„Wie hoch ist an Ihrer Schule der Ausländeranteil?“ – Diese Frage an den Direktor eines renommierten Gymnasiums im Berliner Bezirk Mitte richtete keinesfalls ein besorgter bildungsbeflissener Vater aus dem Bildungsbürgertum. Nein, sie kam von einem türkischen Vater, der seine 13-jährige Tochter zum Schulbesuch anmelden wollte. Die Tochter sei klug und wolle unbedingt das Abitur machen und er habe vom guten Ruf des Gymnasiums gehört. Dem Wunsch stand nichts entgegen. Der verblüffte Direktor stellte allerdings die Gegenfrage: „Sind Sie denn nicht selbst Ausländer?“ Der Vater antwortete nicht ohne Stolz, mit den „Türken in Neukölln“ wolle er nichts zu tun haben, mit den Schulen dort schon gar nichts. Sein Mädchen könne nur vernünftig lernen, wenn an der Schule – auch in den Pausen – Deutsch gesprochen werde.
Dieses Beispiel belegt einen Trend, den Soziologen schon seit geraumer Zeit feststellen. In Deutschland ist ein türkischer Mittelstand entstanden, der leistungs- und aufstiegsorientiert eingestellt ist und auch die Kinder in dieser Haltung erzieht. In Berlin versuchen diese Familien ihre Kinder an Schulen anzumelden, an denen hohe Leistungsstandards gelten und wo auch eine störungsfreie Lernkultur garantiert ist. Um das geltende Wohnortprinzip bei der Schulwahl zu umgehen, wird das Kind schon einmal bei einer Tante oder Cousine in einem bürgerlichen Wohnbezirk polizeilich gemeldet. Lange Wege nimmt man billigend in Kauf.
Ganz anders sieht es noch in den Stadtteilen aus, die die Stadtsoziologen als „Brennpunkte“ bezeichnen. Dort sitzen in den Klassen der Schulen über 80% „Kinder mit Migrationshintergrund“. In den Pausen erklingen alle Sprachen der Herkunftsländer in einem babylonischen Sprachengewirr. Einige Schulen haben Deutsch auch auf dem Schulhof verordnet – nur: Wer will das kontrollieren? Die Lernkultur in den Klassen ist problematisch, die Arbeit der Lehrkräfte mühsam, oft frustrierend. Zwölf Jahre habe ich an einer Gesamtschule in einem solchen „Kiez“ unterrichtet und dabei eine Zweitqualifikation als Sozialarbeiter erworben, Streitschlichtung und kriminalistische Ermittlung inklusive.
Mir ist sehr schnell aufgefallen, dass unter den muslimischen Schülern die Mädchen besonders benachteiligt sind. Während die türkischen und arabischen Jungen ihre Affekte oft hemmungslos ausagieren und dadurch Stärke und Dominanz demonstrieren, ziehen sich viele Mädchen, die Haare streng unter dem Kopftuch verborgen, in sich zurück. Neidvoll sehen sie auf ihre deutschen Klassenkameradinnen, die sich locker und ungezwungen geben und auch ein freizügiges Outfit pflegen. Der spielerische Umgang mit dem anderen Geschlecht zur Erprobung der Rollenmuster ist ihnen streng verboten, weil sie von ihren oft orthodox eingestellten Familien sonst schnell als „Schlampen“ eingestuft werden.
Ich habe Fatima, ein Mädchen aus einer libanesischen Familie, erlebt, das unter diesem Rollenkonflikt extrem litt. Oft kam sie morgens zur ersten Stunde zu spät. Die Fachlehrer wandten sich deshalb mit der Bitte an mich, als Klassenlehrer auf Fatima einzuwirken. Im Gespräch erfuhr ich den Grund für ihre Verspätung. Sie brachte vor der ersten Stunde immer 15 Minuten auf der Toilette zu, wo sie sich ihres Kopftuches und Umhanges entledigte und in enge Jeans und ein gewagtes Top schlüpfte. Ihre Haare ließ sie frei flattern, die Lippen schminkte sie im typischen Teeny-Style. Sie wollte in der Klasse so aussehen wie ihre Freundinnen Anna, Kathrin und Elsa. Nach der Schule kam die Rückwärts-Verwandlung. Nur im strengen Habitus der Verhüllung konnte sie ihrem Bruder, der die Schule geschmissen hatte und sich jetzt als moralischer Aufpasser über seine intelligente Schwester betätigte, unter die Augen treten. Moral („Ehre“) kompensiert Bildungsdefizit. Der Bruder geleitete die Schwester „sicher“ ins elterliche Heim, weil sie nur so den Gefährdungen der „unmoralischen“ Großstadt widerstehen könne. Man stelle sich die Gefühle solcher Mädchen vor, die an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert werden und dem Dauerverdacht unterliegen, sie könnten zu einer „deutschen Schlampe“ werden, wenn sie sich nicht unter die schützende Obhut männlicher Familienmitglieder begeben. Ich konnte Fatima in diesem Konflikt nicht helfen. Ich ermunterte sie nur, die Schule weiterhin erfolgreich zu meistern, weil sie nur so – langfristig – den Banden ihrer patriarchalischen Familie würde entfliehen können. Wann hat das Bonmot von Karl Kraus, „Das Wort ´Familienbande` hat einen Beigeschmack von Wahrheit“, je mehr Berechtigung gehabt als hier?
Nach meinem Wechsel ans Gymnasium erlebte ich Erfreuliches. In den unteren Klassen (in Berlin beginnt das Gymnasium mit Klasse 7) saßen bis zu 50 % Kinder mit Migrationshintergrund. Sie waren eifrig, ehrgeizig und gut erzogen. Besonders engagiert waren muslimische Mädchen. Auch wenn sie durch das Kopftuch ihre religiöse oder kulturelle Prägung signalisierten, taten sie alles, um durch gute Leistungen aufzufallen. Probleme gab es natürlich mit der deutschen Sprache. Auch wenn diese Kinder in Deutschland geboren sind, können sie nicht die sprachliche Differenziertheit erwerben, die bei einem Kind aus dem deutschen Bildungsbürgertum selbstverständlich ist. Für die sprachliche Verständigung auf Alltagsniveau benötigt man ca. 5000 Wörter (für Touristen genügen oft schon 1000). Wenn man sich aber den Kosmos der klassischen deutschen Literatur erschließen will, sollte man 20.000 Wörter beherrschen. Ich las mit meiner 9. Klasse die Erzählung „Unterm Rad“ (1906) von Hermann Hesse. Die Sprache Hesses ist noch dem ausladenden epischen Stil des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Ich sah das Scheitern der Kinder mit ausländischen Wurzeln bei der Klassenarbeit voraus. Also gründete ich einen freiwilligen Lesekreis zur gemeinsamen Lektüre des Textes für die Schüler, die mit der Sprache der Novelle nicht zurechtkamen. Obwohl der Förderkreis nach der Schule stattfand, fanden sich 10 Schüler – ein Drittel der Klasse – ein, neun Mädchen mit ausländischen Wurzeln und ein türkischer Junge. Die anderen Jungen hatten es vorgezogen, sich auf dem Fußballplatz der Schule zu vergnügen. Vier Wochen lang lasen und analysierten wir den Text, oft Wort für Wort. Ein Hörbuch half dabei, sich in die eleganten Satzperioden des Textes einzuhören. Der Erfolg stellte sich tatsächlich ein: Von den muslimischen Mädchen erreichten beim Aufsatz alle zumindest eine befriedigende Leistung. Was Bildungsexperten immer wieder betonen, hat sich glänzend bestätigt: Die Beherrschung der Sprache ist das A und O des Aufstiegs durch Bildung, das beste Zeichen für eine gelungene Integration.
Eines Tages kam Faizah, ein arabisches Mädchen, neu in die Klasse. Sie trug kein Kopftuch und glich auch sonst dem schrillen Outfit ihrer Klassenkameradinnen. Vom ersten Tag an war sie aufmüpfig und renitent – bis zur massiven Unterrichtsstörung. Aus der Schülerakte erfuhr ich, dass sie wegen diverser Vergehen von ihrer vorigen Schule – ebenfalls ein Gymnasium – verwiesen worden war. Es gehört zum pädagogischen Einmaleins, dass man alle Konflikte im Unterricht zuerst friedlich – also ohne Strafen und Sanktionen – beizulegen versucht. Bei Faizah fruchtete dies nicht, weil sie alle Friedensangebote schroff zurückwies. Von dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig stammt die Einsicht: „Schulprobleme unserer Kinder sind oft Lebensprobleme.“ – Aus dem Schülerbogen war leider nicht ersichtlich, ob das Verhalten Faizahs auf häusliche Probleme zurückzuführen war. Ich entschloss mich zu einer List, von der ich mir eine Durchbrechung der Konfliktspirale im Umgang mit Faizah versprach. Ich hatte bemerkt, dass Faizah auf dem Weg zur Schule dieselbe U-Bahn benutzte wie ich. Auf der Fahrt nach Hause kam ich „rein zufällig“ in ihre Nähe zu stehen und begann mit ihr einen harmlosen Smalltalk. Ohne ein Wort zu sagen, verschwand sie – mir einen wütenden Blick zuwerfend – in ein anderes Abteil. An mehreren Tagen wiederholte sich das Spiel. Immer wieder wich sie mir aus. Ich wusste natürlich, dass es Schüler als Schmach empfinden, mit dem Lehrer – dem potentiellen Feind – ein privates Wort zu wechseln – noch dazu in aller Öffentlichkeit. Die Verdikte „Schleimer“ oder „Lehrerkind“ sind gängige Münze im Schülermilieu. Ich wusste aber auch um das Lebensgesetz: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ – Irgendwann ließ Faizah (im Arabischen bedeutet der Name „die Siegreiche“) sich in der U-Bahn auf ein Gespräch ein. In den Wochen danach fielen das rotzige Gehabe und die aggressive Sprache immer mehr von ihr ab und sie unterhielt sich mit mir wie ein normales 15-jähriges Mädchen. Ich sprach sie nie auf ihr Verhalten in der Klasse an (dann hätte sie den Zweck meiner U-Bahn-„Mission“ durchschaut), sondern ließ sie von sich erzählen. Nach drei Monaten suchte sie mich im Schulgebäude auf, wenn ich Hof- oder Fluraufsicht hatte. Sie hatte sich so an unsere Gespräche gewöhnt, dass sie sie nicht mehr missen mochte. Mir blieb nicht verborgen, dass sie ihr Verhalten in meinem (leider nur in meinem) Unterricht grundlegend veränderte und produktiv mitarbeitete wie ihre Mitschülerinnen auch.
In den Gesprächen mit ihr habe ich herausgefunden, was ihr Problem war. Sie wurde zu Hause vom strengen Vater unterdrückt, der – arbeitslos und gesellschaftlich isoliert – versuchte, in fremder Umgebung die Würde eines arabischen Familienoberhaupts zu wahren. Ihre an sich liebevolle Mutter konnte ihr im familiären Machtgefüge keinen Beistand gewähren. Anstatt in die innere Emigration – eine melancholische Haltung – zu flüchten, wie es viele Schüler in solchen häuslichen Konflikten tun, kompensierte Faizah ihre seelischen Nöte in einer aggressiven Extroversion, die letztlich nichts anderes war als ein Hilfeschrei. Wenn man dieses Mädchen auch noch in der Schule bestraft und gedemütigt hätte, wäre aus ihr eine Schulflüchtige geworden. Bei meinen Kollegen musste ich deshalb viel Überzeugungsarbeit leisten. Die Schulpsychologin, der ich den Fall schilderte, meinte, Faizah habe zu mir deshalb Zutrauen gefasst, weil sie mich in einem Akt von Übertragung als eine Art von Ersatzvater betrachtete. Psychologen sprechen von einer „positiven Vater-Imago“. Faizah, die Siegreiche, ging ihren Weg. Nach vielen Windungen und Wendungen hat sie das Abitur geschafft und studiert heute an einer Berliner Universität Psychologie.
Die aktuelle Studie des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ (2014) mit dem schönen Titel „Neue Potenziale“ zeigt, dass in der muslimischen Gemeinschaft vor allem die Mädchen zu den Gewinnern des Aufstiegs durch Bildung zählen. Bei ihnen setzt sich die Einsicht durch, dass für sie Bildung ein Vehikel sein kann, den patriarchalischen Familienverhältnissen durch sozialen Aufstieg für immer zu entrinnen. Deshalb geben sie sich auch nicht, wie es ihre Brüder oft tun, damit zufrieden, im Gemüseladen des Onkels als Verkäufer zu arbeiten, wenn sie den Schulabschluss nicht geschafft haben. Die muslimischen Mädchen schließen mit ihren Erfolgen an die deutscher Mädchen an. An den Gymnasien haben die Mädchen inzwischen die Jungen, was die Abiturzahlen angeht, überrundet. Auch qualitativ sind sie Spitze: Unter den besten fünf Schülern eines Abiturjahrganges finden sich oft nur Mädchen. Mädchen mit ausländischen Wurzeln haben daran – das zeigt die Studie – einen immer größeren Anteil. Studiert man die Namenslisten der Abiturjahrgänge, die sich stolz in der Lokalpresse präsentieren, kann man den schulischen Erfolg von Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln an den fremdländischen Namen ablesen. Auch im öffentlichen Leben sind diese Mädchen und jungen Frauen inzwischen unübersehbar: Als Fernsehmoderatorinnen, Schauspielerinnen, Firmengründerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen. Muslimische Mädchen starten durch. Wir sollten alles tun, um sie auf diesem Weg zu unterstützen.
(Um die Persönlichkeitsrechte der Schülerinnen zu wahren, habe ich ihre Namen geändert.)
Das Ganze riecht nach Elaborat, nicht nach wirklich Erlebten. Dafür bin ich als Lehrer an genau so einer Schule zu dicht dran, als dass ich die ganze Story so glauben würde.
Lieber Herr Werner,
ein Freund von mir, Muslim, hat auch so eine Tochter, aber er hat sie unterstützt. Als die den Entfleuchten Nachgereisten so langsam hier mehr wurden, kam seine Frau an und diskutierte das Kopftuch. Wenn du das tragen willst, geh du zurück in die Heimat, ich bleibe hier, war seine Antwort. Heute erinnert mich die Replik an den Bürgermeister von Rotterdam. Diese müssen wir unterstützen, solche. Und ich finde, dass diese Mut fassen und herauskommen müssen, denn sonst kann man sie schlecht stärken. Außerdem bin ich der Ansicht, dass die Leute von Pegida, die ja doch mehrheitlich Bürger sind, die denken können, das auch lernen sollten. Wenn diese oben Erwähnten stärker würden, würden sie Unterstützung finden und die Probleme würden abnehmen.
Bezüglich der Jungs, auch der autochthonen, muss man sich was einfallen lassen. Die Mädchen können viel besser sitzen und lernen. Die Jungs kommen erst später dahin. Es wäre nicht gut, wenn sie abgehängt würden. Ich muss da gelegentlich an Cho denken, der das Virginia High Tech massacre verursacht hat. Seine Schwester war in Princeton ausgebildet worden. Ziemliche Schieflage.
Wie sie sich um das oben beschriebene Mädchen gekümmert haben, erzeugt Achtung.
Ein OT, comment vielleicht später:
Elsa Cayat wird heute bei Heinrich Heine bestattet, Montmartre.
Wolinski und Tignous werden heute dort bestattet, wo Abélard und Héloise ein Monument gesetzt wurde, Père Lachaise.
http://fr.wikipedia.org/wiki/Pierre_Abélard
Charb wird morgen im Licht bestattet, dort, wo Monet am schönsten malte, Vallée de la Seine.
Jo, so isses.
Die Sache ist nur, dass auch die meisten Jungs aus diesen Familien, aufgrund ihrer, auf eine ganz andere Weise fremdartige familiäre Prägung, in unserem Schulsystem als Störfaktoren wahrgenommen werden.
Und so wie ich das beobachtet habe, findet sich da in den allerwenigsten Fällen ein so verständnisvoller Lehrer wie Sie. Nach den Erzählungen meiner Kinder und den leidend-jammerden Anklagen vieler Lehrer und vor allem Lehrerinnen, scheint es mir so zu sein, dass allzu viele Lehrer das Verhalten der mehr oder weniger machohaft auftretenden Jungs aus diesen Familien weniger als kulturellen Unterschied erkennen, sondern deren Verhalten in vielen Fällen persönlich nehmen, womit sie die Situation meist noch verschärfen.
Wie man die Jungs dazu bewegt, Hesse zu lesen, anstatt Fussball zu spielen, das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich sind sie in dem Alter einfach noch nicht so weit wie die Mädchen, bei mir war das ähnlich.
Aber ich verstehe auch, dass bei vielen emanzipiert aufgewachsenen Gymnasiallehrerinnen, die sich immer fleißig durch Schule und Studium „gelies-chent“ haben und, die in ihrem Studium ja nicht gerade mit Pädagogik überflutet werden, die Empathiegrenze relativ schnell erreicht ist, wenn sie einem Jungen vor sich haben, der keine Hausaufgaben gemacht hat, sie dumm anmacht und dabei noch Kaugummi kaut und dessen einziges Ziel es zu sein scheint, mit einem (vermeintlich) coolen Spruch gegenüber der Lehrerin einen Lacher bei seinen Mitschülern zu landen.
Spätestens wenn dann die schlauen Mädchen in 20 Jahren ihre Söhne in die Schule schicken, wird sich der Trend wohl ändern. Traurig ist nur, dass bis dahin schon die dritte männliche Generation aus dieser Bevölkerungsgruppe in weiten Teilen hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben wird. Denn dümmer als ihre Schwestern werden sie, rein statistisch gesehen, wohl nicht sein.