Thomas Urban, der langjährige Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Moskau, Kyiv und Warschau, hat ein neues Buch vorgelegt: „Verstellter Blick – Die deutsche Ostpolitik“. Geschrieben kurz vor dem Krieg gegen die Ukraine. Auf gerade einmal 190 Seiten schafft Urban es, deutsche politische Lebenslügen klar und sachlich auseinanderzunehmen.
Seit dem Überfall von Putins Russland auf die Ukraine am 24. Februar hat sich, erst zaghaft, dann zunehmend stärker werdend, ein seltsamer Diskurs hierzulande entwickelt. In Talkshows sitzen Menschen wie Svenja Flaßpöhler, die „Offene Briefe“ unterzeichnen, in denen sie die Sinnhaftigkeit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine in Frage stellen und behaupten, „die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland“ bedeute „Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein“ scheine.
Die Nicht-Experten, die „Offene Briefe“ schreiben
Inzwischen haben zwei der Briefschreiber, Richard David Precht und Harald Welzer, beide wie Flaßpöhler Dauergast in diversen deutschen Talkshows, gar für den September ein gemeinsames Buch angekündigt, in dem sie ganz im Sound jener, die dies seit Jahren von rechts behaupten, den Medien eine „Selbstgleichschaltung“ unterstellen. Es ist zu befürchten, dass Precht und Welzer mit ihrer abseitigen These auch wieder Dauergast im Fernsehen und Radio sein werden. Wie der Rest der Briefschreiber sind sie allerdings bisher nicht mit einer Expertise zur Ukraine und militärischen Themen aufgefallen. Vielmehr reden sie, pardon, zum Thema im Fernsehen irgendetwas daher.
Zugleich will der deutsche Bundeskanzler bis heute nicht fordern, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Er kann sich lediglich dazu durchringen, zu sagen, dass Russland ihn nicht gewinnen darf, was auch immer das heißen soll.
Thomas Urban entlarvt, wie gleichgültig Deutschland traditionell gegenüber Osteuropa war
In Mittel- und Osteuropa ist, so muss man es leider sagen, das Ansehen Deutschlands infolge dieser Entwicklungen in Politik und Publizistik fast auf einem Nullpunkt angekommen, nicht nur in der Ukraine, sondern besonders auch in Polen und den baltischen Staaten.
Das hat auch viel damit zu tun, dass sich die jetzige Entwicklung in eine jahrzehntelange Vorgeschichte zur deutschen Ostpolitik einfügt, die für Deutschland alles andere als rühmlich ist. Denn auch unter der von so vielen nach wie vor hochgelobten, besser: verklärten Ostpolitik von Willy Brandt ging es eigentlich immer nur um Deutschland und Russland. Nicht aber um die Länder dazwischen, ganz besonders nicht um Polen. Darüber ist aber hierzulande erstaunlich wenig bekannt. Das muss sich dringend ändern. Und zwar am besten durch die Lektüre des im März erschienenen Buchs „Verstellter Blick – Die deutsche Ostpolitik“ von Thomas Urban, erschienen im fotoTAPETA-Verlag.
Deutsche Talkshows laden kaum wirkliche Osteuropa-Experten wie Urban ein
Thomas Urban kennt sich profund aus. Er war für die „Süddeutsche Zeitung“ von 1988 bis 2012 Osteuropa-Korrespondent mit Stationen in Moskau, Kyiv und Warschau. In Warschau lebt er nun seit vielen Jahren. Er kennt die polnische Seele. Und hat, wie auch andere Deutsche, die in Polen leben und dort als Journalisten tätig sind, einen empathischen und kenntnisreichen Blick auf die Länder zwischen Deutschland und Russland, der Leuten wie den Briefschreibern abgeht. Komischerweise aber kommen diese wahren Experten im derzeitigen deutschen Diskurs kaum vor. Das irritiert und ist, mit Blick gen Osteuropa, beschämend.
Ganz besonders irritiert, warum Thomas Urban nicht in deutschen Talkshows zu sehen ist. Ausgerechnet er nicht, der so viel weiß und zu sagen hätte. Eigentlich sollte besonders er mit seinem neuen Buch dort sehr präsent sein. Denn Urban schildert auf 190 Seiten eine Fülle von Fakten, die all das aufzeigen, was in der deutschen Ostpolitik gegenüber den Ländern zwischen Deutschland und Russland schiefgelaufen ist. Marko Martin hat für „Deutschlandfunk Kultur“ mit Recht eine fulminante Rezension verfasst und schreibt:
„Nicht hämisch-besserwisserisch und schon gar nicht – wie die vom jetzigen Bundespräsidenten gern benutzte Selbstexkulpierungsformel lautet – „im Licht der gegenwärtigen Ereignisse“.
Urbans konzises Buch, das besonders auf dem Blick der Osteuropäer auf Deutschland fokussiert, ist nämlich bereits vor Russlands erneutem Überfall auf die Ukraine in Druck gegangen.“
Und weiter:
„Ohne die autoritären Tendenzen im gegenwärtigen Polen unter der Regierung der Kaczynski-Partei kleinzureden, weist Urban darauf hin, dass sich konservative und liberal-proeuropäische Kräfte dort zumindest in einem absolut einig sind: Der deutschen Perspektive, die von „unserem Nachbarn Russland“ schwadroniert, wird eine unbewusst fortwirkende mentale Prägung durch den Hitler-Stalin-Pakt attestiert – ein Einteilen Osteuropas in Einflusszonen, ohne Achtung vor den Staaten „dazwischen“.“
Auch die liberalen Strömungen in Polen sind von Deutschland massiv enttäuscht
Hier ist genau das viel zu wenig bekannt. Es ist, was Polen angeht, keineswegs nur die PiS-Partei, die Deutschland massiv wegen der laxen Haltung und den ausbleibenden Waffenlieferungen scharf kritisiert. Der polnische Präsident Andrzej Duda hat der deutschen Regierung sogar „Wortbruch“ vorgeworfen, weil sie Vereinbarungen zum „Ringtausch“ nicht einhält, also Polen nach wie vor trotz all der Versprechen keinen Ersatz für die Lieferung der Kampfpanzer sowjetischer Bauart liefert, die das Land an die Ukraine geliefert hat. Aber es sind eben auch die liberalen Kräfte, die massiv enttäuscht sind. Urban schreibt:
„Aufgrund der traumatischen Erfahrungen, Polen als Kulturnation auszulöschen, verfolgt man in Warschau in allen Lagern von links bis rechts argwöhnisch jede Äußerung, jeden Schritt in der Bundesrepublik. Für die deutschen Medien steht fest, dass an den heutigen miserablen Beziehungen zwischen Berlin und Warschau die polnische Führung um Jarosław Kaczyński schuld ist. Doch die Dinge sind komplizierter.“
Und warum sie es sind und inwiefern es eine Vorgeschichte gibt, schildert Urban sachlich, klug und beeindruckend kenntnisreich. Diese Vorgeschichte begann bereits im Kalten Krieg. Besonders erschütternd sind die Fakten, die im Kapitel „Nostalgie nach Entspannung“ aufgeführt sind.
„Nostalgie nach Entspannung“: Deutschlands Blick ging stets einseitig-anbiedernd gen Moskau
Deutschland ging es auch damals schon primär um das Verhältnis von Russland. Und ausgerechnet Polen, das Nachbarland, dem Deutschland sehr viel angetan hat, störte dabei. Doch nicht nur Polen. Auch die anderen Länder zwischen Deutschland und Russland. So wie die Briefschreiber aktuell die Ukraine stört. Urbans Äußerung im Vorwort des wie gesagt kurz vor dem Krieg verfassten Buchs bekommt so eine besondere Relevanz:
„Doch die Risse zwischen der Bundesrepublik und ihren Nachbarn bekümmern die deutsche Gesellschaft anscheinend nur wenig. Die Deutschen wirken selbstbezogen, sie sind all der aus dem Land über sie hereingebrochenen Krisen – Banken, Euro, Ukraine, Flüchtlinge, Trump, Corona, offenbar überdrüssig.“
Und ja, in der Tat, die Selbstbezogenheit zeigt sich aktuell sehr; selbst die Fragestunde letzte Woche Mittwoch im Bundestag kümmerte sich mehr um Energie- und Klimathemen als um die Ukraine. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ jedenfalls titelte treffend zynisch: „Und was wird aus uns“?
Zurück zur Historie. Und die hat es in sich. Im bereits erwähnten Kapitel „Nostalgie nach Entspannung“, das hier exemplarisch für das insgesamt luzide Buch herausgegriffen werden soll, nennt Urban wie bereits gesagt erschütternde Fakten, die hierzulande zu wenig bekannt sind.
Während Deutschland ab 1975 an „Wandel durch Annäherung“ glaubte, zog der KGB die Zügel gegen Regimekritiker an
So beschreibt Urban, wie man nach der KSZE-Schlussakte 1975 im Westen dachte, diese sei ganz großartig, ein „Meilenstein beim ‚Wandel durch Annäherung‘“. Tatsächlich aber zog der damalige KGB-Chef Juri Andropow, der später ab von 1983 bis 1984 für kurze Monate bis zu seinem Tod Chef der Sowjetunion werden sollte, im Land ganz gegenteilige Konsequenzen. So ähnlich wie der frühere KGB-Chef Putin, der alle Annäherung an den Westen in brutalster Form aufgegeben hat. Urban schreibt:
„Doch KGB-Chef Juri Andropow sah in Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gefahren für die Parteiherrschaft, der KGB ging unbarmherzig gegen Regimekritiker vor.“
Ein Déjà-Vu. Der von Steinmeier et. al auch lange danach verklärte Putin sollte genau das ebenfalls wenige Jahre nach seinem Amtsantritt tun.
Der abgründige Umgang Deutschlands unter der SPD mit der Solidarność-Gewerkschaft
Zurück aber zu Polen. Und hier wird die Anbiederung an damals noch die Sowjets wirklich unangenehm für Deutschland. Urban schreibt wie, ja so drastisch muss man es sagen, mies in Deutschland mit der „Solidarność“-Gewerkschaft umgegangen wurde, die sich 1980 nach dem Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. mit Lech Wałęsa als Anführer in Danzig gegründet hatte:
„Die in Bonn regierenden Sozialdemokraten empfanden die Solidarność als Störfaktor bei ihren Versuchen, die Entspannungspolitik wiederzubeleben. Dass streikende Arbeiter unter Bildern von Johannes Paul II. auf dem Gelände der Danziger Lenin-Werft vor einem Priester zur Beichte niederknieten, rief in den westeuropäischen Ländern Abwehrreflexe hervor. Die führenden Köpfe der SPD zogen es vor, sich von der Solidarność, die als erzkonservativ und romantisch-revolutionär begriffen wurde, fernzuhalten, obwohl deren Wirtschaftsprogramm klassisch-sozialdemokratisch war.“
Heute entspricht es dem wissenschaftlichen Stand, dass Johannes Paul II. entscheidend dazu beigetragen hat, das Sowjetregime zu Fall zu bringen.
Doch die SPD wollte das damals nicht sehen. Solidarność störte in der „Neuen Ostpolitik“. Es wird noch schlimmer und Thomas Urban, das ist die so große Stärke seines Buchs, zoomt den Leser mitten hinein in die damalige Zeit. Ich weiß wirklich viel über das, was damals war, weil mein Vater als SPD-Mitglied immer sehr kritisch gegenüber dem Ostblock war und gar nichts verklärt hat. Ich weiß also aus meiner Kindheit, dass der in Polen von 1981 bis 1989 als Staatschef amtierende General Jaruzelski eine Puppe der Sowjetunion war. Nicht aber wusste ich, dass er im Dezember als Reaktion auf die friedlichen Proteste der Solidarność das Kriegsrecht verhängt hatte. Noch weniger wusste ich, wie entgegen ihrer eigenen Werte der Menschenrechte die SPD darauf reagiert hat.
Exemplarische Zitate zum inakzeptablen Umgang mit Solidarność aus Urbans lesenswertem Buch
Thomas Urban beschreibt es:
„Schmidt wurde von der Verhängung des Kriegsrechts über Polen bei einem Besuch der DDR überrascht. Er äußerte Verständnis dafür, ‚dass dies nun notwendig war#. Es gelte, an der Entspannungspolitik festzuhalten. Völlig anders aber sah das die sozialistische Regierung Frankreichs unter Mitterand, die Jaruzelski scharf kritisierte. Die französische Presse warf den deutschen Sozialdemokraten vor, ‚schamlos an Fiktionen festzuhalten‘, es se Wunschdenken, durch das Vermeiden von Kritik die Dinge zum Besseren wenden zu können.“
„Um den Kriegsrechtsgeneral Jaruzelski nicht zu verärgern, vermied Willy Brandt es 1985 bei einem Besuch in Warschau, den zum großen Verdruss der Parteiführung ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Lech Wałęsa zu treffen. (…) Bei einer früheren Gelegenheit hatte es Brandt bereits abgelehnt, mit dem linksliberal orientierten Dissidenten Adam Michnik über Wege zur Demokratisierung Polens zu reden. Osteuropäische Regimegegner warfen Brandt Kumpanei mit den Mächtigen vor und hielten ihm das Beispiel Johannes Pauls II. vor.“
„Das Ausweichen Brandts war eine lang nachhallende Enttäuschung für die polnischen Menschrechtler; sie hatten gerade auf die Unterstützung des in der ganzen Welt angesehenen Friedensnobelpreisträgers gesetzt, der zudem Präsident der Sozialistischen Internationale war.
„Geradezu für Empörung sorgte Egon Bahr: Er beschuldigte die Solidarność, den Frieden in Europa auf Spiel zu setzen, da eine Destabilisierung der Volksrepublik Polen das Gleichgewicht der Militärblöcke gefährde.“
„Der SPIEGEL-Herausgeber lobte Jaruzelski, dieser habe mit dem Kriegsrecht den Frieden in Europa gerettet. Augstein ging sogar so weit. Papst Johannes Paul II. vorzuwerfen, durch seine Unterstützung der Solidarność‘ hinter der Fassade des Maienkults eine friedensbedrohende Politik zu betreiben.“
All das sei wie gesagt nur exemplarisch herausgegriffen, um aufzuzeigen, wie fundiert Thomas Urban all die Irrtümer der deutschen Ostpolitik erklärt. Das gilt erst recht für diejenigen zur Ukraine um Nord-Stream II, die in anderen Kapiteln genau dargestellt werden.
Thomas Urbans „Versteller Blick“ ist ein großes Buch und dass es mit unter 200 Seiten so schnell und gut lesbar ist, zeichnet es ganz besonders aus.
Liebe deutsche Talkshows, bitte ladet Thomas Urban ein.
Bitte um Freischaltung – meines Kommentars vom 24.Juli (!). Oder wird man mit Kritik hier schon wegmoderiert – wie auf der „Achse des Guten“, Frau Bednarz?
Stefan Trute
24. Juli 2022 um 08:30 Antworten
Ihr Kommentar muss noch freigeschalten werden.
Dies ist keine Rezension, sondern die Laudatio einer Nicht-Expertin. Um den im Buch angesprochenen Themenkomplex und seine Interpretation angemessen beurteilen zu können, fehlt der Autorin schlicht das Wissen. Und so äußert sie sich in diesem Falle eben nicht als Expertin, aber das sei ihr selbstverständlich zugestanden, ebenso wie es selbstverständlich ist, dass sich jeder zum Thema äußern darf, auch ein Precht oder Welzer. „
Viele angebliche Russland-Kenner und Putin-Analysten machen im Jahr 2007 eine Wende in der russischen Politik aus, die Abkehr vom demokratischen Westen und die Rückkehr zum sowjetischen Großmachtdenken, markiert durch die wütende Rede Putins vor der Münchner Sicherheitskonferenz, die viele Europäer schockierte. Für Thomas Urban fand der angebliche Kurswechsel nach der Rede des russischen Präsidenten 2001 im Deutschen Bundestag statt. Die habe bei allen, ihn eingeschlossen, noch die Hoffnung auf eine friedliche Zusammenarbeit mit einem demokratischen Russland genährt,
doch anschließend habe man der Entwicklung der russischen Innenpolitik zu wenig Beachtung geschenkt.
Der ehemalige Korrespondent der SZ in Warschau gehört zwar nicht zu denen, die es erst jetzt besser wissen, wenn er der deutschen Politik vorwirft, zu sehr auf Moskau gesetzt und zu wenig auf die osteuropäischen Länder gehört zu haben. Aber Putin war schon vor 2001 nicht anders als heute, eben kein „lupenreiner Demokrat“, der sich mit der Entkolonisierung des früheren Sowjetimperiums abgefunden hätte. Putins erste Amtshandlung als Ministerpräsident war es 1999, die Anerkennung der Souveränität Tschetscheniens zu widerrufen und einen zweiten Tschetschenienkrieg zu beginnen, der Grosny zum zweiten Mal zerstörte (Tschetschenien war dann die Vorlage für Georgien, Syrien und die Ukraine). Damit einher ging von Anfang an der Aufbau einer Autokratie in Russland durch Unterdrückung jeder politischen Opposition. Putin hat nie das Weltbild des KGB-Offiziers abgelegt, der 1989 in Dresden zusehen musste, wie friedliche Demonstranten das SED-Regime zum Einsturz brachten.
Insofern sind die größten Fehler der deutschen Ostpolitik in der Zeit zwischen 1999 und 2005 gemacht worden, für die in Berlin Gerhard Schröder und Joschka Fischer verantwortlich waren, und nicht von Angela Merkel, die an Nord Stream 2 so wenig Anteil hat wie 2014 am Moskau-Besuch von Siemens-Chef Joe Kaeser, für den die Annexion der Krim und die Intervention im Donbass kein Grund waren, deutsche Geschäftsbeziehungen mit Russland zu überdenken.
Eine sehr gute Rezension zu einem sehr guten Buch! Dank an die Autorin. Werde dies sogleich meinen Facebook-Freunden und Twitter-Verfolgern empfehlen.
Es beschämt mich ansehen zu müssen, wie der bekennende Tschekist Putin aus Deutschland eine supereffiziente Propagandawaffe gemacht hat, die er fast nach Belieben einsetzt.
Danke Ihnen sehr für diesen Kommentar und das Teilen auf FB und Twitter! Freue mich sehr, denn dieses Buch verdient wirklich Aufmerksamkeit!
Meine Blicke auf die Kommentare dieses Blockes scheinen seit Juni auch verstellt, denn ich bekomme diese nicht angezeigt, wenn ich versuche, sie aufzurufen.
Was ist ein wahrer Experte? Ich bin jedenfalls kein Experte. Vielleicht kaufe und lese ich das Buch von Thomas Urban noch. Allerdings »Deutschenschelte« – besonders gegen Links, Grüne, Intellektuelle und Politiker – hatte ich schon vor Jahren ausreichend bei achgut.com gelesen – oft auch mit historischen Fakten aus dem Steinbruch der Geschichte flankiert und alarmistisch für die Zukunft. Das versetzte mich damals in Ängste. Die CDU/CSU kam dort auch nicht gut weg, denn auch sie hatte in der Geschichte ihren Anteil. Man denke nur an Franz Joseph Strauss, der den Milliardenkredit an die DDR genehmigte und der dann ebenfalls scharf kritisiert wurde. Deutschlandschelte kam auch von D. Trump. Hat es etwas bewirkt angesichts der Vorgänge in den USA? Die Medien waren voll mit Empörung. Heute können sich jene bestätigt fühlen, die vor Russland warnten. Gleichzeitig sollte man auch feststellen, dass jene, die diese Deutschenschelte und Politikerschelte verbreiteten, mit Wegbereiter der AfD in Deutschland, besonders Ostdeutschland, und damit für ihr eigentliches Anliegen einer strengeren Russlandpolitik eher kontraproduktiv waren, denn die AfD hat eben jene Verbundenheit mit Russland und China (Seidenstraße) in ihr Wahlprogramm geschrieben. Persönlich vermisste ich über all die Jahre ein Plan B in der Energiepolitik. Heute sind es die Grünen, die mit ihrer Außenministerin, an der Seite der Ukrainer stehen. Grundsätzlich finde ich, dass das Ansinnen, einen Krieg zu vermeiden, angesichts der heutigen Zerstörungsmöglichkeiten und der gezeigten Brutalität gegen Soldaten und Zivilisten seitens der russischen Angreifer nicht grundlegend falsch ist. Man muss nicht Putin-Apologet sein, um sich über die Folgen eines Krieges zu Sorgen. Ob Osteuropa nun aus Enttäuschung über Deutschland einen autoritären Rechtsruck vollzog oder weil man der Demokratie und der Migration insgesamt skeptischer gegenüber stand und gern allerlei Verschwörungstheorien glaubte, müssen die Historiker erforschen. Vor kurzem las ich in Anne Applebaums »Die Verlockung des Autoritären« über die Veränderungen in Polen, den Fall Smolensk und das Gesetz, „das die öffentliche Debatte über den den Holocaust unterbinden sollte“. Jeder schreibt sein Narrativ. Die einen glauben an die »Entspannungspolitik« als Auslöser der Implosion des Sozialismus, andere sehen Reagans Atompolitik als Ursache. Vielleicht liegt das Geheimnis dazwischen. Als Bürger muss ich mich darin verhalten. Persönlich erinnere ich mich gut an die Ausrufung des Kriegszustandes in Polen 1981 und unsere Sorgen als Jugendliche vor einem drohenden Atomkrieg in Europa. Die Gründung von Solidarność nannte die DDR damals »Konterrevolution«, dies führte zu bösartigen Parolen, zur Verbreitung von Stereotypen in der DDR-Presse und später zu organisierten Solidaritätsaktionen. https://www.mdr.de/geschichte/polen-ddr-solidarnosc-honecker-100.html Manche dieser Stereotype sind langlebig und kommen oft im neuen Gewand wieder. Im Jahre 1984 war ich im Studentensommer in Krakau mit einem Auftrag mit den Arbeitern über Solidarność zu diskutieren. Das veranlasste mich später, darüber nachzudenken, was man überhaupt zu sehen bekommt.
Es hätte in meinem Kommentar „echter Experte“ statt „wahrer“ Experte heißen müssen. Mein Fehler. Experten gibt es viele. Nur muss man aufpassen, sich nicht nur selbst zu bestätigen. Vor mehr als 10 Jahren las ich Alan Poseners Buch »Imperium der Zukunft« just zu dem Zeitpunkt da die aktuellen Bilder zu den Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya im Fernsehen gezeigt wurden. Damals begann ich achgut.com zu hinterfragen und mich mit der »Globalisierung« von Propaganda zu beschäftigen. Bereits 2014 gab es in meinem persönlichen Tagebuch einen Eintrag über die Wirkung von russischen Trolls in den online-Medien in Deutschland. Ich weiß nicht, ob Alan Posener in Ihren Augen ein „echter“ Experte ist, doch habe ich seine Warnungen aus diesem Buch ernst genommen. Wir alle versuchen mit diesem Krieg umzugehen und jeder benutzt so seine eigenen »Coping«-Methoden. Jetzt kann ich die Kommentare lesen, allerdings kann ich nun auch sehen, dass frau meine Kommentare nach eigenem Gusto freischaltet ohne irgendeinen Hinweis dazu. Das mag bei einem persönlichen (Wut)Statement noch angehen, doch ich bin weder ein Troll noch ein Supermarkt, wo man sich mal eben bedient und den Rest verschwinden lässt, da dieser unbequem erscheint. Vielleicht denkt frau ja wenigstens über meine Kommentare nach, wenn sie sich schon nicht öffentlich damit auseinandersetzen will. Dann würde sie vielleicht feststellen, dass einige von jenen, die in Polen auf Deutschland wütend sind, den „gefährlichen Bürgern“ in Deutschland ähnlicher sind, als man sich dies wünschen sollte. Mein Resonanzraum ist ein anderer als Ihrer, dafür muss ich nicht einmal in Polen, Ungarn oder einen anderen Staat Osteuropas leben. Aber als »Abwehrformel« gegen Kritik eignet es sich wohl jemanden zum »Troll« zu erklären, offenbar genauso gut wie eine »Kampagne« gegen sich zu wittern.
Inzwischen habe ich Thomas Urbans Buch vollständig gelesen. Was hätte er in eine solche Talkrunde einbringen können? Eine Deutschenschelte? Fragen des Völkerrechts? Womit die NATO, insbesondere die USA, Putin so verärgert hatte? Da wäre er sich vielleicht manchmal mit den „Putin-Verstehern“ einig. Eine Geschichtsdiskussion, also ein Nebenkriegsschauplatz als Ersatzhandlung, wie wir sie all die Jahre führten? Wie schon Jürgen Thiede in seinem Kommentar schrieb, hatte sich Putin wahrscheinlich nicht geändert. Er hat 2000 die Gunst der Stunde für sich und die seinen genutzt und die Entwicklungen zurückgedreht. Die Gekränkten wurden eingesammelt und die Vergangenheit gewann an Zugkraft. Ergänzend zu Anne Applebaums und Thomas Urban Büchern kann ich Masha Gessens »Die Zukunft ist Geschichte« empfehlen. Darin beschreibt sie sehr gut den Übergang von Jelzin zu Putin und die darauf folgenden Veränderungen in der Gesellschaft, von der Zunahme nationalistischer Töne, Homophobie usw. Europa modernisierte sich, während Russland wieder reaktionärer wurde. Es geht dabei nicht nur um Putin, sondern auch um den Resonanzraum. Der »Homo Sowjeticus« – psychologisch gesehen – war noch nicht vergangen. Als Ossi mit totalitärer Sozialisierung machte ich einige ähnlich Erfahrungen. Thomas Urban benennt einige Gründe dafür, dass Putin an die Macht gelangte: den Bankrott, die damit verbundene Steigerung der Kriminalität und Verarmung des Mittelstandes, den Jugoslawienkrieg, die als Kränkung erfahren wurden. Wahrscheinlich hatte achgut.com auch diese Entwicklung im Blick, als dort um 2010 gegen die Ostdeutschen und die nicht vergangene Stasiseilschaften polemisiert wurde. Trotzdem machte sie m. E. teilweise das Geschäft Putins, indem sie zum Teil reaktionäre Ideologien verbreiteten bzw. sich nicht ausreichend abgrenzten. Die Straße sollte ebenfalls gegen den politischen Gegner mobilisiert werden, wie es auch in Russland gegen die Reformer geschah. Die einen sahen in Deutschland Putin als Energielieferant – was achgut.com kritisierte -, die anderen als Bezwinger eines aufstrebenden Islamismus. Die AfD sah in Putin beides, den Energielieferanten und den Retter des christlichen Abendlandes. Als solcher hatte Putin sich immer wieder inszeniert. Fast gleichzeitig mit progressiven Ideen fanden auch reaktionär-konservative Ideen aus den USA ihren Weg nach Russland und Deutschland, die passten ebenfalls gut zum Homo Sowjeticus mit seinem Hang zur Übersichtlichkeit und Ruhe. Die Polen werden den »Homo Sowjeticus« für sich zurückweisen, trotzdem blieben 40 Jahre Sozialismus nicht ohne psychologische Folgen. Weil die Polen und anderen Osteuropäer in der Sache Putin recht hatten, heißt es nicht, dass dies immer auch in eigener Sache gilt. Die Diskussion über die Totalitarismus-Theorie, die nach Thomas Urban „in den ehemaligen Satellitenstaaten Moskaus eher mit Unverständnis verfolgt wurden“, ist m. E. auch nicht so überflüssig. Vielleicht hätte dabei so mancher in einen Spiegel geschaut. Außerdem hätte man sich mit dem Anspruch einer ausschließlichen Opferrolle auseinandersetzten können. Thomas Urban scheint dies so zu übernehmen. Masha Gessen widmet dem Thema »Totalitarismus« einige Seiten (S. 359ff). Anne Applebaum schreibt in ihrem Buch „wir wissen, dass in geschlossenen Gesellschaften, die nicht an öffentlichen Debatten gewöhnt sind, die Ankunft der Demokratie mit ihren widerstreitenden Stimmen und Meinungen »komplex und furchteinflössend sein kann« (S.113) Für mich furchteinflössend auch, weil man sich nun nicht nur einem rechthaberischen Staat gegenübersieht, sondern zusätzlich oft rechthaberischen, sich selbstermächtigten Gruppen.
Unser Blick kann von vielem verstellt werden: von unserem Wunschdenken, einer „Geiz ist geil“-Mentalität, Selbstgewissheit, von anderen ebenfalls drängenden Problemen.
Eigentlich müsste ich als Ossi das Buches von Thomas Urban ähnlich bejubeln wie Liane Bednarz. Waren es nicht die sogenannten „Besserwessi“, die in einer Attitüde der geläuterten Selbstüberhöhung uns Ossis über Antisemitismus und manch anderes belehrten? Eigentlich. Denn die Diskussionen waren nötig. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des Antisemitismus nicht so einfach ist, wenn dieser nicht dem Selbstbild entspricht, damit hat Thomas Urban recht. Wenn er allerdings gleich auf der ersten Seite im Kapitel »Juden und Antisemiten« schreibt, „dass ein Großteil der führenden Bolschewiken aus jüdischen Familien stammte, unter ihnen ..“, dann stellen sich mir einige Fragen. Habe ich eine Korrektur dieser Behauptung überlesen oder sie falsch verstanden? Bereits ein Blick in wikipedia zeigte, dass die Behauptung so nicht richtig ist und auch in der öffentlichen Debatte bereits häufiger widerlegt wurde. https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer_Bolschewismus Wenn heute Antisemiten der Zwischenkriegszeit in Polen und der Ukraine Denkmäler gesetzt werden (sollen), zeigt dies ein Mangel an Aufarbeitung des Antisemitismus vor und/oder nach dem Holocaust – es gab auch antisemitische Pogrome nach 1946 in Polen. Auch in Ostdeutschland gab es manche Auseinandersetzung, um die Aufdeckung von Antisemitismus bei Personen der Zeitgeschichte und der Umbenennung von Straßen und Institutionen. Dass man als »perfekter Gegner« – antideutsche Ressentiments im Wahlkampf – kaum eine Möglichkeit der Korrektur hat, scheint für Thomas Urban vernachlässigbar. Sie, Liane Bednarz, haben dieses Buch instrumentalisiert, um die SPD, den ÖRR und die offene Briefeschreiber bloßstellen zu können. Es ist richtig, die Ukrainer müssen ihre Freiheit verteidigen können und brauchen dafür Waffen. Mich interessiert im Grunde nicht, wer in Talkshows sitzt. Es gibt ja noch die Möglichkeit des Zappens. Dass Thomas Urban für eine solche Auseinandersetzung der richtige Experte gewesen wäre, glaube ich nach der Lektüre seines Buches nicht. Deutschland, insbesondere die Apologeten der »Wandel durch Handel«-Doktrin haben sicher viel falsch gemacht – dafür werden wir alle bezahlen. Es wundert mich, dass Alan Posener hier zu diesem Buch nicht kommentierte.
Sind Sie eigentlich wirklich so religiös, dass Sie den Atomtod einer Unterwerfung vorziehen, wie Sie vollmundig bei Twitter behaupteten? Rhetorische Frage. Nicht, dass ich Lust auf Unterwerfung habe, im Gegenteil, hatte ich vor mehr als einem Jahrzehnt hier auf SM meine Familiengeschichte entblößt, aus Angst vor einer solchen, egal welcher ideologischen Ausprägung. Mein Jahrgang war der erste, der in der Schule den DDR-Wehrkundeunterricht absolvierte. Heute noch kann ich die Bilder der Verbrannten und das Brummen der Flugzeuge vom Abwurf der Atombomben über Japan abrufen. Das Leben in der DDR war sicher eines voller Mängel, doch so schlimm, wie in diesem Film https://de.wikipedia.org/wiki/Briefe_eines_Toten, den ich übrigens während meines mehrmonatigen Aufenthalt in Kiew (3-4 Monate nach Tschernobyl) im Kino sah, sicher nicht. Viele Liquidatoren des zerstörten Atomreaktors in Tschernobyl, leiden an den Folgen. Sie scheinen auf eine gefährliche Art ahnungslos zu sein. Vielleicht fehlt Ihnen dafür einfach der Blick.