 – 1930) analysiert Volkov, dass Juden sich im ersten deutschen Nationalstaat, vor allem vor dem Hintergrund von Erfahrungen insbesondere in Polen und Russland, begannen, als Deutsche zu identifizieren. Trotz ihres Ausschlusses aus manchen gesellschaftlichen Bereichen und des keineswegs nur randständigen Antisemitismus hätten die Kontrasterfahrungen aus anderen Gegenden Europas diese Identifizierung beschleunigt. Volkov schreibt: „Während deutsche Juden mit dem Antisemitismus à la Treitschke zurechtkommen mussten, und das war mühsam genug, waren in Russland Juden zur selben Zeit, besonders in den südlichen Provinzen des Zarenreichs, gewalttätigen, blutigen Pogromen ausgesetzt.“[18] Eine schockartige Realisierung, dass der erste deutsche Nationalstaat Juden keineswegs einschloss, sei erst während des 1. Weltkrieges eingetreten, als die deutsche Führung zunächst Juden als Soldaten ausdrücklich willkommen hieß, dann aber mit der sogenannten „Judenzählung“ alle tradierten antisemitischen Haltungen gegenüber Juden neu mobilisierte.[19]

Volkov trennt die Geschichten des Kaiserreichs, des 1. Weltkrieges und der beginnenden Weimarer Republik in ihrer Darstellung nicht. Sie zeigt stattdessen, dass die Paarung von Militarismus und Nationalismus in allen drei historischen Phasen deutlich zu erkennen war, Rassismen sowie antisemitische Propaganda ebenfalls. Von dem „aufgeklärten Nationalismus, den die Juden in ihrem Bemühen, sich in Deutschland zu assimilieren, so sehr begrüßt hatten, [war am Ende – d. Verf.] nicht mehr viel übrig (…).“ [20]

Die schockartige Wahrnehmung, dass nicht-jüdische Deutsche unter Aufklärung und Kultur anderes verstanden, als Juden, konnte nicht ausbleiben. Volkov berichtet, um dies sichtbar zu machen, von Walther Rathenau, der 1907 einen Staatssekretär der Kolonialabteilung der deutschen Regierung auf einer Reise in die deutschen Kolonien begleitete. In einem Bericht, den er an den Kanzler und an den Kaiser richtete, formulierte Rathenau über den ersten Genozid der Moderne, den Umgang der deutschen Armee mit Hereros und Nama, er stelle „die größte Atrozität [dar – d. Verf.], die jemals durch deutsche Waffenpolitik hervorgerufen“ worden sei.[21]  Rathenau, ein explizit national denkender jüdischer Industrieller und Politiker, wurde am 24. Juni 1922, kurz nach seiner Ernennung zum deutschen Außenminister am 31. Januar 1922, in Berlin von Mitgliedern der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ ermordet. Im Oktober 1922 veröffentlichte der relativ unbekannte jüdische Statistiker, linke Sozialist und Pazifist Emil Julius Gumbel die erste bahnbrechende Arbeit über politische Morde in der Weimarer Republik. Er überlebte die deutschen Nazis nur durch seine Emigration.

„Eine verlorene Heimat“

Im Kapitel „Eine verlorene Heimat“ (1930 – 2000) analysiert Volkov den Aufstieg des Nationalsozialismus, Shoah und 2. Weltkrieg, wie auch die Entwicklung beider deutscher Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus bis hin zu ihrer Vereinigung. Sie bleibt ihrer Darstellungsweise treu, keine historische Entwicklung im Nachhinein als notwendig und unabwendbar zu legitimieren, immer gab es Alternativen.

Die wesentliche Erzählung, die Volkov in diesem Kapitel entwickelt, zeigt, dass der Ausschluss von Juden aus der deutschen, nationalsozialistischen Gesellschaft in den Bereichen begann, in denen ihre Integration im 19. Jahrhundert begonnen hatte. Der Ausschluss von Juden aus allen Berufen, wie auch aus den kulturellen Institutionen der deutschen Gesellschaft bildete den Vorlauf zu Vertreibung und Vernichtung.

Über den Nationalsozialismus schreibt Volkov: „Die geforderte Entmenschlichung der Juden führte zu sozialer Distanz in einem Ausmaß, das bis dahin schlicht unvorstellbar gewesen war, zu völliger Entfremdung der jüdischen Minderheit und – sehr oft – zu einem erschreckenden Mangel an Empathie und einem hohen Maß an Gleichgültigkeit bei den Deutschen. Dies war Teil einer größeren Veränderung bei der nichtjüdischen Mehrheit und verwies auf deren Transformation zur „Volksgemeinschaft“, zu einer jubelnden, ekstatischen Masse, die Arme zum Hitlergruß erhoben, die bereit war, ihren Willen und ihre heiligen Werte dem Willen und den neu definierten Werten ihres angebeteten Führers unterzuordnen.“[22]

Die meisten deutschen Historiker haben sich dennoch bis heute nicht ganz von der funktionalistischen Darstellung des Nationalsozialismus getrennt. Dass die Repräsentanten und große Teile der nationalsozialistischen deutschen Gesellschaft, alle Juden mit Willen und Absicht vernichten wollten, oder zumindest nichts dagegen unternahmen, so die Auffassung der intentionalistischen Historiker-Schule, z. B. die jüdischen Historiker Saul Friedländer und Yehuda Bauer, ist bis heute in Deutschland nicht ganz angekommen.

Anders als die Nationalsozialisten planten und anders als viele Juden auf dem Höhepunkt der Shoah glaubten, gelang jedoch die Vernichtung der europäischen Juden nicht vollständig. In beiden deutschen Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus, aber auch in anderen europäischen Gesellschaften hatten Juden, wenn auch wenige, überlebt. Manche waren am Ende des Krieges unter den Schutz vorwiegend der amerikanischen Befreier geflohen.

In den beiden deutschen Gesellschaften waren sie wesentlich daran beteiligt, Volkov verweist zum Beispiel auf Fritz Bauer, die Täter vor Gericht zu bringen, die Opfer zu entschädigen und jüdische Gemeinschaften neu aufzubauen. Ohne Fritz Bauer wäre der Auschwitzprozess in Frankfurt nicht möglich gewesen. Ohne ihn hätte Israel den nach Argentinien geflohenen Adolf Eichmann nicht verhaften können. Bauer glaubte dennoch, er habe mit seiner Arbeit viel zu wenig bewegt. Gelegentlich dachte er sogar daran ein zweites Mal in seinem Leben zu emigrieren. Ende 1967 schrieb er in einem undatierten Brief über Erschöpfung und die vielen Widerstände gegen seine juristischen Entscheidungen: „Entsetzlich ist, zu sehen, wie solche Anlässe [Bauer meine Prozesse gegen Nationalsozialisten – d. Verf.] die Braunen im Lande vereinen und zum Kesseltreiben veranlassen. Der Jude wird eben verbrannt.“[23]

„Fremd und daheim zugleich“

Im „Epilog“ und im letzten Abschnitt des vierten Kapitels („Fremd und daheim zugleich“) versucht Volkov ein Resümee. Sie schreibt, dass Juden in der vereinigten Bundesrepublik heute „fremd und daheim zugleich“ seien. „Nachdem sich Juden über 200 Jahre lang um Anerkennung und Gleichberechtigung bemüht haben, ist die alte Ambivalenz noch da. Ja sogar verstärkt, und auch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts spiegelt diese Ambivalenz die allgemeine Situation in Deutschland wider.“[24]

Und sie schreibt: „Berlin ist sicher erfolgversprechender als Weimar, vor allem wegen der Erkenntnisse, die man aus dem genauen Studium der Vergangenheit und den daraus gezogenen Lehren gewonnen hat. Ob diese Lehren verinnerlicht wurden und ob dies am Ende ausreicht, um einer neuen Welle des Hasses und des rechten Populismus zu widerstehen, bleibt eine offene Frage.“[25]

Deutsche Geschichtswissenschaft und jüdische Historiker:innen

Ich würde mir wünschen, dass Shulamit Volkovs Buch, ganz ähnlich wie Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“, zu einem neuen Schub des Nachdenkens über deutsche Geschichtsschreibung und ihre Vermittlung an Universitäten und Schulen führt.

Shulamit Volkov ist eine exzellente Kennerin nicht nur jüdischer Geschichte und der Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland, sie hat auch alle akademischen Debatten über die Darstellung der verschiedenen Perioden der deutschen Gesellschaften seit der Shoa verfolgt. Sie erzählt die Geschichte eines jüdischen Projekts der Moderne – das zunächst Teil der Geschichte der deutschen Gesellschaften war und von den Deutschen zunächst nicht verstanden, dann abgewiesen und dämonisiert wurde, später als ideologisches Zerrbild zur Legitimation der Vernichtung aller Juden diente -, vor dem Hintergrund eines kaum schlagbaren Experten- und Detailwissens.

Ihre Kritik des Sonderweg-Paradigmas besteht vor allem darin, dass seine Vertreter in der deutschen Sozialgeschichte, zwar die Entwicklung der demokratischen Institutionen und Ideen verfolgen, aber nicht die Geschichte der Juden und des Antisemitismus. Volkovs Entwurf einer neuen Darstellung der deutschen Geschichte ist so gut aufbereitet und erzählt, dass die deutschen Historiker der Sozialgeschichtsschreibung ihre eigene Ausklammerung jüdischer Geschichte und ihre Probleme in der Wertung des deutschen Projekts der Vernichtung aller Juden, anerkennen und an einer Weiterentwicklung der Geschichtsschreibung und ihrer Vermittlung an Schulen und Universitäten mitarbeiten könnten.

Wer Shulamit Volkovs Buch liest, wird auch feststellen, dass es in mehr als einer Hinsicht überfällig ist. Dass nach der Eskalation der deutschen, antisemitischen Obsessionen im Zivilisationsbruch, deutsche Geschichte nicht mehr ohne die Einbeziehung der jüdischen Geschichte geschrieben werden kann, hätten nicht-jüdische deutsche Historiker längst erkennen und formulieren können. Aber erst jetzt, hat es die Tochter von 1933 aus Deutschland nach Palästina geflohenen Juden getan. Sie machte ihre Karriere als Historikerin in Israel. Das ist selbst ein wichtiges Faktum.

Jüdische Historiker sind an den Fachbereichen der Geschichtswissenschaften der Bundesrepublik, ich spekuliere, nicht sehr zahlreich vertreten und, ich spekuliere immer noch, da wo sie es dorthin geschafft haben, sind sie wohl „fremd und daheim zugleich“. Es dauerte einige Zeit, bis in den Expertenkreis der Bundesregierung zur Analyse des Antisemitismus Juden einbezogen wurden. Möglicherweise könnte das Buch „Deutschland aus jüdischer Sicht“ nicht nur ein Anstoß zum Überdenken deutscher Geschichtsschreibung und -vermittlung, sondern auch zu einer Veränderung der Berufungspolitik an Fachbereichen der deutschen Geschichtswissenschaften werden.

Überfällig ist eine Neuorientierung der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik noch aus einem anderen Grund. Die Tradierung vormoderner und antisemitischer Stereotype erfolgt, wie schon jahrzehntelang erkennbar, in Deutschland wesentlich über die Familien. Schulen und Universitäten spielen eine korrigierende, nachsozialisierende Rolle, der sie sich nicht entziehen dürfen. Es kann nicht angehen, dass diese Aufgaben auf KZ-Gedenkstätten und Museen zur jüdischen Geschichte abgewälzt werden.

Da momentan bei nicht wenigen Vertretern kultureller Institutionen der Bundesrepublik eine ganz gegenteilige Haltung sichtbar wird, gilt dieser Appell umso mehr. Die Relativierung des Holocaust und die Dämonisierung Israels nehmen auch in akademischen Kreisen zu. Dem muss entgegengehalten werden. Das Buch und die Ideen von Shulamit Volkov könnten dabei helfen.

[1] Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. (Ralf Dahrendorf, Society and Democracy in Germany, New York 1967.)

[2] Siehe: Karl Dietrich Bracher, Die Ermordung der Juden, in: Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur, Köln 1969, S. 456 – 467.

[3] Zitiert nach: Shulamit Volkov, Deutschland aus jüdischer Sicht, München 2022, S. 7.

[4] Zitiert nach: Ebenda., S. 243 – 244.

[5] Siehe: Michael A. Meyer, Michael Brenner u. a. (Hrsg.), Deutsch Jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bände, München 1996; siehe auch den 5. Band der Reihe: Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München 2012.

[6] Siehe dazu: Shulmait Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in: Shulamit Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 118 – 137.

[7] Siehe zu einem vergleichbaren Ansatz: Anetta Kahane, Das Unbehagen am Jüdischen und die Antimoderne, in: Martin Jander, Anetta Kahane (Hrsg.), Gesichter der Antimoderne, Baden-Baden 2020, S. 37 – 64.

[8] Siehe dazu: Volkov, Deutschland, a.a.O., S. 107 – 126. Siehe zum Begriff einer multiplen Moderne: Shmuel N. Eisenstadt, Multiple modernities, Analyserahmen und Problemstellung. In: Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz (Hrsg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt 2007, S. 19 – 45.

[9] Siehe dazu: Dan Diner, Aufklärungen: Wege in die Moderne, Leipzig 2017.

[10] Zitiert nach: Volkov, Deutschland, a.a.O., S. 33.

[11] Saul Asher, Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Leipzig 1815.

[12] Siehe: Volkov, Deutschland, a.a.O., S. 17 – 37.

[13] Siehe: Ebenda., S. 38 – 60.

[14] Siehe: Ebenda., S. 61 – 84.

[15] Leopold Stein, zitiert bei: Ebenda., S. 98.

[16] Itzchak Lasker, zitiert bei: Ebenda., S. 138.

[17] Jacob Toury, Turmoil and Confusion in the Revolution of 1848: The Anti-Jewish Riots in the „year of freedom“ and their Influence on Modern Anti-Semitism (hebr.), in: Merchavia 1968, S. 224ff.

[18] Volkov, Deutschland, a.a.O., S. 163.

[19] Nicht jedem Leser ist die Geschichte von der „Judenzählung“ während des 1. Weltkrieges präsent. Hier ein kurzer Artikel von Kirsten Serup-Bilfeldt von 2016, der die wesentlichen Ereignisse zusammenfasst:  https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-judenzaehlung-1916-dolchstoss-und-eisernes-kreuz-100.html.

[20] Zitiert nach: Volkov, Deutschland, a.a.O., S. 170.

[21] Walther Rathenau, zitiert nach: Ebenda., S. 171.

[22] Zitiert nach: Ebenda., S. 231.

[23] Fritz Bauer, zitiert nach: Ebenda., S. 265-266.

[24] Zitiert nach: Ebenda., S. 297.

[25] Zitiert nach: Ebenda., S. 303-304.

 

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