Aus der Arbeitswelt kennt man das Phänomen, dass Tätigkeiten und Berufe durch Euphemismen aufgewertet werden, um sie vom vermeintlichen Stigma der „niedrigen Tätigkeit“ zu befreien. So wurde aus der Putzfrau (vulgär: Putze) die Raumpflegerin, aus dem Hausmeister der Facility Manager. Von beruflichen Zeugnissen kennt man diese Art der verbalen Aufhübschung schon lange. Wenn es im Zeugnis von einer Dame heißt, sie habe sich an ihrem Arbeitsplatz als sehr kommunikativ erwiesen, wissen erfahrene Personalchefs, was sich hinter dieser Formulierung verbirgt: Die Dame hat stundenlang mit ihren Kollegen an der Kaffeemaschine gequasselt. Die Ehrlichkeit bei beruflichen Zeugnissen war zu Ende, als Arbeitsgerichte verfügten, Abgangszeugnisse nach einer Kündigung dürften keine negativen Zuschreibungen enthalten. Plötzlich waren alle Mitarbeiter zuverlässig, eifrig, ehrlich und hoch motiviert.
Im Wirtschaftsleben sind Euphemismen üblich – zum Leidwesen der Betroffenen. Wenn man vom Vermieter die Mitteilung bekommt, die Miete müsse „angepasst“ werden, weiß der Betroffene, dass die „Anpassung“ nur eine Richtung kennt: nach oben. Bei den „Anpassungen“ der Preise ist es genauso, bei den Zinsen für Sparguthaben eher umgekehrt. Und wenn der griechische Ministerpräsident Tsipras für sein Land eine „Umstrukturierung“ der Verbindlichkeiten fordert, weiß der kundige Zeitgenosse, dass er möchte, dass ihm ein Teil der griechischen Schulden erlassen wird. Hinter dem so sachlich klingenden Wort „umstrukturieren“ ist der wahre Sachverhalt, dass Gläubiger ihr Geld verlieren, gänzlich verschwunden.
Euphemismen sind wie Viren, die alle Lebensbereiche verseuchen können. Inzwischen haben sie auch auf den Bereich der Pädagogik übergegriffen. Früher nannte man einen Schüler, der Lehrer und Mitschüler durch sein Verhalten zur Weißglut bringt, „verhaltensgestört“. Später wurde das für den Schüler unangenehme Attribut zu „verhaltensauffällig“ ermäßigt. Heute bezeichnet man einen solchen Schüler als „verhaltenskreativ“. Das früher Störende, ja Unerträgliche wird mit dieser Bezeichnung kurzerhand in einen Vorzug umdeklariert. Der Lehrer ist dann selbst schuld, wenn er mit den „kreativen“ Verhaltensweisen des Schülers nicht umgehen kann. An diesem Beispiel kann man sehen, dass es einem klug gewählten Euphemismus sogar gelingen kann, den ursprünglich gemeinten Sachverhalt völlig auf den Kopf zu stellen: Aus böse wird gut.
Natürlich haben die Euphemismen inzwischen auch die Sprache der Fußballreportage erfasst. Auch hier dienen sie dazu, ehrliche Beschreibungen sportlicher Leistungen zu vermeiden. Lieber nimmt man Zuflucht zu schwammigen Floskeln, als einem sportlichen Versager den Spiegel vorzuhalten. Wird einem Verteidiger „gesunde Härte“ attestiert, kann man davon ausgehen, dass er eher das Bein des Mitspielers trifft als den Ball. Wenn es über einen Mittelfeldspieler, der in der 60. Minute ausgewechselt wird, heißt, er sei „weite Wege gegangen“, kann man vermuten, dass er planlos über den Platz gerannt ist und keine spielerische Wirkung entfaltet hat. Bei diesen Euphemismen kann man ja noch der Meinung sein, man müsse sie tolerieren, deckten sie doch den Mantel der Nächstenliebe über erkennbare Schwächen von Fußballspielern. Fatal hingegen ist die Floskel „taktisches Foul“. Hinter der harmlos klingenden Formulierung verbirgt sich nämlich eine grobe Unsportlichkeit. Der schnelle Konter des Gegners wird mit absichtlich unfairen Mitteln unterbunden. Das Adjektiv „taktisch“ suggeriert, das Foul sei gar nicht so schlimm, weil es ja Bestandteil einer Taktik, also einer klugen Vorgehensweise, sei. Vom Fair Play, der Ursprungsidee des Sports, ist dieser Sprachgebrauch denkbar weit entfernt.
Dort, wo es aus Gründen der politischen Korrektheit opportun erscheint, wird manchmal Klartext in einer Weise vermieden, die schon komisch anmutet. Neulich war in einem Berliner Rundfunksender zu hören, die Polizei habe einschreiten müssen, um zwei Großfamilien voneinander zu trennen, die auf einem Spielplatz in Berlin-Moabit in eine Schlägerei verwickelt waren. Zwei Großfamilien? Man reibt sich verwundert die Augen. Gibt es deutsche Großfamilien, die ihre Streitigkeiten handgreiflich auf der Straße austragen? Gibt es im Zeitalter der Vereinzelung überhaupt noch Großfamilien? Der Radiosender hat das entscheidende Adjektiv weggelassen, das man nur erfahren konnte, wenn man auf der Homepage der Polizei die „Einsätze des Tages“ abrief. Es waren zwei arabische Großfamilien, die den Streit ihrer Kinder auf dem Spielplatz handgreiflich weitergeführt hatten. Kleine Weglassung – große Folgen.
Die bisherigen geschilderten Fälle von Sprachkontrolle sind noch harmloser Natur. Neulich ging ein Fall durch die Presse, der zeigt, dass Sprachwächter, wenn sie zugleich als Sittenwächter auftreten, einen schweren menschlichen Flurschaden anrichten können. Der Nobelpreisträger Tim Hunt hatte auf einem Kongress von Wissenschaftsjournalistinnen in Seoul in seine Rede eine launige Sequenz eingestreut: „Drei Dinge passieren, wenn sie [gemeint sind Frauen] im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen.“ Die Kritik an ihm war so heftig, dass er als Honorarprofessor am University College London (UCL) zurücktrat. Mich erinnert dieser Vorfall an die zentrale Stelle in dem berühmten Roman „Der menschliche Makel“ von Philip Roth. Ein Professor für klassische Philologie fragt in seinem Seminar die Teilnehmer nach zwei ständig fehlenden Kommilitonen: „Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?“ – Einige Studenten schrieben diesen Satz mit und denunzierten den Professor bei der College-Verwaltung. Der Skandal nahm seinen Lauf. Da die beiden fehlenden Studenten zufällig Schwarze waren, sollte sich der Dozent in einem peinlichen Untersuchungsverfahren für seine „rassistische Entgleisung“ („dunkle Gestalten“) rechtfertigen. Die Gleichstellungsmanie der Universität war so hysterisch aufgeladen, dass sie ein geflügeltes Wort („dunkle Gestalten, die das Tageslicht scheuen“) nicht mehr von einer realen Verunglimpfung („natürlich zwei Schwarze, was kann man von ihnen anderes erwarten?“) unterscheiden kann – oder will. Wenn solche Beispiele Schule machen, wird eine historisch gewachsene Kultur des metaphorischen Sprechens und des launigen Scherzens zerstört. Wer kann das wollen?
Zum Schluss noch einmal etwas Pädagogisches. Als ich an einer Internatsschule mit reformpädagogischer Prägung unterrichtete, erlebte ich Erwachsene, die ganz anders mit den Schülern umgingen als wir Pädagogen: Tischler- und Schlossermeister, Landwirt und Gärtner, Fährmann und Küchenfrau – sie alle betreuten die Schüler bei der praktischen Arbeit und leisteten indirekt auch Erziehungsarbeit. Sie bevorzugten die direkte Ansprache, also Klartext. Wenn ein Lehrer etwa zu einem Schüler sagte: „Peter, hättest du die Güte, das Papier wieder aufzuheben, das dir eben herunter gefallen ist?“, hieß es beim Tischlermeister: „Hebst du deinen Mist wieder auf!“ – Und siehe da: Das Verblüffende war, dass der Schüler dem Befehl sofort Folge leisteten, während er den Lehrer in eine lange Debatte über Lehrerrechte und Schülerpflichten verwickelt hätte. Die deutliche Ansprache war den Schülern nicht etwa zuwider, nein, sie verehrten den rustikalen Landwirt und die resolute Küchenfrau, weil sie – wie sie sagten – „nicht um den heißen Brei herumreden.“
Klartext hat etwas Befreiendes, es reinigt die Luft und ermöglicht es den Gesprächspartnern, sich den wirklichen Problemen zuzuwenden.
Lieber Herr Werner,
wenn es um die Beurteilung Ihrer Beiträge geht:
„Er hat sich bemüht“
Es ist wie so oft, die Dosis macht das Gift. Hier und da ist eine schöne Umschreibung Höflichkeit, auf Dauer ist es Lüge.
Mit klaren Worten ist es wie mit einem würzigem Furtz: Der eigene ist immer prima.
Also, ich war ja Schüler auf Scharfenberg, und ich habe weder den rustikalen Landwirt noch die resolute Küchenfrau „verehrt“, schon gar nicht den unflätigen Schlosser. Ich habe sie respektiert, weil uns von den reformpädogisch angehauchten Lehrern gesagt wurde, körperliche und geistige Arbeit seien gleichwertig, und Überheblichkeit verbiete sich. Wären sie ehrlich gewesen, hättten sie gesagt: „Diese Leute haben keine höhere Bildung, deshalb machen sie diese Arbeit als Beruf, während Ihr für Höheres vorgesehen seid.“ Manchmal ist es ganz gut, wenn man nicht Klartext redet.
Laut Wikipedia ist ein Euphemismus ein sprachlicher Ausdruck, der eine Person, eine Personengruppe, einen Gegenstand oder einen Sachverhalt beschönigend, mildernd oder in verschleiernder Absicht benennt.
Eigentlich ist die Bezeichnung Euphemismus selbst schon ein Euphemismus, denn dieses schöne Fremdwort verschleiert natürlich, daß gerade in der Politik und den Medien Begriffe nicht nur beschönigend, mildernd oder in verschleiernder Absicht benutzt werden, sondern zur Meinungsbildung, man denke an die Political Correctness.
Orwells Bezeichnung „Newspeak“ war eigentlich viel treffender.