Geld allein macht nicht glücklich. Das gilt offenbar auch für den inzwischen ziemlich wohlhabenden Thilo Sarrazin. Weit mehr als eine Million Exemplare seiner als Buch veröffentlichten Kampfschrift »Deutschland schafft sich ab« sind bereits verkauft worden. Doch dieser zählbare Erfolg und die damit einhergehende üppige Honorierung bereiten dem Ex-Bundesbanker kein Wohlbefinden. Der schnöde Mammon, er kann allenfalls den Schmerz ein wenig lindern. Wenn überhaupt.
Denn Sarrazin scheint zu leiden – unter Liebesentzug. Zwar wird ihm allenthalben wegen seiner Thesen zu Islam, Migration und vererbbarer Dummheit von »Normalos« auf die Schulter geklopft. Doch ein Großteil des Establishments (auch in den Medien) versagt ihm, dem großen Aufklärer, Lob und Zuneigung.
So wird aus dem in seinen Kreisen Unbeliebten einer, der hasst. Ein Geschmähter, der nur noch Verachtung für seine Kritiker übrighat. Einer, der kämpft, indem er kräftig austeilt. Und wie. In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Thilo Sarrazin auf einer ganzen Seite gezeigt, was die Debatte um ihn aus ihm gemacht hat: einen maßlosen Wutbürger.
Die Abrechnung des Unverstandenen mit allem und jedem liest sich so: »Die Bundeskanzlerin eröffnete den Reigen und setzte mein Buch auf den Index, so wie es früher die Heilige Inquisition tat, indem sie erklärte, das Buch sei ’nicht hilfreich‘, und sie werde es auch nicht lesen.« Und: »An die Stelle des Scheiterhaufens trat nach ihrer Planung die Verbannung aus der Bundesbank.« Armer Thilo. Undank ist der Welt Lohn, oder?
Aber Mitleid ist auch nach Sarrazins eigener Überzeugung fehl am Platze. Denn er sieht sich inzwischen als einen Mächtigen, der auf einer breiten Zuneigungswelle surfend das Zeug hätte, selbst einflussreiche Widersacher in die Knie zu zwingen. »Mit ein bisschen Michael Kohlhaas im Blut hätte ich eine Staatskrise herbeiführen können«, schreibt der Kleist-Kenner. Was wohl nichts anderes heißen soll, als dass sich Sarrazin auf einem Feldzug gegen die Obrigkeit wähnt, um erlittenes Unrecht zu sühnen.
Und hat man ihm nicht auch übel mitgespielt? Der Mann, der sich auf dem Foto zu seinem FAZ-Beitrag mit Weihnachtsmannmütze vor einem Glühweinausschank ablichten lässt, ist davon überzeugt. »Zehn Tage nach dem Beginn des Vorabdrucks und drei Tage nach dem Verkaufsbeginn war ich nach allen überkommenen Maßstäben der deutschen Republik nicht nur politisch tot, sondern auch bürgerlich ein Leichnam: Welche ehrenhafte Vorort-Dinnerparty würde so einen noch in ihren Reihen dulden wollen?« Da ist er wieder, der Liebesentzug. Die vermeintliche gesellschaftliche Ächtung, die ihm so zusetzt.
Aber inzwischen ist Sarrazin um einiges weiter. Wer seinen Artikel in der renommierten Frankfurter Tageszeitung liest, der spürt rasch, dass ihm inzwischen zornige Hybris die Feder führt und die Sinne vernebelt. Der Erfolg des Buches hat beim Autor zu Anmaßung und Vermessenheit geführt. Doch Übermut tut selten gut. In der griechischen Tragödie, das wird der Bildungsbürger Sarrazin sicherlich wissen, führt Hybris und blinder Zorn in der Regel zum Fall der Hauptfigur. Ähnlich ist es Kleists Kohlhaas ergangen. Der versuchte, sein Recht zu erzwingen – und scheiterte.
Wieviele von den Sarrazin-Fans und wieviele der Käufer haben das Buch GELESEN? – Ich bin bisher kaum einem begegnet, der es GELESEN hat.
Wieviele von den Sarrazin-Fans sind sich bewusst, dass die zentrale These von „Deutschland schafft sich ab“ darin besteht: Die deutschen Frauen der Mittel- und Oberschicht bekommen zu wenig Kinder, und darum schrumpft und verdummt das Volk der Deutschen. Woraus folgt … (man lese nach, was Sarrazin vorschlägt, um die Gebärfreudigkeit zu fördern!)
Der Rundumschlag gegen Migranten aus islamischen Ländern ist da nur eine bösartige Marginalie – wenn auch die „gefühlte“ Hauptsache in der Diskussion und der Grund für die Popularität in weiten Kreisen.
@Dr.Dr. Joachim Seeger: Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu, wo Sie meinen“Demokratie lebt vom Diskurs, von der Diskussion und auch vom Streitgespräch.“
Das Demokratieverständnis wurde in den letzten 20 Jahren, und bestimmt nicht unabsichtlich, von der Politik so verbogen, daß es heute mindestens zweier Dr.-Titel bedarf, um zu dieser Erkenntnis post priori zu kommen.
Auch ich vertrete diesen, Ihren Demokratieanspruch beharrlich, hier und anderswo, was einem nicht nur ausschließlich gut bekommt.
„Der Wutbürger“ Sarrazin sollte auch weiterhin Mitglied der SPD bleiben. Die große Volkspartei SPD kann auch unbequeme Mahner weiterhin integrieren. Ich würde der SPD ihren demokratischen Charakter absprechen, wenn parteiinterne Kritiker sofort durch Parteiausschluss hinausgeworfen würden. Demokratie lebt vom Diskurs, von der Diskussion, auch vom Streitgespräch. Sarrazin hat ja nicht in allen Punkten unrecht. Thilo Sarrazin sollte auch zukünftig seinen angestammten Platz in der SPD haben dürfen!
@ Monsieur Declerq (auch Huguenot?)
Nee, Sarrazin hat nicht das Charisma von Adolf, dies ohne Wertung gesagt. Außerdem ist er nicht einmal mutig genug, um die Konsequenzen aus seiner Thesen zu ziehen, nämlich eine eigene Partei zu gründen.
Ich glaube eher, er hat seit seinem Exil nach Frankfurt seinen Rausschmiß aus dem Polit-Establishment nicht verkraftet, und rächt sich nun mit skurrilen Thesen, woran er selber nicht einmal glaubt. Also ein Fall für die Psychotherapie. Ich habe nicht gesagt „für die Psychiatrie“, ist ein grosser Unterschied, jeder von uns versucht seine Komplexe zu sublimieren, Sarrazin tut es mit einem Buch, das möglichst das von ihm verhaßten Establishment bis ins Mark treffen soll.
Ich kenne aus der Geschichte auch einen verrückten Österreicher, der aus Verbitterung und Liebesentzug die halbe Welt in Brand gesetzt hat. Er hat auch ein Buch geschrieben und dieses kam auch sehr gut beim „Volk“ an. Diese Parallelen können einem Angst machen.
die Diskussion um Sarrazin (kein deutscher Name) geht langsam auf die Nerven. Der Mann bekommt zuviel Publicity durch seine Gegner. Einfach ignorieren und sich um die wichtige Probleme der Gesellschaft kümmern. Da sind Politiker gefordert, kein Banker in Rente (und jetzt Vollzeit-Brandstifter).
Was Kohlhaas angeht, so irren sowohl Sarrazin als auch Sie, lieber Christian. Kohlhaas bekam sein Recht, lieferte sich aber dann als Gegenleistung und als Sühne für seinen Aufstand gegen die Staatsgewalt eben jener Gewalt zur Hinrichtung aus. Sarrazin ist kein Unrecht geschehen. Und er denkt nicht daran, sich der Staatsräson zu beugen.
So viel kann ich gar nicht lesen.
Ein Versuch, dem prämiertem Wort des Jahres 2010 eine neue Bedeutung zu gegeben? Am Beispiel einer einzigen Person.
Empfehle dies als guten Vorsatz in´s nächste Jahr hinüber zu nehmen, als Beispiel dafür, wie man´s nicht machen sollte.
Wenn Henryk M. Broder mit der Reichsschriftkammer auffahren kann, darf man doch Thilo Sarrazin die Inquisition nicht verübeln.
Schöner Artikel, aber
„…was die Debatte um ihn aus ihm gemacht hat: einen maßlosen Wutbürger…“
Sarrazin war schon vorher Wutbürger (auch wenn dieser Begriff mittlerweile so inflationär gebraucht wird, dass ich ihn nicht mehr hören kann).
Diese Haltung und geistige Einstellung hat ihn erst dazu veranlasst, dieses unsägliche Buch zu schreiben.
„Der Erfolg des Buches hat beim Autor zu Anmaßung und Vermessenheit geführt…“
Anmaßung und Vermessenheit lagen schon in seinen Theorien, seinem Glauben, dass sein eigener, „überragender“ Verstand, die „Wahrheit“ erkennen ließ, die es zu verbreiten galt. Seine „Wahrheit“ hielt er für allgemeingültig, was er verzweifelt mit zusammengesuchten Statistiken zu belegen versuchte. Dass diesem Verstand jede Weitsicht abgeht hat er bewiesen, wenn er sich ernsthaft über die Folgen seiner kruden Theorien wundert.
Und da ich weiß, wie und wer hier sonst mitdiskutiert, gerade wenn es um Sarrazin geht, schon vorneweg: Nicht vergessen, dass es Sarrazin nicht um das Anstoßen einer reellen Integrationsdebatte ging, sondern darum mit Hilfe von Halbwissen in Sachen Genetik nachzuweisen, dass Migranten mangelnde Intelligenz leiden und dies auch noch vererbt wird. Ein, in biologischer Hinsicht, schlecht recherchiertes Plädoyer für deutsche Leitkultur. Integrationsdebatten gab es auch vorher, ihn in Sachen Integration zum großen Wahrheitsverkünder zu stilisieren ist einfach nur absurd.
Die Verachtung, die Sarrazin in den Reihen derer, denen er sich zugehörig fühlt entgegenschlägt, (intellektuelle Elite), ist nur ein Spiegelbild der Verachtung, die er für jene bereithält, die er für intellektuell minderbemittelt hält, für die sozial Schwachen, die Migranten. Eben alles, was für sein Verständnis nicht „auf seinem Niveau“ stattfindet.
Ich habe lange vor der Debatte und dem Buch ein Interview mit dem Herrn gesehen, der sich trotz seiner überragenden Intelligenz kaum zu artikulieren vermochte.
Er verlor sich unablässig in seinen eigenen Endlossätzen und hat nur für Gähnen gesorgt. Der Teil von ihm, der verzweifelt gehört werden wollte hat begriffen, dass Pöbeln zu Aufmerksamkeit führt.
Er hat jetzt, was er wollte.
Und bei denen, die auf bloße, medienwirksame Pöbelei nichts geben, auch die Stellung die er verdient.
Es dürfte sein Ego genug schmerzen, ausgerechnet von dem Bevölkerungsanteil bejubelt zu werden, den er so sehr verachtet.
So viel kann ich garnicht essen …