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Sitzenbleiben oder Vorwärtsgehen? – Anmerkungen zu einer hitzigen Debatte

Ein kleiner Passus im Koalitionsvertrag der neuen rot-grünen Regierungskoalition von Niedersachsen hat in unserem Land eine heftige ideologische Debatte ausgelöst:  „Sitzenbleiben und Abschulung“ der Schüler soll „durch individuelle Förderung überflüssig werden.“

Wer die heftigen Reaktionen  in Politik und Presse verfolgt, könnte  den Eindruck gewinnen,  Rot-Grün habe die Axt an das Fundament unserer Kulturnation gelegt. Die linksliberalen Zeitungen frohlocken, weil ein selektives Relikt aus grauer Bildungsvorzeit endlich entsorgt wird. Die konservative Presse sieht das Ende des Leistungsgedankens in der Schule heraufziehen. Selbst der ausgewiesene  Pädagoge, der es eigentlich besser wissen müsste, Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, spricht von „Erleichterungspädagogik“, die eine „Egalisierung“ bewirke. Geht´s nicht eine Nummer kleiner?

Warum die Aufregung um ein Problem, das sich bei näherem Hinsehen als  eher klein  entpuppt? Von den gegenwärtig 11, 4 Millionen Schülern bleiben nach Auskunft der Statistik jedes Jahr ca. 170.000 Schüler sitzen. Das entspricht einer Quote von 1,5 %. Wenn man sich dieses Zahlenverhältnis anschaut, drängt sich der Verdacht auf, dass es bei der öffentlichen Debatte  eigentlich um etwas ganz anderes geht: um die Konfrontation des gegliederten, auf Leistung bedachten Schulsystems, für das bisher die CDU und die FDP stand, mit dem Gedanken der Gemeinschaftsschule, der von SPD, Grünen und Linkspartei verfochten wird. Beide  Lager lauern anscheinend nur darauf, bis sich eine Gelegenheit bietet, den Schulkampf neu zu befeuern.  Anders ist die Heftigkeit, mit der ein Problem diskutiert wird, das  doch am besten pragmatisch zu  lösen wäre, nicht zu erklären.

In der Presse war dieser Tage oft zu lesen, welche Berühmtheiten aus Literatur, Wissenschaft und Politik einmal eine Ehrenrunde drehen mussten:  Thomas Mann, Otto von Bismarck, Richard Wagner, Justus von Liebig, Harald Schmidt u.a. An diesen Beispielen lässt sich doch schon ablesen, dass mit der klassischen Versetzungsregel, die in früheren Zeiten  noch rigider gehandhabt wurde als heute, etwas nicht stimmen kann. Die Schule ist anscheinend nicht so verfasst, dass sie eigenständigen Köpfen, die über eine hohe Intelligenz, aber ein unangepasstes Lernverhalten verfügen, gerecht werden könnte. Aus der Novelle „Unterm Rad“ von Hermann Hesse kennen wir das Diktum, ein Lehrer habe in seiner Klasse lieber 30 Esel sitzen als ein Genie. Querdenker verstören, verunsichern selbst gestandene Lehrer, weil sie die ausgetretenen Pfade, in denen  der  Unterricht verläuft, verlassen.

Das Versagen der Schüler  in der Schule, das bisher stets zum Sitzenbleiben führte, hat nach meiner langen Erfahrung als Lehrer  immer ganz individuelle Ursachen. Kein Fall gleicht dem anderen. Hier einige erlebte Beispiele, bei denen nur die Namen verändert wurden.

Angela ist ein begabtes Mädchen mit einer schnellen Auffassungsgabe. Ihre Beiträge bei  Diskussionen bestechen  durch Nachdenklichkeit und Reife. Sie musste  die Klasse 9 wegen zweier Leistungsausfälle in Mathematik und Englisch  wiederholen. Bei der pädagogischen Besprechung  kam heraus, dass Angela in einem Jugend-Opernchor singt, der häufig auf Tournee geht. Sie hat nicht die Disziplin aufgebracht, die nötig gewesen wäre, die Lektionen, die sie durch ihre Abwesenheit  versäumt hat, nachzuholen.

Jonas ist ein pfiffiger Junge mit einem lockeren Mundwerk. Er träumt von der Karriere als Profi-Fußballspieler. Deshalb  trainiert er  dreimal die Woche in einem Verein. Die Schule hat er deshalb vernachlässigt und sich zwei Fünfen in Französisch und Mathematik eingehandelt. Konsequenz: Wiederholung der 10. Klasse.

Bernd ist ein schüchterner Junge, der sich im Unterricht kaum meldet. Er hat Mühe, dem Lernstoff zu folgen. Oft braucht er zur Erledigung doppelt so lange wie seine Mitschüler. Die Klassen 7 und 8 hat er noch mit Mühe bewältigt. In der neunten Klasse häufen sich die Probleme so sehr, dass er bei 5 von 12 Fächern auf einer Fünf steht. Die Versetzung ist völlig ausgeschlossen.

Drei Fälle, drei Schicksale – aber nur eine Lösung, bisher. Jeder Fall  wird mit der „Höchststrafe“ der Nichtversetzung gelöst. Denkbar wären andere Lösungen, die den  zugrunde liegenden Problemen besser gerecht würden.

Angela bräuchte in den beiden Fächern, in denen sich  Lücken aufgetan haben, ein Nachhilfe-Lernprogramm. Sie müsste sich verpflichten, die Lücken binnen drei Monaten zu schließen und notfalls in dieser Zeit auf eine Reise mit dem Opernchor verzichten. Die beiden Fachlehrer überwachen die Befolgung des Lernprogramms.

Jonas müsste verordnet bekommen, seine Fußball-Begeisterung einzuschränken, um  sich voll auf die Schule konzentrieren zu können. Auch ihm wird ein Lernprogramm verordnet, das er innerhalb von einem Vierteljahr erfüllt haben muss. Die Eltern werden eingebunden, damit sie die Fußball-Abstinenz  überwachen.

Bernd ist offensichtlich durch den Unterricht am Gymnasium überfordert. Er wurde falsch eingeschult und hat sich nur mit äußerster Mühe und ohne viel Freude bis zur 9. Klasse durchgeschleppt. Seine Eltern müssten dahingehend beraten werden, dass Bernd  an eine leichtere Schulform, die Sekundarschule, wechselt.

An allen drei Beispielen kann  man sehen, dass das schematische Prinzip der Nicht-Versetzung ein Gleichmacher im schlechten Sinne ist. Alle drei Schüler müssen die Klasse wiederholen, obwohl es klügere, elegantere Lösungen gäbe, ihre Lernprobleme zu beheben. Wenn Schüler sitzenbleiben, haben sie meistens  Leistungsausfälle in zwei bis drei Fächern. In den anderen neun bis zehn Fächern sind die Leistungen  oft durchschnittlich oder sogar besser. Wenn sie die Klasse wiederholen, müssen sie den Lernstoff in allen  Fächern, auch in ihren guten, ein zweites Mal  absolvieren. Das tötet nicht nur die Motivation (Könnten sich das Erwachsene für sich vorstellen?). Es ist auch eine Vergeudung kostbarer Ressourcen der Schule. Die Absurdität wird offensichtlich, wenn man Beispiele aus dem Leben zum Vergleich heranzieht. Warum muss  ein Fahrschüler, der durch die praktische Fahrprüfung gefallen ist, nicht auch die theoretische wiederholen? Warum müssen Studenten, die eine Klausur nicht bestanden haben, nicht alle Semesterklausuren wiederholen?  Aus guten Grund. Man ermöglicht den Durchfallern, die Schwächen punktgenau auszubügeln,  und nicht mehr.

Auf solche Ideen kommen Lehrer, leider  nicht Politiker und auch nicht Journalisten. Außenstehende nehmen die kleinen Probleme, die sich im schulischen Alltag auftun,  immer als  Beleg für das „große Ganze“, das   sich in die falsche Richtung bewegt. Ideologie statt pragmatischer Lösungsansätze.  Der öffentliche Diskurs  funktioniert nach dem  „Prinzip Talkshow“: Die Disputanten, die sich wöchentlich versammeln, um vor den Augen der TV-Öffentlichkeit das brennende Problem der Woche zu diskutieren, haben nicht das Bestreben, das Problem zu lösen. Wenn sie das wollten, müssten sie ganz anders diskutieren. Sie müssten sich intellektuell auf die Argumente des Gegners einlassen, statt sie mit abgedroschenen Polit-Phrasen lautstark niederzuschmettern.

Leider verfügt  die Schule  nicht über dieselbe  Aura der Unnahbarkeit wie die Medizin. Wenn ein neues Verfahren der Herztransplantation aufkommt, würden  es   kein Politiker und kein Journalist wagen, den Ärzten ins Zeug zu flicken und das Verfahren zu kritisieren. In der Pädagogik hingegen  ist alles erlaubt. Alle wollen mitreden, alle wissen die Lösung. Eine Gruppe wird dabei  nie gefragt: die Lehrer.

 

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2 Gedanken zu “Sitzenbleiben oder Vorwärtsgehen? – Anmerkungen zu einer hitzigen Debatte;”

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    Sehr geehrter Herr Werner,
    auch wenn mir in Ihrem Text „die Lehrer“ etwas zu gut wegkommen (schließlich sind sie es, die den Spielraum der jeweiligen Schulgesetze zu Gunsten der Schüler und des Lernerfolges ausnützen könnten, was aber nur sehr wenige tun)- Volle Zusttimmung zur Kernthese: Sitzenbleiben ist pädagogisch und für den Lernerfolg Quatsch.
    Über den Rest, die „Aura der Unantastbarkeit“, die Sie für die Schule gerne hätten, ließe sich allerdings streiten. Natürlich nicht nur unter Politikern und Journalisten, sondern auch und gerade mit Lehrern. Nur versuchen Sie das mal, wenn sie selbst keiner sind (so wie ich) aber immerhin seit knapp 40 Jahren als Pädagoge, auch an Schulen, tätig sind. Da gäbe es bei der Diskussionsbereitschaft der meisten Kollegien noch viel Luft nach oben.

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