avatar

Luthers judenfeindliches Testament

Ein Gastbeitrag von Stefan Weinert

„Und der Teufel, Luthers Teufel, Faustens Teufel, will mir als eine sehr deutsche Figur erscheinen, das Bündnis mit ihm, die Teufelsverschreibung, um unter Drangabe des Seelenheils für eine Frist alle Schätze und Macht der Welt zu gewinnen, als etwas dem deutschen Wesen eigentümlich Naheliegendes.“ (Thomas Mann)

Teil A

Die Ideologie der Judenfeindschaft, die in Manifesten und Pamphleten seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts massenhaft zirkulierten (z. B. durch Karl Eugen Dühring mit seinen rassistischen Verschwörungsphantasien, oder Otto Glagau mit seiner Denunziation im populären Wochenblatt „Die Gartenlaube“, wo er den Juden Schuld an der wirtschaftlichen Misere von 1873, dem „Gründerkrach“ gab), war eine Bewegung der Abwehr gegen die Moderne. In vielen Traktaten wurden simple Welterklärungen für schlichte Gemüter geboten, in denen die Juden als Sündenböcke Schuld für alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zugewiesen bekamen.  Auch Richard Wagner in seinem Essay „Das Judentum in der Musik“ und sein Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain mit seiner Kulturphilosophie „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ beeinflussten das Bildungsbürgertum nachhaltig gegen die Juden, die als kulturell unfähig und rassisch minderwertig verunglimpft wurden.

Heinrich Graetz, ein jüdischer Historiker,  beklagte 1853 unter Hinweis auf eine große Zahl antijüdischer Autoren, die sich auf Luther berufen hatten, dieser habe „mit seinem judenfeindlichen Testament die protestantische Welt auf lange Zeit hinaus vergiftet“. Reinhold Lewin, ebenfalls ein jüdischer Historiker war 1911 zu der Einschätzung gelangt: „Die Saat des Judenhasses, die er darin ausstreut, (…) wirkt noch lange durch die Jahrhunderte fort; wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.“

Während der vier Jahre des Ersten Weltkrieges wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutschland weiter verstärkt. Ungeachtet der Tatsache, dass die deutschen Juden die Kriegsbegeisterung des Sommers 1914 teilten und dass die Zahl der jüdischen Freiwilligen überdimensional – gemessen am jüdischen Bevölkerungsanteil – groß war, fand das Gerücht von der „jüdischen Drückebergerei“ bei der deutschen Bevölkerung großen Widerhall.  Dazu passte dann auch das antisemitisches Stereotyp vom Juden als dem „geborenen Wucherer und Spekulanten“, der sich als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereichert. In zahlreichen Schriften wurden diese Klischees verbreitet. So etwa in einem Flugblatt, das im Sommer 1918 kursierte, auf dem es hieß: „Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht.“ Entgegen der Wahrheit hielt die Mehrheit der Deutschen an ihrem negativen Judenbild fest.

Nach dem Ersten Weltkrieg kamen Rassismus und antisemitische Propaganda zur weiter erhöhten Blüte. Die Ängste deklassierter Kleinbürger und verletzter deutscher Nationalstolz machten „den Juden“ zum Schuldigen. In den Werken zur Rassenkunde eines Hans F. K. Günther ging in den 20er Jahren die Saat des 19. Jahrhunderts wieder auf und bereitete die Wege für politische Agitation. Am weitesten verbreitet waren Günthers „Rassenkunde des deutschen Volkes“ (München 1922, 16. Auflage 1933), seine „Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes“ (München 1929) und die „Rassenkunde des jüdischen Volkes“ (München 1930). Mit solchen „wissenschaftlichen“ Schriften wurde die Bahn geebnet für Schmähschriften gegen „die Juden“, mit denen rechtsradikale Parteien wie die NSDAP auf Stimmenfang gingen.

Allerdings war all’ das bis zu diesem Zeitpunkt und das, was noch folgen sollte, nur möglich geworden und würde möglich werden, weil die „Schicksalsstunde zur Abkehr vom Antijudaismus und Antisemitismus“ von Martin Luther bewusst nicht genutzt wurde. Nicht der wieder aufkeimende Antisemitismus im Kaiserreich  und der sich zuspitzende Judenhass während der Weimarer Republik, waren die primären Wegbereiter zum Holocaust des 20. Jahrhunderts, sondern sie waren lediglich die logische Folge eines während der Reformation eingepflanzten  „antijüdischen Genoms“ in die deutsche und dort in die lutherische Seele. Nun ging die Saat auf, deren Pflege und Ausbringung Luther 400 Jahre zuvor hätte verhindern können.

Der Antisemitismus diente den Nationalsozialisten als Erklärungsmuster für alles nationale, soziale und wirtschaftliche Unglück, das die Deutschen seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg erlitten hatten, und Antisemitismus war das Schwungrad, mit dem Hitler seine Anhänger in Bewegung brachte. Die Überzeugungen, die in Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen waren, die von ihm und seinen Unterführern seit den Anfängen der Partei gepredigt wurden und in der Forderung nach „Lösung der Judenfrage“ kulminierten, gingen letztlich nicht auf die Erkenntnisse und Behauptungen der antisemitischen Sektierer und Fanatiker des 19. Jahrhunderts zurück, sondern auf Dr. Dr. Martin Luthers „Judenschriften“, wie wir noch sehen werden.

Im Programm der völkischen und nationalistischen Parteien der Nachkriegszeit, vor allem der NSDAP ab 1920 und in der Deutschnationalen Volkspartei bildete Antisemitismus das ideologische Bindemittel, mit dem Existenzängste und Erklärungsversuche für wirtschaftliche und soziale Probleme konkretisiert wurden, um republik- und demokratiefeindliche Verzweifelte als Anhänger zu gewinnen.

Im Programm der NSDAP waren seit 1920 folgende Lehr- und Grundsätze des Antisemitismus fixiert (Luther und die AfD lassen grüßen): „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ – „Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muss unter Fremdengesetzgebung stehen.“ – „Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen.“ – „Jede weitere Einwanderung Nichtdeutscher ist zu verhindern. Wir fordern, dass alle Nichtdeutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden.“

Mit dem Machterhalt der NSDAP wurde der moderne Antisemitismus 1933 Staatsdoktrin. Durch Akte wie das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (1933), das Juden aus dem öffentlichen Dienst entfernte, und vor allem die „Nürnberger Gesetze von 1935, die alle deutschen Juden zu Staatsangehörigen minderen Rechts machten, wurde die rassistische Ideologie mit Berufsverboten und unzähligen administrativen Schikanen in die Tat umgesetzt. Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 war ein erster Akt staatlich legitimierter Ausgrenzung. Der zweite Gewaltakt, die „Reichskristallnacht“ 1938 (Novemberpogrome), bezeichnete das Ende der Judenpolitik, die mit Mitteln der Gesetzgebung und Verwaltung darauf zielten, die Juden aus Deutschland zu vertreiben, nach dem sie entrechtet und ausgeplündert waren. Die Novemberpogrome sind die Wegmarke, von der an, mit den Stufen der Einführung von Ghettos, der Konzentrierung und Stigmatisierung, die physische Vernichtung der Juden vorbereitet und umgesetzt wurde. Der Verpflichtung zur Zwangsarbeit, der Kennzeichnung (Judenstern ab September 1941) und dem Verbot der Auswanderung folgte die „Endlösung der Judenfrage“, die als Völkermord 1941-1945 im ganzen deutschen Herrschaftsbereich die letzte Konsequenz der Ideologie des Antisemitismus bildete (Aktion T4).

 Teil B

Theodor Fritsch veröffentlichte 1887 einen „Catechismus für Antisemiten“, der 1943 unter dem Titel „Handbuch der Judenfrage“ die 49. Auflage erreichte (330.000). Auf 650 Seiten folgt hier eine antisemitische Äußerung nach der anderen. Im Vorwort und in der Einführung zur 49.ten Auflage im Jahre 1943 heißt es: „Kampf des Neuen Deutschlands um die Gewinnung und Sicherung der Rassereinheit und arteigenen Volks Schöpfung haben die „Nürnberger Gesetze zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Art“, gegeben am Reichsparteitag 1935, ein vorläufiges Ziel gesetzt. Die Entjudung des öffentlichen Lebens, der Politik, Kultur und Wirtschaft im Deutschland Adolf Hitlers hat in der ganzen Welt größte Beachtung gefunden. Die mit allen Mitteln wühlende Hetze des Judentums gegen Deutschland und alle judengegnerischen Bestrebungen machen es notwendig, mehr denn je die Aufklärung der Völker über diese Grundfrage ihres Bestandes zu fördern. Vom Deutschen geschaffen und von der Betrachtung deutscher Dinge ausgehend, ist daher das „Handbuch der Judenfrage“ gerade in der Gegenwart zu einer unentbehrlichen Geisteswaffe gegen die jüdische Weltpest geworden  … Die judengegnerische Bewegung, die in Deutschland in richtiger Erkenntnis der Zusammenhänge durch Adolf Hitler 1933 zum Siege geführt wurde, hat eine jahrhundertealte literarische Vorgeschichte. Man kann von einem Quell sprechen, der durch die Zeiten zu einem unüberwindlichen Strom angewachsen ist. Am Anfang steht Martin Luthers Schrift  „Von den Juden und ihren Lügen“, in der er mit der harten, oft unerhört derben Sprache seiner Zeit das Judentum anprangert.

Bevor Hitler sein Buch „Mein Kampf“ schrieb, hatte er diesen „Catechismus“ als sein geistiges Rüstzeug gelesen, und dieses findet sich auch in seinem „literarischen Lebenswerk“ und auch in seiner Weltanschauung vollends wieder. Seit seiner Inhaftierung in Landsberg 1924 waren dem zukünftigen „Führer“ die Elemente von progermanisch-arischer, rassisch-antisemitischer und rassenhygenischer Gedanke zur nicht mehr revidierenden Heilsgewissheit geworden. Hitlers Bild vom Juden aber war letztlich ein aus Mythen, Vorurteilen, Verunglimpfungen und pseudo-philosophischen-theologischen Fachaufsätzen zusammen gewürfeltes Mosaik. Sein Antisemitismus war eine eklektische und synkretistische „Sublimierung“, für die er in den Jahren bis 1945 folgerichtig immer nur Bestätigungen erhielt – auch von und durch den „großen Mann und Riesen“  Martin Luther.

Anfang der zwanziger Jahre hatte Hitler mit den Chefredakteuren des „Völkischen Beobachters“, Dietrich Eckart und Alfred Rosenberg, zwei Berater an seiner Seite, die Luther gerade wegen seines Kurswandels vom Judenfreund zum Judenfeind bewunderten. Und bereits in seiner Nürnberger Parteitagsrede von 1923 und ein Jahr später in „Mein Kampf“ brachte Hitler seine Wertschätzung Luthers zum Ausdruck, in dem er den „großen Reformator“ würdigte und in eine Reihe mit Friedrich dem Großen und Richard Wagner als herausragenden Deutschen stellte. Nicht aber wegen dessen Bibelübersetzung und  Schaffung einer einheitlichen deutschen Sprache, sondern seines „Wandels vom Judenfreund zum Judenfeind“ wegen.  Und natürlich finden sich auch in dem „Handbuch der Judenfrage“ Luthers antisemitische und judenfeindliche Äußerungen wieder  (siehe oben).

Auch innerhalb der evangelischen Kirche wuchs in den zwanziger Jahren die Zustimmung zur antisemitischen Bewegung. Der spätere bayerische Landesbischof Hans Meiser, ein Mitglied der „Bekennenden Kirche“, veröffentlichte als Direktor des evangelischen Predigerseminars 1926 den Aufsatz „Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage“. Darin fordert er Maßnahmen zur Zurückdrängung des jüdischen Geistes im öffentlichen Leben und zur Reinhaltung des deutschen Blutes. „Gott hat jedem Volk seine völkische Eigenart und seine rassischen Besonderheiten doch nicht dazu gegeben, damit es seine völkische Prägung in rassisch unterwertige Mischlingsbildungen auflösen lässt.“

Der aktuell sehr bekannte Wahlforscher Jürgen Falter ermittelte in einer Untersuchung, dass die NSDAP ihre Siege im April und November 1932 den evangelischen Wählern verdankte. Von ihnen hatte sich jeder Zweite für Hitler entschieden, von den Katholiken dagegen nur jeder Fünfte. Die Katholische Kirche hatte eine wesentlich größere Distanz zur NSDAP. Sie hatte im Jahr 1930 ihren Mitgliedern verboten, der NSDAP beizutreten, und den Nationalsozialisten die Sakramente, zum Beispiel Taufe und Hochzeit, verweigert. In einem Hirtenbrief von 1932 vor den Reichstagswahlen, rief die Katholische Kirche  ihre Gläubigen dazu auf, nur christlich orientierte Politiker und Parteien zu wählen.

Im Vorwort seiner Schrift „Martin Luther und die Juden – weg mit ihnen!“ äußerte sich der evangelische Bischof Sasse so: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen (…). In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutsche Prophet im 16. Jahrhundert einst aus Unkenntnis als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“

Als der Judenstern 1941 Pflicht wurde, begrüßten acht norddeutschen Landeskirchen der „Deutschen Christen“ dies mit folgender Erklärung: „Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der unter anderem die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat. Wie schon Dr.  Martin Luther nach bitteren Erfahrungen die Forderungen erhob, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen, und sie aus deutschen Landen auszuweisen.“ Dass sich die Nationalsozialisten auf Luther als „Kronzeugen“ ihres Antisemitismus bezogen haben, wird schließlich in einer Erklärung deutlich, die Julius Streicher am 29. April 1946 bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen abgegeben hat: „Dr.  Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch („Die Juden und ihre Lügen“) in Betracht gezogen würde.“

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top