Ein Berliner Student erzählte mir, als er nach einem Studienaufenthalt in den USA nach Deutschland zurückkam, von einem verstörenden Erlebnis. Bei einer College-Party tauschten die Studenten ihre Visitenkarten aus. Die meisten drehten die Karten, die sie von ihren Kommilitonen erhalten hatten, sofort um und lasen die darauf gedruckten Informationen.
Die Rückseite der Karte unseres deutschen Studenten war indes leer, was die Verwunderung seiner amerikanischen Freunde hervorrief. Auf der Rückseite von Visitenkarten werden in den USA die sozialen Einrichtungen oder karikativen Organisationen vermerkt, für die die angehenden Akademiker ehrenamtlich tätig sind. Wer kein Ehrenamt vorweisen kann, hat beim Bewerbungsgespräch schlechte Karten. Beschämt musste der deutsche Student eingestehen, dass er bislang weder in Deutschland noch im Gastland USA in dieser Weise tätig geworden war.
In den USA gilt es als Ehrenpflicht, dass die Erfolgreichen sich für die Schwachen engagieren, um sich dadurch dem Land gegenüber für den gelungenen sozialen Aufstieg dankbar zu zeigen. Jedem soll der Einstieg in den „amerikanischen Traum“ ermöglicht werden. Dieses Engagement hat ein engmaschiges Netz von „charity and welfare“ über das Land gezogen.
In der Idee des Kommunitarismus hat es ein theoretisches Fundament erhalten. Aus nachbarschaftlichen Strukturen und zwischenmenschlichen Freundschaften sollen – so die Idee – neue Gemeinschaftsstrukturen entstehen. Das angestrebte Ziel des Kommunitarismus ist die Schaffung einer „guten Gesellschaft“, in der sich Individualismus und Gemeinsinn die Waage halten. Mit dem staatsfixierten Kommunismus hat diese Strömung trotz der Namensähnlichkeit nichts zu tun. Unser deutscher Student hätte das in den USA, dem bei uns so sehr verrufenen Land des Turbo-Kapitalismus, nicht für möglich gehalten.
In Deutschland ging das Soziale gänzlich andere Wege: Es wurde verstaatlicht. Allenfalls in kirchlichen Einrichtungen lebt der zivilgesellschaftliche Impetus der sozialen Hilfsbereitschaft noch fort. In Deutschland sind alle wichtigen Lebensrisiken durch staatlich garantierte und gesetzlich regulierte Sicherungssysteme abgesichert.
Das mag gut sein, weil es dem Bürger ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit beschert. Diese Sicherheit verbürgt eine Lebensqualität, die genau so hoch zu veranschlagen ist wie der Besitz eines auskömmlichen Arbeitsplatzes.
Das soziale Sicherheitsdenken hat sich inzwischen jedoch auf teilweise bedenkliche Lebensbezirke ausgedehnt. Bei allen Wechselfällen des Lebens rufen die Bürger bei uns nach der Fürsorge des Staates. Treten die großen Flüsse Oder, Elbe und Rhein über die Ufer, wird der Staat von den Betroffenen aufgefordert, für die Schäden „unbürokratisch“ aufzukommen. Kein Landesfürst kann diesem Ansinnen ernsthaft widerstehen – in einem Wahljahr wäre das für seine Karriere tödlich.
Zeigen sich auf Grund von tektonischen Verschiebungen in einigen Landstrichen an den Häusern Risse, wird der Staat in Haftung genommen, obwohl er doch offensichtlich für Erdbeben nicht verantwortlich ist. Werden unternehmungslustige, rüstige Rentner, die sich in Marokko eine Wüsten-Safari gegönnt haben, von einheimischen Wegelagerern entführt, muss es wieder der Staat richten. Er muss mit den Entführern verhandeln und das Lösegeld für die Freilassung bereitstellen. Auch der Rücktransport per Hubschrauber erscheint wünschenswert. Die Risiken des Lebens werden dem Staat nicht nur dann aufgebürdet, wenn es um Naturkatastrophen geht, sondern auch, wenn es sich um die Abfederung der Risiken persönlicher Selbstverwirklichung handelt. Abenteuerurlaub mit staatlicher Haftung.
Diese Anspruchshaltung an „Vater Staat“ (nomen est omen), der einspringt, wann immer man seiner bedarf, steht seit einiger Zeit in krassem Gegensatz zur Bereitschaft der Bürger, dem Staat dort entgegenzukommen, wo er im Sinne der Daseinsvorsorge für alle Bürger tätig werden muss. Jeder Bau einer Straße, einer Bahntrasse und neuerdings auch einer Stromleitung muss gegen den Widerstand von „Bürgerinitiativen“ durchgesetzt werden. An neue Techniken der Erdgasgewinnung wie das Fracking ist gar nicht zu denken. Es wird im öffentlichen Diskurs so stigmatisiert, dass sich kein Landrat traut, die nötigen Flächen frei zu geben.
Der Gemeinsinn, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch das Zusammenleben der Menschen geprägt hat, ist einer Mischung aus nonchalantem Hedonismus und überbordendem Egoismus gewichen. Dabei gilt die Devise: „Ich will alles vom Staat, und wenn der Staat etwas von mir will, schaue ich zuerst einmal, ob es mir etwas bringt“. Motto des Protests ist häufig das St. Florian-Prinzip: Fliegen will ich auch, aber den Fluglärm sollen die anderen haben.
Mit den Piraten ist eine Partei auf der politischen Bühne erschienen, die diese maßlose Anspruchshaltung zum Programm erhoben hat. Sie fordern ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Die Fleißigen sollen dafür aufkommen, dass die vernetzte Jugend ihren digitalen Lebensstil ohne lästigen Broterwerb realisieren kann. Auch die Grünen bedienen die „Zuerst-Ich“-Haltung vieler, vor allem gut situierter Bürger. Das Wort „Zivilgesellschaft“ führen sie oft im Munde.
Doch nicht die Selbstermächtigung der Bürger zur Festigung des sozialen und kulturellen Zusammenhalts liegt ihnen dabei am Herzen. Sie bringen vielmehr die Bürger gegen den Staat in Stellung, wenn er durch sein gemeinwohlorientiertes Handeln ihr Wohlbefinden stört. Die Feuilletons haben die Grünen vorschnell zur Partei des Bürgertums erklärt. Bürgerlich kann man ihre Ego-Haltung freilich nicht nennen. Dem traditionellen Bürgertum war Gemeinsinn nie fremd. Das Gewinnstreben in der eigenen Firma oder im eigenen Handwerksbetrieb war kein Widerspruch zum Engagement für das Gemeinwesen. Noch heute kann man dies an den sozialen Projekten von Clubs wie „Rotary International“ (Service above self– selbstlos dienen) oder „Lions“ (We serve – wir dienen) ablesen, die auch in Deutschland ein enges Netz gespannt haben. Sie helfen effektiv und geräuschlos, wo es Not tut.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unsere Schulen in den letzten Jahren zu sehr der Erziehung zur Selbstverwirklichung gehuldigt und den Aspekt des Gemeinsinns vernachlässigt haben. Freiheit ist jedoch nur in Verantwortung sinnvoll und erstrebenswert. Ohne die Bindung an gemeinschaftliche Ziele führt individuelle Freiheit schnell zu Egoismus und Gemeinwohl-Verachtung. Die zum Protest geneigten Bürger sollten sich die gute alte Lebensregel des „Do ut des!“ (Ich gebe, damit du gibst!) zu Gemüte führen. Und es ist an der Zeit, dass in den Schulen dieser Republik das Erziehungsziel „Gemeinsinn“ wieder verstärkt Einzug hält. Der legendäre Satz des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy könnte dabei als Leitbild dienen: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“
Der Autor unterrichtete bis zu seiner Pensionierung am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte. Er schrieb das Buch „Auf der Lehrer kommt es an“.
@Rainer Werner
Ein wenig mehr Recherche hätte Ihrem Beitrag gut getan:
http://www.faz.net/aktuell/ges.....41585.html
Aber da Sie leider naturwissenschaftlich allerhand lücken aufzuweisen haben, hier noch etwas Nachhilfe:
http://www.livescience.com/221.....ction.html
http://de.wikipedia.org/wiki/D.....ning_Basel
http://de.wikipedia.org/wiki/I.....zit%C3%A4t
Lieber Rainer, ich habe beim Lesen die ganze Zeit darauf gewartet, dass du diesen fatalen Satz John F. Kennedys zitierst, und gehofft, dass du es nicht tust. Ich habe gerade zum „Kennedy-Jubiläumsjahr“ 2013 meine Kennedy-Biographie völlig um- und neugeschrieben, sie erscheint im März, und habe mich ausführlich auch diesem Satz aus der Rede zur Amtseinführung gewidmet.
Erstens war er geklaut. In der jährlichen Ansprache des Schulleiters von Choate, dem Internat, in dem der Schüler John F. Kennedy als Anführer des antiautoritären „Muckers Club“ berüchtigt war, hieß es immer: „Der Schüler, der seine Alma Mater liebt, wird nicht fragen, was die Schule für ihn tun, sondern was er für seine Schule tun kann“. Das mag als Motto eines Elitegymnasiums angehen. Als Motto eines demokratischen Gemeinwesens taugt es nicht.
Zweitens waren die USA 1961 eine Gesellschaft, in der – infolge staatlichen Handelns und Nichthandelns – die Schwarzen in den Südstaaten Bürger zweiter Klasse waren, denen das Wahlrecht vorenthalten wurde. In dieser Lage den Bürgern zu predigen, sie sollten nicht fragen, was der Staat für sie tun könne, war zynisch. Tatsächlich war JFK der Meinung, die Schwarzen sollten sich mit ihren Aktionen zurückhalten, weil Demonstrationen, Sit-Ins usw. dem Land im Kampf gegen den Kommunismus schadeten. Dieses Argument kennst du auch aus den 1960er Jahren hierzulande. Ich rede übrigens gar nicht davon, dass es zu Zeiten JFKs weder für Alte noch für Arme eine Krankenversicherung gab, dass nicht nur Schwarze, sondern auch Frauen und Schwule vielfach gesetzlich diskriminiert wurden usw. usf. Das Land stand tatsächlich den Bürgern gegenüber in der Pflicht.
Der Gedanke, drittens, ist Ausdruck einer Überzeugung, die schon der junge Kennedy in seinem Buch „Why England Slept“ (1940) formulierte: Im Kampf gegen einen totalitären Feind müsse eine Demokratie „freiwilligen Totalitarismus“ (seine Worte) praktizieren. Das haben wir im hysterischen Antikommunismus der 1950er und 1960er jahre dann erlebt, aber auch in der Anti-Terror-Hysterie nach 9/11. Der Gedanke war, ist und bleibt jedoch grundfalsch. Die Demokratie ist gerade deshalb anderen Staatsformen überlegen, weil sie den Bedürfnissen der Bürger entsprechen muss.
Übrigens ist das nirgends mehr der Fall als in den USA, wo – apropos Naturkatastrophen – der Kongress selbst kurz vor dem „fiskalischen Abgrund“ einstimmig Milliardenhilfen für die Opfer von „Hurrikan Sandy“ bewilligte. Die Vorstellung, Europa sei ein Hort der Staatsgläubigkeit und des Egoismnus, die USA seine das Land der Freien und des Gemeinsinns, ist – und war immer schon – ein Mythos, der keiner ernsthaften Überprüfung standhält.
Liebe Frau Groda,
Herr Werner hinkt nicht, sondern er zeichnet sich aus durch eine sehr verengte Optik:
„Dem wäre auch entgegenzusetzen, daß in einem Lande wie Deutschland, mit gesetzlicher Sozialfürsorge Millionen von unbezahlten Ehrenamtler die Wohltätogkeit am Laufen halten“
Von unbezahlten Ehrenämtern in Deutschland wie Sie sie aufzeigen hat er wohl noch nie gehört!!
Und wenn ich dann so einen bullshit lese:
„An neue Techniken der Erdgasgewinnung wie das Fracking ist gar nicht zu denken. Es wird im öffentlichen Diskurs so stigmatisiert, dass sich kein Landrat traut, die nötigen Flächen frei zu geben.“
Was hat der Landrat mit dem Bereich Bergbau zu tun??
Es gibt in Deutschland das Bergerecht und wenn Herr Rainer hier schon Artikel veröffentlicht, dann sollte er doch wenigstens etwas recherchieren und nicht Stammtischinhalte hier ausbreiten:
Dabei ist es doch so leicht über google Genehmigungsverfahren beim fracking zu recherchieren:
http://celleheute.de/baumer-tr.....einfuhren/
Vielleicht sollten wir Herrn Werner doch einmal ein Lernpatenschaft anbieten.
Ich gebe hern Ziegler recht. Diktiertes Gemeinwohl ist auch mir suspekt.
Das Beispiel USA hinkt; denn Ehrenamt und Charity ist dort wesentlich notwendiger, als in einem Lande mit gesetzlicher Krankenversicherung.
Dem wäre auch entgegenzusetzen, daß in einem Lande wie Deutschland, mit gesetzlicher Sozialfürsorge Millionen von unbezahlten Ehrenamtler die Wohltätogkeit am Laufen halten, besonders seit die Zivis wegfallen.
Gemeinwohl zwanghaft an Schulen vermitteln zu wollen, hallte ich für absolut hirnrissig. Das ist eine der sozialen Aufgaben der Familie. Den Staat und die Schule darüber entscheiden zu lassen, was dem Gemeinwohl entspricht, halte ich für höchst gefährlich; die ehemalige DDR und das Tausendjährige Reich halte ich in diesem Rahmen für besonders abschreckende Beispiele.
Wenn man sich hier so künstlich mokiert, daß sich der Bürger bei jedem Dreck an den Staat hält ,ist das nicht ganz differenziert.
Genau diese Mentalität hat uns die Politik seit dem Mauerfall konsequent und kontinuierlich eingebläut.
Das Ergebnis bei einer Umfrage vor 2 Jahren z.B., ob die Bürger in Gesamtdeutschland sich hier ein sozialistischen System vorstellen könnte, hatte zum Ergebnis, daß 70% der Befragten nicht gegen einen sozialistischen Staat hätten bei gleichzeitiger Absicherung der Existenz. Ein Rundumsorglospaket also, der Staat denkt und lenkt das Gemeinwohl.
Da ich der Meinung bin, daß von nix nix kommt, überlasse ich lieber dem Individuum das Gemeinwohl
zur geneigten Betrachtung.
Und wo steht auf Ihrer Visitenkarte was Sie für die Gesellschaft tun??
Vielleicht übersehe ich etwas:
http://www.rainer-werner.com/
Dass Sie per se Schwierigkeiten mit dem Netz und den dortigen Aktiven und auch den Piraten haben dürfte sich hier im blog herumgesprochen haben.
Daher etwas Nachhilfe:
http://www.betterplace.org
ist ein deutscher Exportartikel 🙂
auch ein pro bono Projekt von Stefan Wehrmeyer:
http://www.mapnificent.net/
sowie
https://fragdenstaat.de/
ist über die Grenzen von Deutschland bekannt.
Und ebenfalls auch eine Initiative von Raul Krauthausen:
http://blog.wheelmap.org/
Wenn ich richtig informiert bin leben Sie im Norden von Berlin.
Vielleicht leben Sie im Tal der Ahnungslosen oder um es analog einem berühmten Zitat von Bismarck zu formulieren:
Wenn ich weiß dass die Welt untergeht ziehe ich in den Norden von Berlin, denn da passiert alles 50 Jahre später.
Schon wieder diese Predigt. Freiheit ist NICHT „nur in Verantwortung sinnvoll“, Freiheit in Verantwortung ist im Gegenteil sinnlos. Wer in Verantwortung steht, ist NICHT frei. Vielleicht wollten Sie zum Ausdruck birngen, dass Freiheit nicht das einzig Erstrebenswerte auf dieser Welt ist? Verantwortung zu übernehmen ist auch eine schöne Sache, ein Grundbedürfnis, aber sie führt nunmal in die Unfreiheit. Soviel Ehrlichkeit sollte man einander schon gönnen.