Aus der Politik kennt man das Phänomen, dass degradierte Politiker sich in den Schmollwinkel zurückziehen und alles, was sie zuvor vollmundig vertreten haben, als schädlich verdammen. Wir lernen: Auch in der Politik ist Rache süß. Die Herren Friedrich und Ramsauer (CSU) gehören zu dieser Spezies. Dann gibt es noch Norbert Röttgen (CDU), der ganz anders auf die Herabstufung durch Angela Merkel reagiert. Er ist heute Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des deutschen Bundestages, was kein unwichtiges Amt ist. Von Schmollen keine Spur! Er geriert sich vielmehr als beflissener Adlatus der Kanzlerin und glühender Verfechter ihrer Griechenland-Rettungspolitik. Sein Engagement wirkt so, als wolle er seinen Bedeutungsverlust durch Übermotivation kompensieren.
In der FAZ schrieb er am 15. 08. 2015 einen Artikel, der ein bemerkenswertes Geständnis enthält, um das sich die Kanzlerin bisher immer schamhaft herumgedrückt hat. Röttgen schreibt: „…die Möglichkeit, irgendeinem Mitglied den Euro zu nehmen, besteht nicht. Der Euro ist unumkehrbar…“ – „Die neue gemeinschaftliche Souveränität kennt schon rechtlich keinen Austritt, geschweige denn einen Ausschluss.“ War Schäubles Drohung mit dem Grexit auf Zeit also nur ein Scheingefecht, um der skeptischen Öffentlichkeit deutsche Härte vorzuführen? Gepolter als Show? Wenn es einem Land, das wirtschaftlich und finanziell am Boden liegt, unmöglich ist, aus dem Euro-Verbund auszuscheiden, heißt das im Klartext, dass die Solidargemeinschaft der Euro-Staaten alle Finanzmittel aufwenden muss, die nötig sind, den taumelnden Staat zu sanieren – zeitlich unbegrenzt und ohne finanzielles Limit. Dann hätten wir genau das, was die Regierung immer vehement abgestritten hat: eine europäische Haftungs- und Transfergemeinschaft. Im Grund muss die deutsche Öffentlichkeit Röttgen dafür dankbar sein, dass er diese Katze aus dem Sack gelassen hat.
Natürlich ist Röttgen klar, was er mit der Feststellung der zwangsläufigen, unbegrenzten Haftung für Staaten am Abgrund angerichtet hat. Deshalb bemüht er sich geflissentlich, zu versichern, die Unumkehrbarkeit der Euro-Zugehörigkeit sei „kein Freibrief für politische Erpressung“. Dies ist reine Rhetorik, die durch die Realität ständig widerlegt wird. Hätten sich Europäische Kommission und Europäischer Rat nicht lauthals für Griechenlands Verbleib im Euro verbürgt, hätten die Finanzmärkte ihren Daumen über dem Land, das total am Boden liegt, längst gesenkt. Wer außer Euro-Idealisten wie Jean Claude Juncker traut den Hasardeuren um Alexis Tsipras noch zu, das für Griechenlands Konsolidierung Nötige zu tun? Wieso sollte er in Zukunft die Auflagen erfüllen, die er Monate lang als „würdeloses Diktat“ der EU bekämpft hat? Im Grunde hat die Erpressung durch die linksradikale griechische Regierung fabelhaft funktioniert. Tsipras hat in Windeseile kapiert, wie das System funktioniert. Er hat gepokert und das Spiel gewonnen. Er bekommt 86 Milliarden neue Kredite, die Reformauflagen müssen zuerst noch die parlamentarische Hürde nehmen, was in Griechenland immer bedeutet, dass sie verwässert, verzögert oder sabotiert werden. Außerdem ist der strengste „Aufseher“, der Internationale Währungsfonds (IWF,) nicht mehr mit im Boot, was der griechischen Regierung sicher sehr gelegen kommt. Da Tsipras am 20. September in Griechenland neu wählen lassen will, steht außerdem in den Sternen, ob er nach der Wahl über eine handlungsfähige Parlamentsmehrheit verfügen wird. Aber die Hilfsgelder sollen fließen – sofort.
Röttgen weiß natürlich, dass die Erpressung durch Staaten, die in die Krise schlittern, ständig stattfindet. Vor Wahlen drohen ihre Regierungen damit, dass europafeindliche Parteien an die Macht kommen könnten, wenn die Sparauflagen aus Brüssel nicht gelockert werden. Oft liegt die Erpressung schlicht darin, dass einige Staaten sich weigern, die Reformen durchzuführen, die eine nachhaltige Gesundung ihrer Volkswirtschaften bewirken könnten. Wenn man hartnäckig genug ist, diese Tunix-Haltung durchzuhalten, wird man zumindest damit belohnt, dass man die Defizitkriterien des Maastricht-Vertrages ungestraft überschreiten darf – jahrelang. Frankreich hat vorgemacht, wie das geht.
In seinem Artikel nährt Röttgen die Illusion, die Regierungen der Krisenstaaten würden aus Einsicht in die „europäische Solidarität […] ihre Sichtweise auf entscheidende Herausforderungen und Probleme verändern“, sprich: die Reformen durchführen, die im Sinne der Stabilität der Euro-Zone notwendig wären. Dies ist leider reines Wunschdenken. Die Regierungen der europäischen Staaten werden durch ihre Völker in Wahlen ins Amt gebracht. Deshalb sind sie auch in erster Linie ihren Völkern gegenüber verantwortlich. Wie man diese Legitimation im europäischen Machtpoker ausspielt, hat doch gerade erst Alexis Tsipras – inszeniert wie ein klassisches Drama – vorgeführt. Die Regierungen der EU-Staaten werden alles tun, um ihre Macht „zu Hause“ nicht zu gefährden. Das ist auch der Grund, weshalb die beiden ökonomisch wichtigen Euro-Staaten Frankreich und Italien seit über zehn Jahren alle Reformen, die nötig wären, um ihre Volkswirtschaften wieder konkurrenzfähig zu machen und ihre Staatshaushalte zu sanieren, weitgehend verweigern. Kein noch so flammender Appell an die europäische Solidarität wird dies ändern können. Etwas anderes zu glauben, ist realitätsferne Träumerei.
Das Schlimme am europäischen Prozess ist, dass geltendes Recht nicht mehr eingehalten wird. Das wichtigste Prinzip des Maastricht-Vertrages, wonach es verboten ist, dass Staaten der EU für die Schulden anderer Staaten aufkommen müssen („Bail-out-Verbot“), ist längst durchbrochen. Der Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi finanziert ungeniert („whatever it takes“) durch sein Aufkauf-Programm für Staatsanleihen die Defizite überschuldeter Staaten. Die Maastricht-Kriterien für Haushaltsdefizit (3%) und Staatsverschuldung (60%) stehen nur noch auf dem Papier. Keiner hält sich daran, weil niemand es wagt, die Sanktionen, die für Verstöße vorgesehen sind, anzuwenden.
Einige Länder weigern sich strikt, die Flüchtlinge, die ihr Land betreten haben, zu registrieren, wie es die Dublin-Vereinbarung vorsieht. Sie winken die Flüchtlinge durch und sind froh, wenn sie in Schweden oder Deutschland landen. Wen kümmert´s? Die slowakische Regierung sortiert die ankommenden Flüchtlinge nach ihrer Religionszugehörigkeit. Die Christen dürfen bleiben, die Muslime müssen draußen bleiben. Kommentar des Regierungssprechers Metik: „Wir haben in der Slowakei überhaupt keine Moscheen, es würde ihnen hier nicht gefallen.“ Dies ist ein klarer Verstoß gegen europäisches Recht und gegen die UN-Menschenrechtscharta. Doch wen stört´s?
Ungarn entwickelt sich Stück für Stück in einen autoritär geführten Staat, in dem die verbürgten Freiheitsrechte ausgehöhlt werden. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zählt nur noch die politische Loyalität zur Regierung Orban, nicht mehr die journalistische Professionalität. Hilfsorganisationen beklagen, dass in Ungarn Flüchtlinge von der Polizei gezielt misshandelt werden, um sie abzuschrecken, im Land zu bleiben. In Rumänien hat die sozialistische Parlamentsmehrheit ein Gesetz verabschiedet, das die in Korruption verstrickten Politiker, darunter auch den Ministerpräsidenten Ponta, vor Strafverfolgung schützt. Dies ist ein Schlag ins Gesicht jeder ernsthaften Korruptionsbekämpfung.
Die Europäische Kommission ist in einen tiefen Sommerschlaf versunken und lässt den Dingen ihren unschönen Lauf.
Der ESM kennt strenge Regeln für die Vergabe von Krediten an notleidende Euro-Staaten. Sie dürfen nur vergeben werden, wenn die Stabilität der Eurozone insgesamt bedroht ist und wenn die Schuldentragfähigkeit des Schuldners gewährleistet ist. Die Konferenz der Finanzminister der Euro-Zone hat am 14. August 2015 festgestellt, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands nicht gegeben sei (Schuldenlast: 175% des BIP). Wegen der geringen Wirtschaftsleistung Griechenlands (nur 2% in der Euro-Zone) ist auch die Stabilität des Euro nicht in Gefahr. Trotzdem wird das Recht so hingebogen, dass Griechenland die Kreditsumme von 86 Milliarden Euro aus dem ESM erhält.
Die Gültigkeit von Recht und Gesetz ist für jedes Land, das in die EU strebt, eine Kardinalvoraussetzung. In einem langwierigen Verfahren wird überprüft, ob die staatlichen Institutionen so beschaffen sind, dass dieser wichtige Demokratie-Grundsatz eingehalten werden kann. Wenn die Staaten dann in der EU sind, lernen sie sehr schnell, dass es mit der Gültigkeit von Regeln im europäischen Machtpoker nicht weit her ist. Was im nationalen Kontext zu Rücktritten von Politikern oder sogar zu Strafverfolgungen führen würde, wird im europäischen Kontext augenzwinkernd als Kavaliersdelikt behandelt. Die Bürger Europas lernen daraus, dass in der EU Recht und Gesetz weniger verbindlich sind als in ihren Heimatländern – eine fatale Erkenntnis. Das dürfte der eigentliche Grund dafür sein, dass die Begeisterung für das „Projekt Europa“ bei den Völkern des Kontinents so tief gesunken ist. Der Anti-Euro-Populismus hat nicht nur finanzielle Gründe.
Ich wage folgende Prophezeiung:
Wenn sich die Eurozone nicht so reformiert, dass ein Ausscheiden eines Landes aus dem Euro möglich ist („geordnete Staatsinsolvenz“), wird es bei der nächsten Krise zu solch starken Friktionen kommen, dass die Zone von sich aus auseinanderbricht. Wenn die großen Länder Italien oder Frankreich den nötigen Reformprozess nicht bald beginnen, werden sie noch tiefer fallen und die nächsten „Pflegefälle“ und Rettungskandidaten abgeben. Spätestens dann wird die Rettung durch diverse „Schirme“ und „Pakete“ an ihre Grenzen stoßen, weil niemand in der EU die dann nötigen Riesensummen mehr stemmen kann und will. Dann wird das System auseinanderbrechen und die Staaten werden wieder zu ihren alten Währungen zurückkehren.
Ideal wären zwei Währungen, ein Euro-Nord für die Staaten, die solide wirtschaften und gut arbeitende Institutionen haben, und ein Euro-Süd für die Staaten, die unsolide wirtschaften und dysfunktionale Institutionen aufweisen. Dieses „atmende“ System von Währungen erlaubte eine Auf- und Abwertung der jeweiligen Währung entsprechend der wirtschaftlichen Lage. Ein solches System trüge der realen Wirtschaftskraft der einzelnen Staaten Rechnung und entspräche zudem der Mentalität der Völker, die man durch eine einheitliche Währung, den Euro, offensichtlich nicht „auf Linie zwingen“ kann. Dies anzunehmen, war der große Trugschluss bei der Einführung der Gemeinschaftswährung. Kohl war ein europäischer Idealist, hatte aber kaum ökonomischen Sachverstand.
Mich wundert, dass es der europäischen politischen Klasse nicht zu denken gibt, dass der Euro mehr Feindschaft zwischen den Völkern Europas gesät hat als jede andere Maßnahme der Europäischen Union zuvor. Wenn heute die Animositäten aus der NS-Zeit und dem 2. Weltkrieg wiederbelebt werden, hat dies nur eine Ursache: den Euro.
Lieber Alan,
ich glaube, dass dein Vergleich mit den USA hinkt. Denn diese sind eine Bundesrepublik, vergleichbar mit unserem politischen System in der BRD. In den USA kann in der Tat kein Staat aus dem Verbund ausscheiden, auch wenn er finanziell pleite ist. Die Staaten in Europa und auch in der Euro-Zone sind jedoch de facto selbsständig, wenn auch der europäische Rechtsrahmen schon ziemlich umfassend ist. Vor allem ist die Identität der einzelnen Länder eine nationale, wie man doch seit der Finanzkrise 2008/2009 deutlich sehen kann. Die unterschiedlichen Sprachen und auch die kulturellen Prägungen verhindern, dass Europa je ein Bundesstaat wie die USA werden kann. Um des europäischen Geistes willen, den doch alle vernünftigen Europäer erhalten und stärken wollen, sollte man deshalb einen Schritt zurück gehen.Das bedeutet: Abschaffung des Euro, Einführung zweier Währungsverbünde oder der früheren nationalen Währungen; Verständnis Europas als eines lockeren Staatenbundes, in dem „Handel und Wandel“ die Menschen (!) zusammenbringt und sie nicht durch eine Zwangswährung einander entfremdet. Dialektisch ausgedrückt: Weniger wäre mehr!
Die Alternative wäre nämlich, dass Deutschland noch stärker wird, als es ohnehin schon ist. Wenn sich Deutschland wirklich den Flüchtlingsströmen öffnet, die vor der Tür stehen, wird es von dem Braingain enorm profitieren, ökonomisch und technisch noch stärker werden und sich dadurch noch mehr Hass, Neid und Missgust der „Schwächeren“ zuziehen. Durch diesen „Schritt zurück“ würde sich auch die „heikle Mittellage“ (Münkler) besser, d.h. für die anderen Länder verträglicher, gestalten lassen.
@Alan Posener
Nachtrag:
Greece GDP Annual Growth Rate 1996-2015 | Data | Chart | Calendar
„The Gross Domestic Product (GDP) in Greece unexpectedly expanded 1.50 percent in the second quarter of 2015 over the same quarter of the previous year. GDP Annual Growth Rate in Greece averaged 1.04 percent from 1996 until 2015, reaching an all time high of 7.50 percent in the fourth quarter of 2003 and a record low of -10.40 percent in the first quarter of 2011. GDP Annual Growth Rate in Greece is reported by the National Statistical Service of Greece.“
aus:
Das das Statistische Amt in Griechenland nicht frei von Manipulationen war ist doch bereits bekannt.
Wie lautet die Überschrift des Artikels von Rainer Werner:
Regierungspropaganda
Hier noch der Ausblick der OECD:
http://www.oecd.org/eco/outloo.....ummary.htm
Und last not least aus dem Guardian:
ELSTAT warned that the flash estimate of growth in the second quarter was likely to be revised after more data had been collected.
http://www.theguardian.com/bus.....nd-quarter
Lieber Alan Posener,
so lange Sie immer noch auf “ Wachstum “ fokussiert sind, wird sich in Ihrem “ Kapitalismus “ nichts ändern.
Um es mit Bob Dylan vereinfacht zu formulieren:
https://www.youtube.com/watch?v=e7qQ6_RV4VQ
Um auf Griechenland konkret zurückzukommen:
Was wuchs denn da??
Der Finanzsektor??
… so ist es gewachsen und so wird es – friedlich, außenpolitisch neutral – zusammen wachsen. Modern. Alles andere ist Quark.
Norbert Röttgen hat in der Tat nur gesagt, was gegenwärtig in der EU die Rechtslage ist, und wenn man – wie Du, Rainer – für die Geltung von Recht und Gesetz in der EU streitet, dann muss man dankbar sein, dass dies deutlich ausgeprochen wird. Übrigens würde auch die Einführung der Möglichkeit einer geordneten Staatsinsolvenz nicht den Ausstieg aus dem Euro bedeuten; US-Bundesstaaten gehen immer wieder pleite, ohne dass sie den Dollar aufgeben.
Deine Analyse der gegenwärtigen Misere der EU ist richtig, und in der Tat ist die Währung das Hauptproblem. Die Vorstellung, die Eurozone könnte so aufgeteilt werden, wie Du es vorschlägst (eine alte Idee Hans Werner Sinns übrigens, wenn ich nicht irre), ist weltfremd. Der Euro sollte gerade und vor allem Deutschland und Frankreich aneinander ketten, nicht Deutschland und Holland oder Deutschland und Finnland. Er war und ist ein politisches, kein ökonomisches Projekt. Die Aufteilung der EU in drei Zonen: Eurozone, Südwährungszone und Zone der Euroskeptiker (darunter Großbritannien, Dänemark und Schweden sowie vermutlich Polen, also äußerst leistungsfähige Volkswirtschaften) würde dem politischen Sinn der Einheitswährung zuwider laufen.
Maastricht ist tot. Die Transferunion ist Tatsache. Wobei man mit Worten wie „dysfunktional“ vorsichtig operieren sollte: Griechenlands Volskwirtschaft wuchs trotz (?) Tsipras im vergangenen Quartal mehr als jene Deutschlands. Wie auch immer: Die Eurozone hat die Wahl: Transferunion oder Auflösung. Alle Zwischenlösungen sind nur Versuche, dieser Alternative auszuweichen.
Eine Aufspaltung des Euro in einen Nord- und einen Süd-Euro würde das Problem nur verlagern. Es bliebe weiterhin eine Währungsunion unabhängiger Staaten mit allen daraus resultierenden Problemen. Wollen wir den Euro erhalten, gelingt das nur zum Preis einer Transferunion – die wir ja praktisch schon haben. Nur heißt das jetzt noch „Rettungsschirm“. Oder die Länder der Eurozone errichten einen Einheitsstaat, was derzeit blanke Utopie ist.