avatar

Wie Wessis die Linkspartei zerstörten

Die PDS war einst eine ostdeutsche Volkspartei. Als sie mit der westdeutschen WASG zu „Die Linke“ fusionierte, schien ihr bundesweiter Aufstieg unaufhaltsam. Dachte man. Was lief da schief? Und warum wird es – trotz vorübergehendem Zwischenhoch unter Heidi Reichinnek – weiter schieflaufen?

Zu den erhellendsten Moment meiner Schulzeit gehört jener, in dem mir bewusst wurde, dass Wörter nicht überall dasselbe bedeuten. Es war im Sozialkundeunterricht an einem westdeutschen Gymnasium der 80er, als ich begriff, dass Demokratie in der DDR ganz anders verstanden wurde als in der Bundesrepublik.

Daran musste ich später oft denken, wenn Menschen das gleiche Vokabular benutzten, aber grundverschiedene Dinge meinten. Vor allem der Begriff „links“ löste immer wieder Missverständnisse aus. Links sein, damit war im Osten eine verbindliche Lehre und ein konkretes, unverrückbares Programm verbunden. Links, das war Karl Marx, war Klassenkampf, war Sozialismus.

Im Westen hingegen war links ein Lebensgefühl, das nicht notwendigerweise mit einem politischen Bewusstsein einherging. Es konnte vorkommen, dass Jugendliche sich als links bezeichneten, nur um ihre konservativen Eltern und Lehrer zu ärgern. Ja, man musste nicht einmal Sozialist sein, um als links zu gelten. Sogar CDU und FDP gönnten sich einen linken Flügel. Letzterer bezeichnete sich als linksliberal. Seltsamerweise hat nie ein Politikwissenschaftler hinterfragt, ob die Begriffe links und liberal miteinander vereinbar sind. Kann jemand in einer Partei, die den Kapitalismus bejaht, überhaupt links sein?

Links und linksliberal – geht das zusammen?

Doch hätte man eine solche Frage im Westen als spitzfindig empfunden. Links sein bedeutete, auf der richtigen Seite zu stehen – das musste genügen! Wie man „auf der richtigen Seite“ definierte, war individuelle Auslegungssache. Und Karl Marx hatte in der Bundesrepublik sowieso kaum einer gelesen. Selbst viele Sozialdemokraten nicht. Und Grüne schon gar nicht.

Doch was man im Westen unter links verstand, brauchte in der PDS niemanden zu bekümmern. Hier waren die Fronten noch klar. Hier herrschte noch jenes Klassenbewusstsein, in dem sich die nach der Wende deklassierten Ossis wiedererkannten. So wurde die PDS zur ostdeutschen Protest- und Volkspartei, die davon profitierte, dass die versprochenen „blühenden Landschaften“ vielerorts ziemlich welk aussahen.

Der Realist als Hass-Figur: Wie die PDS in Gerhard Schröder das perfekte Feindbild fand

Dann kam Gerhard Schröder, der „Genosse der Bosse“. Mit der Agenda 2010 und den Hartz IV-Gesetzen vertrieb er jene aus der SPD, bei denen das Wort „Klassenkampf“ zumindest noch vage Erinnerungen an wildere Zeiten hervorrief. In der 2005 gegründeten Partei „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG) sahen viele eine Art linke SPD, angereichert um Gewerkschafter, für die Manager keine Brasilientrip-Kumpels waren, sondern natürliche Gegner. Die Vereinigung von PDS und WASG zur Linkspartei im Jahr 2007 schien daher eine logische Konsequenz. Endlich hatten die „echten“ Linken von Ost und West wieder zusammengefunden.

Zu schön, um wahr zu sein. Man hätte es ahnen können. Hatten nicht die Grünen in den 80er Jahren vorgelebt, dass Parteigründungen nicht nur Überzeugungstäter anziehen, sondern auch Opportunisten? Die Laufbahn des Joschka Fischer ist hierfür mustergültig. In dem brillant recherchierten Aufklärungswerk „Wir sind die Wahnsinnigen“ zeichnet Christian Y. Schmidt akribisch nach, wie ein cleverer, machtbewusster Mittdreißiger seine letzte Chance nutzte, um nicht als Taxifahrer zu enden.

Aber neue Parteien locken neben Karrieristen auch Freaks an. Politische Wirrköpfe, die sich in anderen Gruppierungen ins Abseits manövriert haben und mit einem Mal Morgenluft wittern. Plötzlich eröffnet sich die Möglichkeit, vom Außenseiter zum willkommenen Outlaw zu mutieren, der es den Etablierten heimzahlt. Neue Parteien nehmen solche „Rebellen“ gern mit offenen Armen auf, ohne zu hinterfragen, warum diese Querköpfe in der Vergangenheit politisch scheiterten.

Die politische Freakshow – doppelzüngige Außenseiter wie Lafontaine ergreifen ihre (letzte) Chance

Und der größte Freak war Oskar Lafontaine. Der Trump der Linken. Der Menschenfänger, der zunächst als Retter gefeiert wird, um dann alles kurz und klein zu schlagen. Auch hier: Man hätte es ahnen können. Bereits im Januar 1989 war in „Spex“ alles nachzulesen, was man über Lafontaine wissen musste: „immer links da, wo es nichts kostet, bei allen humanitären, kulturellen und ökologischen Fragen also, aber ökonomisch voll auf Edzard-Reuter-Kurs“ (damals Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG). Der vermeintliche Linke hatte nämlich wenige Monate zuvor eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, flexiblere Maschinenlaufzeiten und die Bereitschaft zur Samstags- und Sonntagsarbeit gefordert. Beliebt machte er sich mit diesen Forderungen bei den Gewerkschaften nicht.

Eine Jugendsünde? Keineswegs. Im Oktober 1998 – er war gerade Bundesfinanzminister geworden – beklagte er, „dass es viele Fälle gibt, in denen jemand hohes Arbeitslosengeld bezieht, obwohl Familieneinkommen und Vermögen da sind. Und ich frage nun, ob der Sozialstaat nicht besser so konstruiert sein sollte, dass nur die Bedürftigen Nutznießer des Sozialstaats sind.“ Die Konsequenz: Es solle radikal geprüft werden, wer tatsächlich bedürftig sei. So lieferte Lafontaine die Blaupause für die Hartz IV-Gesetze, die er sechs Jahre später bekämpfte.

In dieser politischen Wankelmütigkeit – man kann es auch politische Schizophrenie nennen – liegt das Erfolgs- und zugleich das Misserfolgsgeheimnis von Lafontaine. Jemand, der seine Karriere darauf aufbaut, öffentlichkeitswirksam gegen den Parteistrom zu schwimmen, gerät in dem Augenblick in die Bredouille, da er nicht länger als innerparteiliche Opposition agieren kann, sondern Teil der Regierung ist. Dann ist Loyalität verlangt, nicht Quertreiberei.

Hauptsache dagegen, gegen was auch immer: Lafontaine in action

Dass es Lafontaine daran mangelte, war allgemein bekannt. Den grundanständigen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel hatte er 1990 bis an die „Grenze der Selbstachtung“ gebracht. Einen weiteren Vorsitzenden, Rudolf Scharping, hatte er 1995 weggeputscht. Und als Lafontaine nicht mal ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg 1998 die Brocken hinschmiss, da ging es ihm auch darum, Gerhard Schröder maximal zu schaden.

Die PDS-Granden wussten also, worauf sie sich einließen. Aber wer auf dem Krankenbett liegt, greift nach jedem Mittel, das Genesung verspricht. Und das Wunder geschah: 2002 war die PDS mit 4 Prozent aus dem Bundestag rausgeflogen. 2009 erzielte die Linkspartei auf Anhieb fast 12 Prozent. Selbst in der ehemaligen Bundesrepublik überwand sie in jedem Bundesland die 5-Prozent-Hürde.

Doch das Ergebnis war zu gut gewesen. Auf einmal saßen für die Linken westdeutsche Sektierer wie die Hamburger Religionslehrerin Christine Buchholz im Bundestag. Wie unberechenbar solche Abgeordnete waren, zeigte sich im Herbst 2014. Milizen des Islamischen Staats (IS) nahmen die syrisch-kurdische Stadt Kobane unter Beschuss und standen kurz davor, sie einzunehmen. Die Kurden forderten Unterstützung von oben, sprich: Luftangriffe der Amerikaner, um den Vormarsch des IS zu stoppen. Der Hilferuf der Kurden hielt Christine Buchholz jedoch nicht davon ab, sich mit dem handgeschriebenen Plakat „Solidarität mit dem Widerstand in Kobane! US-Bombardement stoppen!“ ablichten zu lassen. Die Empörung unter Kurden war gewaltig. Am Ende gelang es ihnen mit amerikanischer Luftunterstützung, die IS-Truppen zurückzudrängen. Verloren aber hatte nicht nur der IS, sondern auch die Linkspartei, die sich fragen lassen musste, wie ein solches Irrlicht verteidigungspolitische Sprecherin hatte werden können.

Janine Wissler, die vermeintliche Vorzeige-Sozialistin

Aber es gab ja auch Wessis wie Janine Wissler, deren Vater Gewerkschafter und deren Mutter DKP-Mitglied gewesen war und die selber als Studentin im Baumarkt gejobbt hatte. Da schien die nötige Erdung und das entsprechende Klassenbewusstsein vorhanden zu sein. Auch dass es ihr im strukturkonservativen Hessen bei drei Landtagswahlen gelungen war, die 5-Prozent-Hürde zu nehmen (was die Linkspartei sonst in keinem westdeutschen Flächenland schaffte), sprach für sie. Da war es fast logisch, dass sie 2014 stellvertretende Parteivorsitzende wurde und 2021 sogar Bundesvorsitzende.

Doch die vermeintliche Vorzeigesozialistin hatte durch ihre westliche Prägung – vor allem an der Hochschule – einen Linksbegriff, der wesentlich weiter gefasst war als der eines DDR-geprägten Arbeiters. Das sollte sich 2023 zeigen, als sie dafür sorgte, dass die parteilose Carola Rackete auf Listenplatz 2 für die Europawahl 2024 nominiert wurde. Diese hatte sich nicht unbedingt als Klassenkämpferin hervorgetan, sondern war als inhaftierte Kapitänin eines Seenotrettungsschiffs 2019 bekannt geworden. Wisslers Absicht hinter dieser ungewöhnlichen Personalentscheidung: „Wir wollen uns noch stärker öffnen gegenüber sozialen Bewegungen.“

Solche Bewegungen sind vor allem für Bürgerkinder eine willkommene Spielwiese, ehe nach dem Studium vielen dann doch das Geldverdienen wichtiger ist. In seiner persönlich gefärbten Abrechnung „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ beschreibt der Autor Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“) ein Bildungsbürgermilieu, das sich links wähnt, aber keinerlei Bezug zur Unterschicht hat, geschweige, dass es Empathie für die „Prolls“ aufbrächte. Auch die Oberstleutnantstochter Carola Rackete ist Teil dieses Milieus.

Und mit ihr schließt sich der Kreis zu Oskar Lafontaine. Denn Carola Rackete gehört wie der Egomane von der Saar zu jenen Menschen, die nur bei „humanitären, kulturellen und ökologischen Fragen“ links sind. Doch genau auf jene bigotte Mittelschicht, die in den Städten den Klimaschutz missbraucht, um ihre Schrebergärten gegen den sozialen Wohnungsbau zu verteidigen, zielte Racketes Spitzenkandidatur ab. Wissler spekulierte darauf, dass gutsituierte Bürger mit schlechtem Gewissen (weil sie insgeheim ahnen, dass die Dritte Welt den Preis für ihren Wohlstand bezahlt) „Die Linke“ wählen würden.

Das war natürlich Wunschdenken. Die Linkspartei versuchte auf einem Terrain zu wildern, das seit jeher von den Grünen besetzt ist. Zugleich verprellte sie mit Rackete jene Stammwähler, die nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen sollen. Am Ende waren bundesweit nur 2,7 Prozent der Wähler bereit, ihr Kreuz bei den Linken zu machen.

Die innerlinke Schein-Harmonie

Die Harmonie, die seitdem herrscht, trügt. Wie Gregor Gysi im März 2022 erkannte: „Jeder, der links ist, meint, im Vergleich zu allen anderen hat er recht – und nicht die anderen. Deswegen sind die Kämpfe bei uns viel zu hart.“ Und die nächsten zeichnen sich bereits ab. Seit der Abspaltung des Wagenknecht-Flügels erlebt die Linkspartei vor allem im Westen eine wahre Eintrittswelle. Diese neuen, überwiegend jungen Mitglieder sind hochmotiviert; sie wollen Die Linke in ihrem Sinn verändern. Mit den Wurzeln der Partei – der PDS und der damit verbundenen politischen Bodenhaftung – wissen sie nichts anzufangen. „Ossi-Kram“ hat Wessis noch nie interessiert.

Der Erfolg bei der Bundestagswahl wird die Neulinge anspornen. Auseinandersetzungen mit den „Silberlocken“ – alten Recken wie Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow, die im Osten die pragmatische PDS-Linie fortgeführt haben – sind garantiert. Der Ost-West-Konflikt schwelt weiter. Ramelow – der Wessi, der zum Vorzeigeossi wurde – stellt bereits öffentlich die Frage: „Bin ich dabei, die Partei zu verlassen – oder verlässt meine Partei gerade mich?“

Frank Jöricke, Jahrgang 1967, ist Autor des antinostalgischen Nostalgiebuchs „Früher war alles anders“. Er schreibt für den „Playboy“, „Die Welt“, „Neues Deutschland“, „Trierischer Volksfreund“, „Cicero“ und „Freitag“. Seinen Durchbruch als Autor hatte er mit dem Roman „Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage“.

Schlagwörter: Die Linke, PDS, Oskar Lafontane, Gerhard Schröder, Christine Buchholz, Janie Wissler, Carola Rackete, Sarah Wagenknecht, Heidi Reichinnek

Folge uns und like uns:

Ein Gedanke zu “Wie Wessis die Linkspartei zerstörten

  1. avatar

    In der DDR gehörten 81 Prozent der Bevölkerung offiziell zur Arbeiterklasse. Daran schon kann man sehen, wie unmodern und durch und durch verlogen dieser Staat war. In der Bundesrepublik sind heute nicht einmal 30 Prozent der Beschäftigten Arbeiter, und von diesen 30 Prozent arbeitet die Mehrheit im Dienstleistungssektor, etwa als Paketboten, Fahrradkuriere, Verkäuferinnen, Servicepersonal, Kellner, Friseure usw.. Bei ihnen ist der Nationalismus stärker ausgeprägt als in anderen Berufsgruppen, der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten liegt dafür unter dem Durchschnitt. Die eigentliche Arbeiterpartei ist die AfD. Das hatte Sahra Wagenknecht durchaus richtig gesehen, aber ihr Versuch, eine Links-AfD aufzuziehen, ist gescheitert. Nicht Wessis haben die Linkspartei zerstört; sie hat einfach keine soziale Basis mehr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll To Top