Dennis Radtke (CDU) kommt aus Wattenscheid, ist Mitglied des Europäischen Parlaments und gerne pointiert auf Twitter unterwegs. Ein Gespräch mit dem Sozialpolitiker über den Ukraine-Kurs der Bundesregierung, das Ansehen Deutschlands in Europa, die ökonomischen Folgen des Kriegs und die richtige politische Kommunikation in Zeiten wie diesen.
Ein Interview von Liane Bednarz
Starke Meinungen: Sie sind nach der Wahl in Schleswig-Holstein sicher bester Laune, oder?
Radtke: Ich bin sehr guter Laune. Der Wahlsonntag in Schleswig-Holstein gibt auf jede Fälle jede Menge Rückenwind für den Endspurt hier in Nordrhein-Westfalen.
Starke Meinungen: Was ist das Geheimnis von Daniel Günther?
Radtke: Ich weiß nicht, ob es das eine Geheimnis von Daniel Günther gibt. Der Ministerpräsident und die CDU in Schleswig-Holstein stehen für eine moderne, liberale, weltoffene und soziale CDU stehen. Zudem hat sich die Küsten-CDU eine Phantomschmerzdebatte erspart, welches nun das richtige Profil für die CDU sei. Partei und Spitzenkandidat haben einfach unaufgeregt ihre Arbeit gemacht. So ist man erfolgreich.
Starke Meinungen: Kommen wir zu Ihnen. Im Ruhrgebiet würden man sagen, Sie äußern sich gerne „mit Schmackes“ auf Twitter. Aktuell besonders deutlich zum Kurs der Regierung im Lichte des Kriegs gegen die Ukraine. Was sagen Sie insoweit zu der Performance von Bundeskanzler Scholz?
Radtke: Ich sage, wie es ist: ich bin einfach entsetzt. Es geht mir nicht darum, das Thema parteipolitisch hochzuziehen. Jenseits vom Fokus auf bestimmte politische Farben hab´ ich in der derzeitigen Krisensituation eine Erwartungshaltung an einen Bundeskanzler, die er in keiner Weise erfüllt. Sein Bonmot lautet bekanntlich „Wer Führung bestellt, bekommt sie bei mir auch“. Diese versprochene Führung vermisse ich schon seit mehr als 100 Tagen.
Hinzu kommt, dass der Bundeskanzler bei seiner Fernsehansprache am Sonntagabend die Menschen bei einem der wichtigsten aktuellen Themen erneut allein gelassen hat. Er hat nichts dazu gesagt, dass große Teile der Bevölkerung Existenzsorgen haben und die Industrie sich fragt, wie sie unternehmerische Gewinne erzielen kann, weil die Energiekosten schlicht und ergreifend durch die Decke gehen. Diese Sorgen völlig auszublenden, finde ich unglaublich arrogant.
Wenn ich zurückblicke, kann man ja sagen, dass auch Frau Merkel keine Kommunikationsweltmeisterin war, aber sie hat auch ohne viele große öffentliche Worte an ihrer Klarheit im Kurs nichts vermissen lassen. Ich erlebe als Europaabgeordneter, was für ein riesiges Vakuum durch den Weggang von Frau Merkel entstanden ist. In Brüssel wird über das deutsche Verhalten nur noch der Kopf geschüttelt. Ob bei Waffenlieferungen, ob bei Sanktionen: überall ist Deutschland nicht nur Mahner, sondern vor allem der Bremser.
Starke Meinungen: Sie sehen also zwei offene Flanken bei der SPD, die die CDU sich nun anschickt auszufüllen, oder? Sowohl den außenpolitischen Kurs als auch die Sozialpolitik. Gerade die Sozialpolitik ist ja eines Ihrer Kernthemen. Schafft ausgerechnet die SPD sich gerade auf diesem Gebiet eine Leerstelle, die Sie als CDU nun angehen wollen?
Radtke: Wenn ich ehrlich bin, war diese Leerstelle bei der SPD auch schon in der zurückliegenden Legislaturperiode da. Es ist uns als CDU nur nicht gelungen, diese im Bundestagswahlkampf klar und deutlich herauszuarbeiten. Die SPD redet immer von Respekt und guter Arbeit. Aber man muss sich anschauen, wo es gute Arbeit gibt. Diese ist vor allem im industriellen Bereich mit der hohen Tarifbindung, dem hohen Grad an Mitbestimmung und den hohen Löhnen vorhanden. Doch das ist der Bereich, der seit Jahren von der SPD schmerzlich vernachlässigt wird. Wir sehen das bei den Themen Transformation und Green Deal. So wurde beispielsweise in dieser Woche im Europäischen Parlament im Umwelt- und Verkehrsausschuss das Verbrennerverbot ab 2035 beschlossen. Da sind die Sozialdemokraten vorne mit dabei, obwohl das am Ende dazu führen wird, dass wir Hunderttausende gut bezahlte Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie gefährden.
Durch die Steigerung der Energie- und Benzinpreise wird diese Leerstelle noch größer werden. Modellrechnungen zeigen, dass für eine vierköpfige Familie eine Mehrbelastung von bis zu 5.000 Euro pro Jahr erwartet wird. Da sind die Preissteigerungen bei Lebensmitteln noch gar nicht enthalten. Die Antwort der Bundesregierung ist ein Entlastungspaket der Bundesregierung von 300 Euro brutto pro Person, bei dem Rentner und Studenten noch nicht einmal berücksichtigt sind. Die Ampel meint, damit habe man eine Kompensation geschaffen. Das ist einfach irrwitzig. Das sind Themen, bei denen wir als CDU den Finger in die Wunde legen und eigene Vorschläge bringen müssen, wie wir es besser machen würden.
Starke Meinungen: Wie kann man den Mittelstand entlasten? Sie haben sich nicht nur mit der Arbeitnehmerseite, sondern auch mit dieser Frage bereits im Zuge der Corona-Krise sehr beschäftigt. Welche Probleme haben sich durch den Krieg noch weiter verschärft?
Radtke: Dass wir die höchsten Energiepreise in der Europäischen Union haben, ist nicht dem Ukraine-Krieg geschuldet. Wir haben in den letzten 20 Jahren alles dafür getan, Energie in unserem Land künstlich zu verteuern. Daran waren wir als Union, so ehrlich muss man sein, nicht unbeteiligt. Die jetzige Krisensituation kommt noch on top. Wir benötigen sofort ein radikales Gegensteuern bei den Energiesteuern und zumindest temporär auch bei der Mehrwertsteuer. Sonst werden wir die aktuellen Probleme nicht in den Griff bekommen. Andere Länder in der Europäischen Union gehen genau diesen Weg. Nur wir sind zurückhaltend. In Berlin glaubt man, mit der Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli habe man schon einen riesigen Beitrag geleistet. Zur Wahrheit gehört aber, dass allein durch die Steigerung der Netzentgelte ein Teil der Ersparnisse durch die Abschaffung der EEG-Umlage schon wieder aufgefressen sind; die generelle Inflation ist da noch gar nicht berücksichtigt.
Mir geht es nicht um eine Trendumkehr hin zu weniger Klima- und Umweltschutz. Auch wir wollen den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Vieles, was an Leistung in diesem Bereich entsteht, kann nicht schnell genug ans Netz gebracht werden, weil wir beim Netzausbau der Musik hinterherlaufen. Auch im Hinblick auf ein LNG-Terminal müssen wir zu radikalen Verschlankungen bei den Genehmigungsverfahren kommen. Sonst bleiben die Hinweise darauf, durch erneuerbare Energien die Preise in den Griff zu bekommen, reine politische Sonntagsreden. Wir müssen kurzfristig reagieren. Aber da kommt von der Bundesregierung wenig bis gar nichts.
Starke Meinungen: Um den Blick nun auf die außenpolitische Flanke zu lenken: An sich heißt es ja, in Kriegszeiten müsse die Opposition die Regierungslinie weitestgehend mittragen, gerade bei einem Aggressor wie Putin. Jedoch macht es Bundeskanzler Scholz der CDU mit seinem zaudernden Kurs damit nicht gerade leicht. Was folgt daraus für die CDU, gerade auch als Partei der Westbindung, als Partei Adenauers?
Radtke: Es ist vollkommen richtig, dass in Krisensituationen das parteipolitische Geklingel zurückgenommen wird und Demokraten zusammenstehen. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass der Bundeskanzler für sein Tun oder vielmehr auch für sein Nicht-Tun von der Opposition eine Carte Blanche erhält. Wenn er massiv deutsches Vertrauen in Europa, in der Welt, bei unseren Freunden und Partnern verspielt, können wir das nicht einfach gut und richtig finden.
Es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft in den Unionsparteien, die Regierung zu unterstützen. Dazu muss man dann aber auch die Hand reichen und hinter den Kulissen transparent sein. Beim Sondervermögen für die Bundeswehr oder deutschen Waffenlieferungen habe ich nicht den Eindruck, dass die Regierung ein ernsthaftes Interesse daran hat, die Union in diese Entscheidungen einzubinden. Bei solch einem Vorgehen kann die Ampel eine Blankozustimmung der Union im Deutschen Bundestag nicht erwarten, vor allem, wenn man im Gegenzug nichts anbietet. Das kann nicht funktionieren.
Ob bei Sanktionen, ob bei Waffenlieferungen, Deutschland ist in den letzten Wochen als Bremser aufgetreten. Wir stehen mittlerweile europapolitisch in einer Ecke mit Herrn Orban. Das ist eine Ecke, über die wir uns in den letzten Jahren immer empört haben, mit den Sozialdemokraten an der Spitze der Bewegung. Dort aber sind wir mittlerweile gelandet, weil die SPD nicht bereit ist, mit ihrem eigenen Russland-Netzwerk klar Schiff zu machen. Es scheint ja wirklich so zu sein, dass dieses Netzwerk die SPD in ihren politischen Entscheidungen nicht nur beeinflusst, sondern regelrecht lähmt. Für eine solche Politik kann man keine Unterstützung einfordern.
Starke Meinungen: Ernsthaft, in einer Ecke mit Herrn Orban? Ist die Stimmung in Europa so schlecht? Und stimmt es, dass die Enttäuschung im sonstigen Osteuropa über Deutschland besonders groß ist? Erleben Sie das in Brüssel so?
Radtke: Ja, absolut. Gerade die Polen und die Balten. Ich erlebe das sowohl in der EVP-Fraktion als auch im gesamten Parlament. Man merkt es auch, wenn man mit Vertretern bei der Kommission oder beim Rat spricht. Das Entsetzen ist groß. Es gibt einige, die das klar und deutlich öffentlich artikulieren. Es gibt andere, die nur hinter den Kulissen sprechen oder den Kopf schütteln. Aber insgesamt ist es nicht nur ein Erstaunen, sondern wirklich ein Entsetzen über das Verhalten bzw. Nicht-Verhalten der Bundesregierung.
Man muss es einmal klar sagen: Wir haben Polen in den letzten Jahren sehr stark kritisiert im Umgang mit Rechtsstaatlichkeit in der EU und mit Blick auf ihre Justizreform. Ich denke, auch zu Recht. Aber man muss im Umkehrschluss auch sehen, was die Polen jetzt auf die Beine stellen: Aufnahme von über drei Millionen Flüchtlingen, davon mehr als 100.000 Waisenkinder bzw. unbegleitete Kinder und Jugendliche. Ich war selbst kurz nach Ausbruch des Kriegs an der polnisch-ukrainischen Grenze mit einem polnischen Bürgermeister unterwegs und habe mir ein Flüchtlingsaufnahmelager angesehen und die Situation am Grenzbahnhof. Dort waren Menschen – auch ehrenamtlich – rund um die Uhr im Einsatz. Ebenso habe ich mit Menschen gesprochen, die sich freiwillig meldeten, um LKWs mit Lebensmitteln und Medikamenten nach Lemberg zu fahren und damit in eine Stadt, die auch unter Raketenbeschuss steht. Konträr dazu registrieren wir einen Formalismus der Bundesregierung, der wichtige Entscheidung unendlich lange herauszögert, wo Schnelligkeit und Handlungsfähigkeit gefragt sind. Das schadet dem deutschen Ansehen, vor allem in Europa.
Wenn der Krieg in der Ukraine schon lange beendet sein wird, werden wir an dem geschwundenen Ansehen noch lange zu knabbern haben.
Starke Meinungen: War die Reise von Friedrich Merz nach Kiew der richtige Schritt und hat er dort den richtigen Ton getroffen?
Radtke: Ich glaube schon, dass er dort den richtigen Ton getroffen hat. Der eine oder andere wird vielleicht überrascht gewesen sein, weil Herr Merz sich vor Ort sehr empathisch gezeigt hat. Ich glaube, man hat ihm in den Statements, in den Bildern die Erschütterung über seine Eindrücke in der Ukraine angemerkt.
Unter dem Strich aber ist es traurig, dass der Oppositionsführer eine solche Reise machen muss, weil die Regierungsspitze nicht willens ist, eine solche Reise zu unternehmen und sich hinter einer angeblichen Ausladung von Herrn Steinmeier versteckt, die ja in Wahrheit gar keine Ausladung war. Vielmehr wollte sich Herr Steinmeier gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen sozusagen selber einladen. Niemand hat ihn wirklich formal ausgeladen.
Starke Meinungen: Wird die innenpolitische Kritik am Kurs des Bundeskanzlers in den anderen EU-Staaten wahrgenommen und nicht ganz Deutschland mit diesem gleichgesetzt? Etwa die voranpreschendere Haltung der Grünen oder der Einsatz von Frau Strack-Zimmermann?
Radtke: Absolut. Sowohl in der Kommission und im Rat wird gesehen, wie unterschiedlich die Performance und die Stoßrichtung innerhalb der Bundesregierung sind und dass das Problem vor allem bei Herrn Scholz und bei der SPD liegt.
Ich finde, auch als Christdemokrat muss man einmal anerkennen, dass die Performance, die gerade Baerbock und Habeck in dieser Bundesregierung abliefern, wirklich beachtenswert und großes Kino ist. Das sorgt zumindest dafür, dass die deutsche Reputation international nicht vollends ramponiert ist, sondern dass es auch Lichtblicke gibt.
Starke Meinungen: Neben dem inhaltlichen Voranpreschen zeichnen sich Baerbock und Habeck durch einen sehr offenen Kommunikationsstil aus. Besonders Habeck nimmt die Menschen gewissermaßen beim Denken mit. Das wirkt wie eine neue Generation politischen Sprechens. Dieses altherbrachte Bestreben, möglichst wenig zu sagen oder in Floskeln zu sprechen, wirkt aus der Zeit gefallen, womit ich auf den Beginn des Gesprächs zurückkomme. Auch Sie haben vor allem auf Twitter einen direkten und leidenschaftlichen Kommunikationsstil, den man wiederum getreu dem Ruhrgebiet als „hart, aber herzlich“ bezeichnen kann. Kommt das bei den Bürgern an?
Radtke: Ja und nein. Es gibt Parteifreunde, die nicht alles so witzig finden und fragen, ob das jetzt wieder sein musste? Aber Sie haben meine Herkunft ja benannt. Das ist der Kommunikationsstil bei uns im Ruhrgebiet. Hier sind die Leute nun einmal so. Man redet nicht so sehr um den heißen Brei herum.
Für mich ist Herrn Habecks Ministerkommunikation mittlerweile echter Goldstandard. Ich bin niemand, der seine Abende gerne damit verbringt, sich politische Talkshows anzuschauen. Auch weil mir an vielen Stellen die klaren Botschaften fehlen. Habeck finde ich allerdings super, weil er deutlich macht, dass nicht alles nur schwarz-weiß ist, sondern dass es unterschiedliche Optionen gibt und man sich mit den Entscheidungen nicht leichttut. Eine ehrliche Kommunikation ist unglaublich wichtig. Bei den schwierigen Entscheidungen gerade in der jetzigen Situation sollte man erst gar nicht den Eindruck erwecken, als sei das einfach und locker-flockig.
Ich sage es ganz ehrlich: wir haben die Bundestagswahl als CDU auch deshalb nicht gewonnen, weil wir Defizite bei der Kommunikation hatten. Man sollte nicht zu eitel sein, von anderen zu lernen. Das heißt nicht, dass man andere kopieren muss. Aber wir können noch einiges dazu lernen. Das muss auch unser Anspruch sein, wenn wir im Bund wieder in die Erfolgsspur zurückwollen.
Starke Meinungen: Vielen Dank für das Gespräch!
Wenn die Interviewerin jemanden, der sich gerne „mit Schmackes“ auf Twitter äußert, nach „der Performance von Bundeskanzler Schoz“ befragt, ist eigentlich schon alles gesagt.