Kardinal Reinhard Marx lehnt den Begriff „christliches Abendland“ ab, da selbiger inzwischen „vor allem ausgrenzend“ sei. Doch sollte man diese tradierte Bezeichnung nicht vorschnell den Neurechten überlassen. Vielmehr ist eine zeitgemäße pluralistische Konnotation des „christlichen Abendlands“ angezeigt, die auch dessen historische Licht- wie Schattenseiten im Blick hat.
Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, hat sich kürzlich bei einer Diskussion mit dem Publizisten Michel Friedman im Berliner Ensemble gegen den Begriff „christliches Abendland“ ausgesprochen. Wörtlich sagte er: „Davon halte ich nicht viel, weil der Begriff vor allem ausgrenzend ist“. So werde die „große Herausforderung, in Europa dafür zu sorgen, dass verschiedene Religionen mit jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen friedlich zusammenleben“, verkannt. „Ein friedliches Europa“ sei „kein Selbstläufer“.
Erwartungsgemäß hat diese Äußerung sowohl in sehr konservativen christlichen Milieus als auch solchen mit Rechtsdrall zu erheblicher Empörung geführt. Namentlich für Letztere ist Marx schon länger ein Feindbild, weil er als zu liberal erachtet wird. Unabhängig davon ist allerdings in der Tat fraglich, ob Marx, wenn auch aus edlen Motiven heraus, hier den Bogen überspannt hat.
Ablehnung des Begriffs „christliches Abendland“ als inhaltlicher wie strategischer Fehler
Angeregt durch ein Interview mit dem Kölner „Domradio“ hat sich die Verfasserin dieses Textes näher mit dieser Frage beschäftigt und ist zu dem Schluss gekommen, dass Marx nicht nur inhaltlich falsch liegt, sondern auch einen strategischen Fehler begeht.
Verblüffenderweise hat ausgerechnet der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der durchaus schon mit kritikwürdigen Äußerungen zum Islam aufgefallen ist, die Problematik gut auf den Punkt gebracht, als er ebenfalls im Gespräch mit dem „Domradio“ darauf hinwies, dass die Deutungshoheit über den Terminus „christliches Abendland“ nicht denjenigen überlassen werden dürfe, „die nationalistische Interessen damit verbinden, die zutiefst einer katholischen Universalität widersprechen“.
Kaperung des Begriffs „Abendland“ durch Pegida und andere neurechte Strömungen
In der Tat versuchen sich neurechte Kräfte seit einigen Jahren daran, den Begriff „Abendland“ zu kapern, allen voran die „Pegida“-Bewegung, deren Name ein Akronym für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands“ ist. Zwar verwendet „Pegida“ den Zusatz „christlich“ nicht in ihrem Namen, jedoch wurden bei ihren Demonstrationen schon Weihnachtslieder gesungen oder Kreuze in schwarz-rot-gold mitgetragen.
Auf diese Weise wird das Christentum in ein politreligiöses Abwehrbollwerk gegen den Islam verdreht, und zwar in entweder völliger Verkennung oder bewusster Ablehnung der Haltung beider Großkirchen, die zwar die Eigenständigkeit des Christentums betonen und gerade keinen Synkretismus, also keine Religionsvermischung mit dem Islam befürworten, sehr wohl aber für einen respektvollen und konstruktiven Dialog mit Muslimen eintreten.
Einen weltweiten Maßstab insoweit hat die Katholische Kirche mit der im Zuge des Zweiten Vatikanums verabschiedeten „Nostra Aetate“-Erklärung gesetzt. In dieselbe Richtung geht der aktuelle EKD-Grundlagentext mit dem Titel „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“ aus dem Jahre 2015. Beide Schreiben entsprechen also der Forderung von Kardinal Marx, wonach „verschiedene Religionen mit jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen friedlich zusammenleben“ müssen.
Das „Abendland“ nicht den Neurechten überlassen
Es spricht viel dafür, die Deutungshoheit über das „christliche Abendland“ mit Bischof Voderholzer nicht einfach den Neuechten zu überlassen. So viel Diskursmacht ist namentlich der Pegida-Bewegung nicht zuzubilligen.
In diesem Zusammenhang ist auch an den letztjährigen Kreuzerlass für bayerische Behörden durch den damaligen bayerischen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Markus Söder zu denken. Söder hatte damit das Kreuz, wie hier und hier näher kommentiert, zugleich profanisiert und als ausgrenzenden Identitätsmarker gegenüber dem Islam instrumentalisiert. Wer das damals abgelehnt hat, sollte nun nicht einfach zusehen, wie neurechte Kräfte den Begriff des „christlichen Abendlands“ für ihre Zwecke instrumentalisieren. Statt ihnen dabei ratlos und kopfschüttelnd zuzusehen, ist Widerspruch angezeigt und darum zu ringen, den Begriff eigenständig zu konnotieren und dabei auch pluralistische Aspekte einfließen zu lassen.
Gängige Konnotation des Begriffs „christliches Abendland“
In den letzten Jahrzehnten war das „christliche Abendland“, wenn auch mit Unterschieden im Detail, in erster Linie eine Chiffre für die den heutigen europäischen Kontinent prägende Synthese aus Antike, Aufklärung und Christentum. Damit drückte der Terminus zwar auch einen Gegensatz zum islamischen Kulturraum, also den „Orient“ aus, das aber beschreibend und nicht normativ-ausgrenzend. Für Konrad Adenauer stand der Begriff zudem für den Gegensatz zum totalitären Block der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten.
Gewiss, das „Abendland“ wurde auch früher schon von kulturpessimistischen Rechtsintellektuellen für sich reklamiert, besonders prominent im Titel des 1918 erschienenen Buchs „Der Untergang des Abendlands“ von Oswald Spengler. Und nach 1945 entstand in Westdeutschland die katholisch geprägte „Abendlandbewegung“, die antiliberale sowie antiparlamentarische Tendenzen hatte und Sympathien für den spanischen Diktator Franco zeigte. Diese Strömung blieb jedoch bedeutungslos, was ebenfalls dafür spricht, ihrer Begriffsaneignung nicht zu einer späten Renaissance zu verhelfen und damit, wenn auch ungewollt, den heutigen Neurechten bei deren Ziel der Diskursverschiebung sogar einen Dienst zu erweisen.
Gegenstrategien gegen die neurechte Diskursverschiebung mit ihrem Fokus auf das „Overton-Window“
Wer sich mit der neurechten Strategie der Diskursverschiebung beschäftigt, weiß, dass diese im Kern aus zwei Elementen besteht. Zum einen geht es, wie hier näher beschrieben, darum, das sogenannte „Overton-Fenster“, also den gerade noch allgemein für akzeptabel befundenen „Meinungskorridor“ nach rechts zu verschieben und so nach und nach selbst Begriffe wie „Bevölkerungsaustausch“, „Volkstod“ oder „Remigration“ zu normalisieren. Zum anderen besteht die Strategie darin, eigentlich unproblematische Begriffe zu kapern und ausgrenzend, nicht selten auch völkisch aufzuladen. Beispiele dafür sind etwa Termini wie „Heimat“ und „Patriotismus“.
Während der Normalisierung rechten Vokabulars durch konsequente Aufklärung über die dahinter stehenden Konzepte zu begegnen ist, ist der Kaperung tradierter Begriffe von rechts die Beibehaltung der geläufigen Konnotation, ergänzt um eine dem Zeitalter des Pluralismus entsprechenden Interpretation entgegenzusetzen, die sich differenziert mit dem beschäftigt, was die jeweiligen Bezeichnungen alles umfassen.
Wer heute vom „christlichen Abendland“ im Sinne des christlich geprägten Okzidents spricht und mit Recht dabei auch an den großen Einfluss der biblischen Geschichten auf die Hochkultur und die Künste, allen voran die Malerei und Musik denkt, sollte folglich nicht unter den Tisch fallen lassen, dass im Laufe der europäischen Geschichte das Christentum allerdings auch nicht selten politisch und für kriegerische Zwecke instrumentalisiert wurde und ebenso wenig, dass sich namentlich die Katholische Kirche erst Mitte des 20. Jahrhundert zur Anerkennung der Religionsfreiheit durchgerungen hat, und zwar mit der ebenfalls im Zuge des Zweiten Vaticanums verabschiedeten „Digntias Humanae“-Erklärung (1965). Nicht zu unterschlagen ist zudem der sich gerade in Deutschland durch die Jahrhunderte ziehende Antijudaismus zahlreicher Christen einschließlich ihrer Greueltaten gegenüber Juden, was, wie Alan Posener ausführt, den Begriff des „christlich-jüdischen Abendlands“ so problematisch macht.
Wie das „christliche Abendland“ pluralistisch zu verstehen ist
Eine der Realität entsprechende Bezugnahme auf das „christliche Abendland“ in seiner heutigen Form muss also sowohl dessen historisch helle wie dunkle Seiten im Blick behalten und darf das „Christliche“ nicht als ausgrenzenden Identitätsmarker verstehen. Vielmehr ist von der Freiheit eines Christenmenschen ausgehend auch der politischen wie gesellschaftliche Pluralismus zu betonen und sich im Umgang mit anderen Religionen an den erwähnten Positionen der beiden großen Kirchen orientieren.
Gibt man hingegen den Begriff „Abendland“ ganz auf, so stellt sich die Frage, was an dessen Stelle treten soll. Diese Frage müsste sich auch Kardinal Marx stellen, der wenige Tage nach seiner terminologischen Kritik in Berlin bei einem politischen Empfang des Bistums Dresden-Meißen und der Katholischen Akademie des Bistums in Dresden betonte, dass „die Botschaft der Heiligen Schrift von der Würde und der Gleichheit aller Menschen“ ein Grundfundament sei, „ohne das wir uns die westliche, christlich geprägte Kultur nicht vorstellen können“. Viel gewonnen ist mit einer solchen Ersetzung des „christlichen Abendlands“ durch die „westliche, christlich geprägte Kultur“ indes nicht, was man etwa darin sieht, dass der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán das „christliche Europa“ zu einem Kampfbegriff im angeblichen Überlebenskampf mit dem Islam gemacht hat.
Kardinal Marx zeigt, wie man den Begriff „Patriotismus“ nicht den Neurechten überlasst
Wie es anders geht, machte der Kardinal selbst bei der zitierten Rede in Dresden am Beispiel des „Patriotismus“ und damit bei einem Begriff vor, den wie erwähnt auch die Neue Rechte gerne in ihrem Sinne auflädt. Marx forderte vor diesem Hintergrund zutreffend Folgendes:
„Deshalb brauchen wir einen neuen Patriotismus, keinen Nationalismus, sondern ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das nicht ausgrenzt. Wir brauchen einen Patriotismus der Solidarität, der verwurzelt ist im Eigenen und der offen ist für das, was an neuen Herausforderungen auf uns zukommt. Wir brauchen einen weltoffenen Patriotismus, der nicht nur auf unser Land schaut, sondern auch auf Europa und die Welt. Gerade so wird das Geschenk der Demokratie gesichert.“
Mit einem solchen Ansatz auch beim „christlichen Abendland“ könnte der Kardinal nicht zuletzt vielen seiner Kritiker den Wind aus den Segeln nehmen.
Auch wenn ein Kardinal Marx den Begriff „Christliches Abendland“ benutzte, schaudert mich bei diesem Begriff und dem, was sich prioritär damit verbindet: der unendlich viel ältere, aggressive und vernichtende Hass auf die Juden, ihre Vernichtung im mittelalterlichen Spanien; der an Widerwärtigkeit kaum zu überbietende Antisemit Luther (dazu der Essay in dieser wichtigen Reihe querer Meinungen!), der im Lutherjahr wo ich lebe – in Süddeutschland – verdrängt wurde. Nicht der Islam hat ihn erfunden im Orient! Dieses christliche Abendland hat die „Zigeuner“ erfunden (- dazu das brillante Buch von Klaus-Michael Bogdal „Europa erfindet die Zigeuner“) ; es erfand den „Neger“, in Afrika, generell in den Kolonien, gleich welcher Hautfarbe, der zwangsgetauft wurde, bevor er in den Silberminden von Potosi verreckte oder als Sklave auf den Feldern der christlichen bestialischen Herren, von Jamaika über Missouri bis zum Apartheid Südafrika. Das Christentum war die Vorhut des Kolonialismus und essentiell für die Domestizierung der „Unterentwickelten und Primitiven“ in der gesamten Dritten Welt und für die Indigenen Australiens und New
Zealands und Canadas. Die Kardinäle und Bischöfe – um in die heutige Zeit zu gehen – brachten Franco und Salazar an die Macht und hielten sie dort; ie empfingen den Massenmörder & Diktator Pinochet sonntags in Santiago de Chile zur Messe, segneten die Generäle der argentinischen Junta, knutschten das Diktatorenpaar auf den Phillippinen, die katholischen afrikanischen Plünderer & Masssenmörder in Zaire, Togo, Cote d’Ivoire und und…. Wann haben Kardinäle wie Marx & Co dafür jemals eine Träne vergossen, ein Wort der Scham formuliert? Die Diener Gottes haben Jahrhundertelang die Zigmillionen Tonnen Waffen gesegnet des christlichen Adels, der Nazirüstungsbarone. Seitenweise ließen sich die Barbareien dieses CA weiter ausführen, undwann bitte standen sie auf der Seite der Aufklärung? Auf der Seite der Gewerkschaften, der rebellierenden verelendeten Bauern? Wer hat die Befreiungstheologen in Lateinamerika vernichtet? Der Mann hieß Ratzinger und vertrat die Herrschenden weltweit als Gabe Gottes. Nein, ich brauche diesen Begriff von den Neurechten, Altrechten nicht und von Marx & Co nicht.