Da ich vor den Feiertagen ein wenig erkältet war, habe ich das getan, was ich in solchen Situationen immer tue: ich zog mich in einen Sessel zurück und las einen Roman. Und da ich dabei war, dann noch einen.
Über die Romane will ich nicht viel sagen. Der erste war „Therapy“ von David Lodge, den mir irgendjemand vor 25 Jahren empfahl und der mich seitdem vorwurfsvoll und ungelesen vom Regal angeblickt hatte. Er ist ganz nett, aber das Happy End ist so ärgerlich wie das Happy End in dem ansonsten wunderbaren Weihnachtsfilm „Family Man“. Der zweite war „Here I Am“ von Jonathan Safran Froer, den– glaube ich – Alan Dershowitz in einer seiner Vorlesungen über die Entwicklung des Rechtsempfindens im Ersten Buch Mose empfohlen hat. „Here I Am“ ist ein viel besserer Roman als „Therapy“ (rein zufällig geht es in beiden um das Auseinanderfallen einer Ehe, rein zufällig ist die zentrale Figur in beiden Romanen Autor einer erfolgreichen TV-Serie), aber viel zu lang. Am Ende war ich am Rand einer Depression, und nicht nur, weil Froer die Ehe scheitern und den Familienhund einschläfern lässt, sondern auch, weil es zu einem existenziellen Krieg um Israel kommt, an dessen Ende sich das amerikanische Judentum weiter von Israel distanziert. Das ist mir denn etwas zu viel Realismus auf einmal.
Digital Detox
Aber darum geht es mir eben nicht, sondern darum, dass ich in der ganzen Zeit – also etwa seit dem 21. Dezember und bis heute – die sozialen Medien gemieden habe, vor allem X und Bluesky. Facebook habe ich nur kursorisch besucht. Digital Detox. Und es geht mir als Folge davon sehr viel besser. Wie das? Habe ich nicht gerade geschrieben, dass mich Froer beinahe in eine Depression gestürzt hätte? Ja. Aber eine Depression – sagen wir: eine Traurigkeit – ist hundertmal besser als die Wut und die Frustration, die ich nach jedem Besuch bei X oder Bluesky empfinde. Das Gefühl der Traurigkeit ist echter, tiefer, produktiver. Und: Es ist eben nicht Wut, das Dümmste aller Gefühle.
Die Droge X
Vor fast vier Jahren, im Februar 2022, schrieb ich Folgendes (ich habe vergessen, ob ich den Text irgendwo veröffentlicht habe):
Klar ist Twitter mehr Droge als Medium: Man wird süchtig nach „Likes“ und „Followern“, nach dem Kick des verbalen Austeilens knapp am Shitstorm vorbei. Wer mit Alkohol, Nikotin oder Kokain nicht umgehen kann, sollte von Twitter die Finger lassen. Der Algorithmus ist stärker als jede chemische Substanz.
In Maßen genossen aber ist Twitter wie ein Glas Wein: anregend, bewusstseinserweiternd, leicht enthemmend, gesprächsfördernd. Ich brauche Informationen über die Ukraine? Klar kann ich googeln, aber auf Twitter finde ich schnell Leute, die sich auskennen. Ich will raus aus meiner liberalen Blase? Schauen wir mal, was AfDler und Linke auf Twitter von sich geben. Ich will die neuesten Bilder vom Mars? NASA folgen.
Twitter ist zugleich wie eine Kneipe. Die meisten Gäste sind Dumpfbacken, mit Pseudonym unterwegs und wegen der Droge hier. Aber zu den Gästen zählen einige der witzigsten und interessantesten Leute des Planeten. Da stehen sie. Nichts wie hin, um sich in die Unterhaltung einzumischen.
Das klingt verdächtig nach den Ausreden eines Alkoholikers. Im ersten Absatz das „Zugegeben …“, in Absatz zwei und drei die Abers.
Drogen legalisieren heißt, sie regulieren
Man sollte eine Metapher nicht überbeanspruchen. Nehmen wir aber die Doppelmetapher Droge und Kneipe erstmal hin und sehen, was sie impliziert. Ich bin bekanntlich für „das Recht auf Rausch“, und das schließt nicht nur Alkohol, sondern auch andere Drogen ein, auf jeden Fall Cannabis, vielleicht die eine oder andere Partydroge, über die ich aber zu wenig weiß. Legalisierung heißt aber – und auch deshalb bin ich dafür – Regulierung. Wer regelmäßig trinkt – bleiben wir bei der bewusstseinsverändernden Substanz, die ich trotz gelegentlicher Einnahme von LSD und Cannabis am besten kenne – weiß zwar, dass er langfristig Leber und Hirn schädigt, aber die Ausmaße des Schadens kann er abschätzen, weil die Qualität alkoholischer Getränke staatlich reguliert ist. Er wird von ein paar Shots Whisky nicht blind; mit dem Wein nimmt er nicht Glykol zu sich. Herkunftsgebiet, Produzent, Alkoholgehalt und Inhaltsstoffe sind – ja, ja, diese EU-Bürokratie! – auf der Flasche vermerkt.
Auch Kneipen sind reguliert. Kinder zum Beispiel dürfen sie nicht betreten. Ihnen darf überhaupt niemand Alkohol verkaufen. Nur wenige würden die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme anzweifeln. Deshalb finde ich die Maßnahme der australischen Regierung, Kindern unter 16 Jahren den Besitz von Social-Media-Konten zu verbieten, vorbildlich und überfällig. Ja, Kinder kommen trotz Verbote an Alkohol, und ja, Kinder werden Wege finden, das Social-Media-Verbot zu umgehen. Aber wir laden Kinder trotzdem nicht ein, in der Kneipe mit uns zu trinken, und wir sollten sie nicht einladen, in die Kneipen der Social Media zu gehen. Wir sollten ihnen das so schwer wie möglich machen.
Der Algorithmus als gewissenloser Kneipier
Zumal Twitter und Co. – und ich schließe ausdrücklich die „linke“ oder alternative Variante Bluesky mit ein – besondere Kneipen sind. In normalen Kneipen bilden die Gäste ein Regulativ. Man trinkt, trinkt vielleicht auch zu viel, aber wird scheel angesehen, wenn man sich betrinkt. Twitter und Co, aber sind wie Ballermann. Nicht nur der Kneipier – der Algorithmus -, sondern auch die anderen Gäste – die Nutzer – scheinen bald jede Hemmung zu verlieren und einen anfeuern zu wollen, wie man sie ja anfeuert. Irgendwann kriegt man das Kotzen. Und kommt so sicher wie der Säufer so bald wie möglich zurück, um sich weiter beschimpfen zu lassen und andere zu beschimpfen.
Schlechte Laune als Lebensgefühl
Ich habe mich gefragt, woher die schlechte Laune kommt, der permanente Kater, unter dem die halbe Welt leidet. In Deutschland etwa beurteilten im November 57% der Bevölkerung ihre persönliche wirtschaftliche Lage als „gut“, weiter 34% als „teils, teils“, nur 10% als „schlecht“. Das wäre eigentlich ein Grund zum Feiern; mehr kann ein Wirtschafts- und Sozialsystem eigentlich nicht leisten. Aber nur 7% beurteilten die allgemeine Wirtschaftslage als „gut“, 42% meinten, sie sei „schlecht“.
Nun könnte man sagen, die Deutschen seien halt realistisch. Sie wüssten, dass es ihnen zwar augenblicklich gut gehe, dass aber dieser Wohlstand auf wirtschaftlich schwachen Beinen stehe. Aber das ist eben nicht realistisch. Als Helmut Kohl 1993 – also vor einer Generation – sagte, Deutschland sei ein „kollektiver Freizeitpark“, welcher Ökonom hätte damals zu prognostizieren gewagt, es würde der Mehrheit der Deutschen 32 Jahre später gut gehen?
Nein, wirtschaftlich realistisch sind die Deutschen nicht, wenn sie wirtschaftlich schwarzsehen. Ihren Mangel an Realismus zeigt sich auch an folgender Überlegung: Nur 11% der Bevölkerung verorten die höchste Wirtschaftskompetenz bei der AfD, etwa so viel wie bei Linken und Grünen zusammen. Das ist durchaus realistisch beurteilt. Aber wenn man sich Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft des Landes macht, warum würden laut Sonntagsumfrage 26% der Deutschen der AfD ihre Stimme geben? (Übrigens so viel wie SPD und Grünen zusammen.)
Bevor mir nun ein Leser vorrechnet, wie schlecht es doch um die Wirtschaft bestellt ist, und wie die Große Remigration plus das Anknipsen der ausgeschalteten AKW das Renten- und Pflegesystem retten und uns die durch faule und teils kriminelle Manager sowie Trumps Zölle und Putins Aggression verloren gegangenen Märkte in China und USA und billige Energiequellen in Russland zurückholen könnten: darauf kommt es nicht an. Die schlechte Laune ist kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Nehmen wir Großbritannien: Welches Volk, das auch nur halbwegs bei Sinnen wäre, würde erst für den Brexit stimmen, dann innerhalb von zehn Jahren, während derer sich die wirtschaftliche Situation gemäß den Vorhersagen der Brexit-Gegner verschlechterte, vier konservative Premierminister:innen (zwei Frauen, zwei Männer) verbrauchen, einem Labour-Premier eine gewaltige Parlamentsmehrheit geben, um knapp ein Jahr nach der Wahl sich mehrheitlich für die Partei jenes Mannes auszusprechen, der mit Lügen und falschen Versprechungen dafür gesorgt hat, dass es überhaupt zum Brexit kam? Eben.
Und selbst in den USA, wo Trump in seiner ersten Amtszeit zur Genüge bewies, dass er unfähig war und darum abgewählt wurde, stieg die schlechte Laune innerhalb von vier Jahren derart an, dass er – trotz des auch noch schlecht organisierten Kapitol-Sturms vom 6. Januar 2021 – wiedergewählt wurde; und nach einem Jahr schon bei Umfragen schlechter dasteht als irgendein Präsident vor ihm zu Beginn seiner zweiten Amtszeit.
Ich glaube, das hat viel mit den sozialen Medien zu tun. Wahrscheinlich könnte man sogar nachweisen, dass der Grad der schlechten Laune ziemlich genau mit der Nutzung der sozialen Medien korreliert. Wut und Frustration, Zügellosigkeit im Urteil und eine Art intellektuelle eiaculatio praecox sind Merkmale der Nutzer von X und Co., und es fällt schwer nicht zu glauben, dass Elon Musk, Mark Zuckerberg und Co. genau das miteinkalkuliert haben.
Vielleicht haben sie nicht miteinkalkuliert, dass sich die allgemeine schlechte Laune auch gegen jene Politiker richtet, die ihnen – wie die MAGA-Leute oder die AfD – mit Klagen wegen der Versuche, die sozialen Medien analog der Presse und dem Fernsehen zu regulieren den Weg bahnen. Denn die schlechte Laune ist destruktiv, ungerichtet, unbefriedigt jeden Augenblick, sie will ja nichts erreichen, sie will nur meckern. Sie macht aus Individuen Süchtige und zerstört Gemeinwesen.
Was tun?
Nun, wie schon angedeutet: Regulieren. Natürlich werden die üblichen Verdächtigen „Zensur“ schreien, tun sie jetzt schon, aber da sollten sich Demokratien nicht beeindrucken lassen. Einige Maßnahmen könnten sein:
Verbot der Nutzung für Kinder nach australischem Vorbild.
Anwendung des Presserechts. Demnach wären X und Co. nicht „Plattformen“, sondern Medien, und deren Besitzer für den Inhalt (Beleidigung, Fehlinformation) haftbar, oder doch mit haftbar. Und damit sie die Haftung teilen können:
Klarnamen-Zwang, um anonyme Denunziation, Hetze und Desinformation zu unterbinden.
Solche Regelungen mögen nicht überall sinnvoll sein. Es kann sein, dass es in Diktaturen oder Halbdiktaturen notwendig sein kann, einen Decknamen zu benutzen. Aber innerhalb der EU muss niemand befürchten, wegen seiner Ansichten staatlich verfolgt zu werden. Und kann, falls er oder sie von politischen Extremisten verfolgt wird, staatlichen Schutz beantragen. Die Demokratie ist bedroht. Aber sie wird nicht dadurch verteidigt, dass man sich hinter einer Internet-Burka versteckt.
Das Presserecht entstand auch nicht aus dem Nichts, sondern aus der Notwendigkeit, ein neues, gefährliches Medium halbwegs in den Griff zu bekommen, ohne sein demokratisierendes Potenzial zu ersticken. Es erwies sich als geeignet, ein weiteres neues Medium zu regulieren: das Fernsehen. Wir werden jedenfalls die asozialen Medien entweder regulieren oder weiter von ihnen reguliert werden.
Klingt alles gut und richtig, Herr Posener.
Einstweilen fühle ich mich ohne „Twitter“, „Facebook“ ,“Instagram“ oder „Tiktok“ sehr wohl. Es gibt doch zu viele Idioten da draußen.
Als Lektüre und Freude für die Augen für die ruhigen Tage empfehle ich Ihnen und allen ungefragt den Prachtband „Romantik. Fantasie und Sehnsucht“ von Norbert Wolf aus dem
Prestel-Verlag. Und als kurze Romane „Roderers Eröffnung“ von Guillermo Martinez oder „Maestro“ von Peter Goldsworthy.
Ihnen Glück und Gesundheit für 2026!