Als wir das von Liane Bednarz und mir geführte Interview mit dem neurechten Möchtegern-Intellektuellen Benedikt Kaiser auf „Starke Meinungen“ veröffentlichten, war ich auf einen Shitstorm in den asozialen Medien gefasst. Dafür sind deren Algorithmen da. Insofern haben mich die Unterstellungen und Beschimpfungen auf X und Bluesky nicht weiter berührt. Interessant waren jedoch einige der vorgetragenen Argumente.
„Ihr habt einem Rechten eine Plattform geboten“.
Ja, das haben wir. Aber die Rechtspopulisten, Rechtsextremen und Nazis – ich werfe sie hier alle in einen Topf, obwohl es gerade auf die Differenzierung ankommt – haben diese Plattform nicht nötig. Einem von ihnen, zugleich der reichste Mann der Welt, gehört die wichtigste Plattform der Welt: X, fka Twitter. Ein anderer, zugleich der mächtigste Mann der Welt, hat seine eigenen Plattform: Truth Social. Nazis und Islamisten, Links- und Rechtspopulisten, Terrorbefürworter und Moskauversteher, russische Chatbots und chinesische Datenspione tummeln sich auf Facebook, Insta, Telegram, TikTok und Co., und zwar seit Jahren.
Außerdem sitzt die AfD im Bundestag und im Europaparlament, die Reden ihrer Abgeordneten werden durch das Parlamentsfernsehen übertragen, und auf Staatskosten gedruckt und im Netz verbreitet. Auch in den bekannten Talkshows funktioniert keine Brandmauer mehr, kann man nicht dauerhaft über die AfD reden, statt mit ihr.
Mir ist das alles nicht recht, ich wünschte, die AfD gäbe es nicht, und Donald Trump, Wladimir Putin, die Mullahs in Teheran, die Hamas und deren postkoloniale Apologeten wären auch nur ein schlechter Traum. Aber es gibt sie, und wenn es eine Strategie gab, sie durch Totschweigen klein zu halten, so hat sie jedenfalls nicht funktioniert. Sich in dieser Situation aufzuregen, wenn ein Blog mit einer – leider – sehr überschaubaren Leserschaft einem rechten Autor eine Plattform bietet, um sich so gut es geht zu blamieren – nun das ist noch blamabler als alles, was Herr Kaiser von sich gegeben hat.
Repressive Toleranz und echte Toleranz
In einem Artikel für WELT, in dem ich das Urteil gegen einen linken Schüler wegen Beleidigung eines Bundeswehr-Jugendoffiziers kritisierte, schrieb ich: „Frustriert schimpften radikale 68er über die ‚repressive Toleranz‘ der Bundesrepublik: Weil man alles sagen dürfe, hätten die Bürger keine Lust auf Revolution. Anscheinend haben einige Organe der Staatsmacht diese Lehre vergessen.“
Auf X (wo sonst?) kritisierte der linke Publizist Ole Nymoen, ich hätte den Begriff der repressiven Toleranz falsch verstanden. Ich war versucht zu entgegnen, er sei bloß sauer, weil ich ein Kinderbuch von ihm als vulgärmarxistisch (und „abgrundtief bescheuert“) kritisiert hatte.
Aber Nymoen hat Recht. Der Begriff stammt von Herbert Marcuse, dem Guru der 68er, die ihn aber – und da schließ ich mich als Spät-68er ein – nur selten aufmerksam lasen. Er forderte nämlich 1965, dass „rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, dass Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten)“; das wäre nämlich „befreiende Toleranz“; repressive Toleranz sei nämlich die damals im Westen herrschende Situation, in der nicht nur der Krieg in Vietnam, sondern auch die Apartheid in den Südstaaten und alle möglichen Formen der Unterdrückung toleriert würden.
In guter Orwell’scher Manier sagt Marcuse also: Toleranz ist Intoleranz; Intoleranz ist Toleranz, Freiheit ist Unterdrückung; Unterdrückung ist Freiheit. Kein Wunder, dass Nymoen, der für ein Magazin namens „Jacobin“ schreibt, also anscheinend die Leute bewundert, die 1793/4 das Toleranzproblem in Frankreich mit dem Fallbeil lösten, nicht amüsiert ist, wenn ich die repressive Toleranz bemühe, um ein Urteil gegen einen dummen Jungen als übertrieben zu kritisieren. Linke, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, verdienen „befreiende Toleranz“, Rechte und Konservative nur Repression.
Und willst du nicht ein Linker sein, so schlag ich dir die Fresse ein
Darauf läuft es nämlich hinaus: Zuerst fordert man eine Brandmauer gegen „rechts“, wobei darunter alles fällt, was rechts der Merkel-Fraktion in der Union ist; dann wird per Kontaktschuld gegen jene „Konservativen“ und „rückschrittlichen Bewegungen“ gehetzt, die es wagen, Toleranz auch für jene „Scheiß-Liberale“ (68er-Sprech) zu fordern, die nicht der Ansicht sind, dem Sozialismus gehöre die Zukunft. Antonio Gramsci wollte die geistig-moralische Hegemonie im vorpolitischen Raum; ist sie aber in weite Ferne gerückt, wie gegenwärtig, tut es die gute alte Repression auch. Wehret den Anfängen!