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Selbstmord! Dörf’n die d’nn das?

Die Kessler-Zwillinge, geboren in Nerchau (sächsisch: „Nerche“), heute ein Ortsteil von Grimma, sind gestorben. Alle beide. Am gleichen Tag. Im Alter von 89 Jahren. Alle beide.

Darf man so was überhaupt machen bei uns im christlichen Abendland? Falsche Frage, denn das „darf man“ auch im christlichen Morgenland „nicht machen“. Also dort, wo das orthodoxe Kreuz überm Zwiebelturm prangt. Fahren Sie doch mal an die chinesische Grenze nach Chabarowsk am Amur und fragen Sie den dortigen Popen. Er wird es Ihnen bestätigen: Das gehe gar nicht!

Warum eigentlich nicht?

In der Bibel ?

Können Sie mir ein einziges Gebot oder Verbot, nur eine einzige Mizwa in der Bibel nennen, die da heißt: „Du sollst Dir nicht das Leben nehmen“?

Können Sie nicht, gelle?

Aber Religionen sind kein Guß aus Urzeiten. Auch „unsere Religion“, die des christlichen Abendlandes,  ist nicht das, was Gott der Herr vor dreitausendzweihundert Jahren oben auf dem Berg Horeb spruch. Oder was Jesus als das Evangelium verkündete. Religionen entstehen auch nicht dadurch, dass der Prophet Moroni am 21. September 1823 altägyptische Inschriften auf Goldtafeln in den New Yorker Slang übersetzte. Oder indem der Engel Gabriel ein heiliges Buch offenbart.

Wie dann?

Religionen haben ihre Entwicklungsgeschichte. Glaube antwortet auf anderen Glauben. Schließt sich ihm an oder widerspricht ihm. Verwirft ihn als Ketzerei.

Die Erzketzerei unseres christlichen Abendlandes (und auch die des christlichen Morgenlandes) ist das Katharertum. Davon kommt dann auch die Verdeutschung „Ketzer“.

Die Katharer oder Albigenser lehrten es im Mittelalter in Südfrankreich und Norditalien und ihre Brüder, die Bogumilen lehrten es auf dem Balkan: Böse sei die Welt, erschaffen von einem Erzbösewicht. Beherrscht werde sie von einer bösen Kirche mit bösen Bischöfen, die alle dem Erzbösewicht dienten. Alles hoffnungslos. Der einzige Ausweg daraus sei der Tod und das Entschwinden ins himmlische Elysium. Zu erringen in einer hochheiligen Handlung: Der Endura, auch genannt „abstinentia“.

Der Heilige legt sich zur abstinentia hin, isst und trinkt nicht mehr und wartet auf das Himmelreich. Selbstmord durch Verhungern, gewissermaßen. Einzelne Akten der Inquisition behaupten, die Ketzer hätten auch Kinder so in den Tod geschickt.

Geht gar nicht, oder? Wo Gott der Herr den Menschen doch nach seinem Bild geschaffen habe und er allein über Leben und Tod entscheide?

Der Agnostiker in Ihnen wird jetzt fragen: Ist dem so? Hat Gott den Menschen erschaffen? Oder schuf der Mensch sich seinen Gott? Nach seinem Bilde?

Was müssen das für furchtbar lebensmüde Menschen gewesen sein, diese Katharer, dass sie den Tod herbeisehnten? Müde vom Leben, kein Ausweg aus dem Elend, in das sie gedrückt waren, oder?

So etwas gibt es keineswegs nur im Vorgestern. Als ich 1993 in St. Petersburg meine Wahlstation im Referendariat ableistete, habe ich sie auch dort gesehen: Die jungen Männer in den langen weißen Gewändern, die in den U-Bahn-Stationen standen und ihre Prophetin Maria Devi Christos verkündeten. Am 24. November 1993 werde die Welt untergehen, wussten sie.

Tatsächlich war auch mir im Sommer 1993 nicht so recht klar, wie es hätte weitergehen können auf den Trümmern des Sowjetimperiums. In diesem Elend, in dem ein Stück Butter eine halbe Monatsrente der Babuschkas kostete und die Inflation mit 1000 % im Jahr galoppierte.

Verboten?

Sich umbringen verboten?

Noch mal: Finden Sie mir bitte ein einziges Gebot in der Tora, im „Alten Testament“, welches das verbietet!

Da finden Sie allenfalls das Verbot, die Toten zu befragen. Zu fragen, wie es denn im Elysium so sei, zum Beispiel. Was nicht gefruchtet hat, offensichtlich. In unseren Zeitungen und sogar auf diesem Blog finden Sie immer wieder Experten, die sehr präzise wissen, was dieser oder jener Verstorbene uns zu sagen wünsche. Als Kommentar zum Tagesgeschehen aus dem Totenreich, gewissermassen.

Nein, die Bibel weiß nichts Genaues über die Toten und das Jenseits und will es gar nicht wissen. Im Gegensatz zu den Mythen in Israels Umgebung, den Mythen der alten Ägypter und Babylonier.

Das schrieb ich ja schon:  Glaube antwortet auf anderen Glauben. Schließt sich ihm an oder widerspricht ihm. Verwirft ihn als Ketzerei.

Christliches Verständnis widerspricht der abstinentia der Ketzer besonders heftig:

Selbstmord sei ein Verbrechen, so sagen die Kirchen.

Wie sähe die Strafe aus?

Logisch, dass die Bibel nicht beschreibe, wie der Selbstmörder zu steinigen sei, sagen Sie? Er sei ja schon tot?

Aber das wäre jetzt ein Gedanke der Aufklärung. Cesare de Beccharia legte ihn dar in seinem Buch über die Verbrechen und Strafen von 1764. Auf deutsch erschienen ab 1766 in mehreren Übersetzungen.

Man könne sowieso  nur den versuchten Selbstmord bestrafen, so Beccharia. Aber das wäre sehr ungerecht gegenüber dem Geretteten. Oder es würde den Strafzweck verfehlen. Weil der verhinderte Selbstmörder bei Bestrafung unverzüglich den nächsten Versuch unternehmen wird.

Man könnte die Angehörigen bestrafen. Wegen ihres Wegsehens oder gar Mithelfens beim Selbstmord. Mit dem Entzug aller Erbrechte bestrafen, zum Beispiel. Aber das wäre noch ungerechter.

Doch, Selbstmord war trotz allem bis in das vorige Jahrhundert hinein strafbar in einigen europäischen Ländern. Und „Beihilfe zum Selbstmord“, das sei so eine „Grauzone“, über die selbst die „Welt“ sich nicht einig ist.

Warum eigentlich ?

Schön, dass auch wir mal darüber geredet haben.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

27 Gedanken zu “Selbstmord! Dörf’n die d’nn das?;”

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    Lieber Hans,

    ich nehme an, Sie meinen mit Euthanasie den Altenmord, den Krankenmord und den Mord an Menschen mit Behinderung. Eigentlich tut man dem Begriff damit unrecht, dass man ihn auf seine Indienstnahme im Nationalsozialismus verengt, denn er ist älter und weitläufiger. Aber das nur am Rande.

    Sie werden sich nichts vormachen und selbst erkennen, dass Ihre Argumentation inkonsequent ist: Ja, das Alte Testament ist kulturelle Gedächtnisgeschichte. Andererseits ist das darin Berichtete sehr konkret; sind die Texte auch für konkrete Zwecke entworfen (Geschichtsbericht, Rechtsgebrauch, Propaganderzählung und Einiges mehr). Konkret war es auch für Jesus und die Apostel, denn sie setzten sich damit auseinander, beriefen sich darauf. Ob es sich um tatsächliche Ereignisse handelt, ist eine andere Frage. Heute sehen das in Europa selbst die Verbissensten meist nicht mehr so. Tatsache bleibt: Das Tötungsverbot ist offensichtlich in der Geschichte des Judentums lange nicht so ernst genommen worden, wie man es angesichts der Absolutheit der Formulierung erwarten würde. Und diese Diagnose gilt unabhängig davon, ob man in den Texten Tatsachenberichte sieht oder mehr die Absichten von Chronisten. Man muss dafür auch kein Hebraist sein.

    Es amüsiert mich, dass Sie sich einerseits auf Augustinus berufen, der ja nichts Anderes getan hat, als das römische Konzept vom gerechten Krieg in die christliche Dogmatik einzubinden, während Sie andererseits fürchten, durch Abweichung vom Tötungsverbot bei Abtreibungen und Sterbehilfe würde uns die „Euthanasie“ drohen.

    Denn: Wer entscheidet, wann Notwehr berechtigt ist? Bis wohin sie reicht, was sie darf? Wann wird die Selbstverteidigung zur Aggression? Gegen was darf man sich überhaupt zusprechen, im Verteidigungsmodus zu sein, und was muss man ertragen? Wie ich Ihnen an anderer Stelle schon einmal sagte: Der eigene Hass ist immer gerechter Zorn, die eigene Aggression immer verzweifelte Abwehr. Es hat in den letzten zweitausend Jahren mit Sicherheit keinen Krieg gegeben, in dem der Agressor sich nicht für bedroht gehalten hat. Augustinus löst also nichts – außer den in der Bergpredigt geforderten Gewaltverzicht theologisch auf.

    Freilich: Jesus hat in der Bergpredigt ebenso gesagt „Gebt nicht das Heilige den Hunden; werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie diese nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.“ (Mt 7,6) Eigentlich hat man es als Christ also (wie ich finde) gar nicht so schwer, zu erkennen, dass auch absolute Formulierungen mehr Anspruchshaltungen darstellen und Vorsicht und Vernunft nicht außer Kraft setzen.

    Aber darum ging es Augustinus auch nicht. Es ging ihm darum, das Christentum als staatstragende Ideologie tauglich zu machen, und dieses Ziel hat er erreicht. Wo immer Christen im Namen Jesu Länder erobert und Völkermorde verübt haben, war Augustinus mit dabei. Das gilt bis heute.

    Beim Thema „Notwehr und Selbstverteidigung“ muss man den Dammbruch also fürchten, Hans. Er passiert verlässlich in allen Kriegen unserer Zeit. Bei Sterbehilfe hingegen nicht. Denn man kann es gut und schlüssig begründen, warum ein unheilbar Krebskranker selbstbestimmt sterben dürfen sollte, ein depressives junges Mädchen aber nicht. Warum zwei verdiente Künstlerschwestern, die die durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Generation weit übertroffen haben und sich am Ende eines beschwerlichen Weges nicht trennen wollen, gehen dürfen. Einen Leidensdruck und seine Lösbarkeit sowie die Chancen, die das Leben einem Menschen noch bietet, kann man im Allgemeinen sehr gut ins Verhältnis setzen.

    Vielleicht sagen Sie: Das mag die Gegenwart sein; was aber, wenn das Konzept in einer schlechteren Zukunft etabliert ist und in grausamen Händen pervertiert wird? Ich denke, dieses Risiko dürfen wir eingehen. Denn dort, wo die Pervertierung tatsächlich stattgefunden hat – im Dritten Reich insbesondere – lag das an vielem. Aber sicher nicht daran, dass Sterbehilfe damals legal, tabubefreit und selbstverständlich gewesen wäre. Formal war sie die ganze Zeit strafbar.

    Das eigentlich Unbequeme für Hardliner ist ja, dass die Bibel hier – wie gesagt – eben nicht ohne Weiteres Antworten liefert. Ist das für Sie Klugscheißerei? Bitte, gern geschehen.

    1. avatar

      @M.S.

      … Sie argumentieren ideologisch. Ihre Auffassung zur Sterbehilfe verrückt Maßstäbe.

      Die ‚Kirche Christi‘ hat keine ‚Länder erobert und auch keine Völkermorde‘ verübt.

      Das beste Beispiel für Augustinus‘ ‚gerechten Krieg‘ sind die Kreuzzüge der christlichen Völker des Abendlandes. Sie waren strategisch, religiös und wirtschaftlich motivierte Verteidigungskriege.

      … im Übrigen, werter M.S., Hass, Zorn und Aggression sind mir fremd.

  2. avatar

    Man findet in der Bibel auch kein explizites Verbot von Abtreibungen oder Waffenlieferungen. Im Gegenteil, sogar eine Reihe von Stellen, die sich im Sinne eines pragmatischen Umgangs mit beidem deuten lassen.

    Andererseits, lieber Bodo Walther, werden konservative religiöse Menschen, die Selbstmord (oder Sterbehilfe, was ein erheblicher Unterschied ist) missbilligen, sich mit einer Gesamtsichtung des Textes und einer Verhältnisbestimmung oder gar einer kritischen Einordnung der Entstehungsumstände meist gar nicht erst aufhalten. Abtreibungsgegner und „Pazifisten“ tun das ja auch nicht. Ich wage die These, dass in 90% der Fälle die bewussten Menschen, denen Ihre Eingangsfrage gestellt wird, auf das fünfte Gebot verweisen werden.

    Warum auch nicht? Absolute Sichtweisen sind so bequem wie hartnäckig.

    Dass die Bibel nichts Genaues über die Toten und das Jenseits wisse, scheint mir ziemlich dick aufgetragen. Zum Mindesten für das Neue Testament ist es völlig unrichtig, dass sich dort keine klaren Aussagen über das Leben nach dem Tode und das Ende der Welt fänden. Das Alte Testament ist da vager, aber mehr im Sinne eines Diskurses: Ob es nun ein Totenreich gibt oder der Tod ein bloßer Zustand der Ruhe ist, bleibt uneindeutig.

    Aber ich nehme an, das war auch nicht Ihr Punkt. Sondern: Dass ein Selbstmörder mit Strafe zu rechnen habe, dass seine Handlung missbilligt werde, kann man aus der Bibel nur auf dem Weg der Exegese herauslesen, durch Ableitungen und Übertragungen allgemeiner Aussagen ins Spezifische. Dem stimme ich zu.

    Was die Inquisition über die Ketzer behauptet, ist ein Kapitel für sich. Mir persönlich erscheinen die Katharer als Pragmatiker: Da die Welt böse ist, was den menschlichen Körper und seine Bedürfnisse einschließt, können nur wenige Erlesene sich dem Bösen entziehen. Die Übrigen müssen die Askese für den Großteil ihres Lebens gar nicht erst aufnehmen – es genügt, wenn sie die auf den letzten Metern „rein“ gewesen sind. So gesehen, war das Katharertum äußerst lebensbejahend.

    Die Grenzen zwischen Selbstzucht und Selbstmord sind ohnehin fließend. Wer hat die frommen Katholiken gezählt, die infolge von Bußübungen gestorben sind, oder die dadurch ihr Leben unzweifelhaft verkürzt haben? Sie dürften Legion sein.

    Ich halte es als gläubiger Mensch nicht für eine Sünde, einen Tod zu beschleunigen, der nahe erwartbar oder bereits im Eintreten begriffen ist. Sprechen sollte man darüber, wann das der Fall ist, nicht, ob es das geben kann.

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      Askese, lieber Matt Sand,

      ist meiner bescheidenen theologischen Kenntnisse nach nichts spezifisch Jüdisches (obwohl dort auch das Ernähren von Wurzeln und wildem Honig bekannt ist). Es kommt, denke ich, aus dem persischen und griechischen Umfeld. Im Letzteren aus der Stoa ?

      Mein Lieblingsasket ist übrigens Simon Stylites (der von der Säule). Er haßte den Leib, in dem seine arme Seele gefangen war so sehr, dass ihn seine Mitbrüder aus dem Kloster vertrieben. Weil er so unausstehlich stank.

      Er verbrachte die letzten 30 Jahre seines Lebens oben auf einer Säule. An der frischen Luft, gewissermaßen.
      https://www.heiligenlexikon.de/BiographienS/Simeon_Stylites_der_Aeltere.html

      1. avatar

        Da haben Sie völlig Recht, lieber Bodo Walther. Wobei wir in unserer Alltagssprache die Askese wohl unvollständig erfassen, wenn wir damit vor allem Einschränkung und Mangel verbinden; denn was er eigentlich bedeutet – Übung – muss ja nicht Leiden beinhalten. (Nur Heuschrecken und Honig erscheinen mir auf Dauer ernährungsphysiologisch heikel, aber nur Wasser und Brot wären sie vermutlich vorzuziehen.)

        Heute würden wir Simon Stylites vermutlich als hilfsbedürftigen Kranken ansehen. Ich bin so korinthenkackerisch, darauf hinzuweisen, dass unter Ihrem Link der Gestank nicht erwähnt wird – aber voraussetzen dürfen wir ihn wohl. Dass ein Mensch es schafft, sechs Tage ohne Nahrung zu überleben, wenn er gut genährt ist und zuvor geschlemmt hat, kommt mir nicht unmöglich vor. Vielleicht auch ein paarmal hintereinander. Aber das über Jahrzehnte durchzuhalten, bei Wind und Wetter, ist definitiv unrealistisch, ebenso wie vierzigtägige Fasten.

        Wer war der Mann also? Ein Mensch mit Todessehnsucht? Ich bin geneigt, das zu glauben. Auch wenn viele Einzelheiten seiner Lebensführung sicher ins Reich der Legende gehören: Das Volk hat etwas zugesehen, das man durchaus als öffentlichen Selbstmord klassifizieren könnte, wenn auch sehr gedehnt.

        So viel denn auch zu Ihrer Frage „Dürfen die das?“ Für manche Menschen ist eine Selbsttötung offenbar akeptabler, wenn sie beobachtbar ist und lange dauert. Auch wenn der betroffene Mensch durchaus Optionen gehabt hätte.

      2. avatar

        Lieber Matt Sand,

        über die Stoa hinausgehende Leibfeindlichkeit (also mehr als eine Fastenübung), ist meines bescheidenen Wissens nach ein Import aus dem Osten. Sie geht immer parallel mit einer Vorstellung von einem Rad der Wiedergeburt als ewige Strafe. Das ist fester Bestandteil des Hinduismus in Südindien. Daraus schöpfend dann auch des Zoroastrismus in Persien. Von dort schwappte es rüber in die jüdische und christliche Welt. In die christliche Welt schwappte es (auch) mit dem Perser Mani, davon dann die christliche Version der Manichäer. Und daraus wiederum schöpfen die Katharer und Bogumilen.

        Zu Letzteren habe ich mal einen Professor für Kirchengeschichte gefragt, ob ihre Lehre nicht vielleicht immer auch in der alten Kirche gelebt habe. Und sie sich gewissermaßen erst im 11. Jahrhundert aus der Kirche herausbewegt hat.

        Er meinte, ja das könne sein. Solche Leibfeindlichkeit finde sich auch beim „Kirchenvater“ Origenes.

        Von den Katharern ist uns als einziges Eigenzeugnis die „interrogatio johannis“ überliefert:
        https://de.wikipedia.org/wiki/Interrogatio_Johannis

        Als Lateinschul-Anfänger weiß ich schon, dass „rogare“ das lateinische Wort für „fragen“ ist. In dem Buch beantwortet Jesus Fragen an seinen Lieblingsjünger Johannes:

        Der Mensch sei eigentlich ein aus dem Himmel gefallener Engel. Gefangen in einem Menschenleib, aus dem er sich wieder frei machen müsse.

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    Wie auch immer die Religionen bzw. die Religiösen darüber denken – das Grundgesetz ist hier völlig klar. Das Verfassungsgericht hat erinstimmig (! Seltenheitswert) geurteilt: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (…) Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. “
    https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html

    Die Vorstellung, dass ein anders zusammengesetztes Verfassungsgericht zu einem anderen Urteil käme, ist angesichts der Einstimmigkeit ziemlich abwegig. Auch Interpretationsmöglichketen sind nicht grenzenlos, sondern an den Wortlaut gebunden. Auch lässt sich die Verfassung nicht z.B. mit Zweidrittelmehrheit so abändern, dass sich eine andere Folgerung ergeben könnte, da die stützenden Artikel 1 und 2 „Ewigkeit“ beanspruchen, d.h. nicht legal modifiziert werden können.

    Also ja: „Die doerfn das“.

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      Völlig unabhängig davon, lieber Roland Ziegler,

      dass ich mich für einen religiösen Menschen, einen Gläubigen halte, …
      Unabhängig davon halte ich die Geschichte der Bildnisse, die sich Menschen von Gott machten, …
      Halte ich die Kirchengeschichte auch für eine Rechtsgeschichte. Das habe ich versucht, darzustellen.

    2. avatar

      @R.Z.

      … wie das Urteil mit der Präambel im GG – im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … – übereinstimmt, weiß allein der Deibel. Oder?

      1. avatar

        Bevor wir uns jetzt zu Universalgenies aufschwingen, die auch in Gesetzesdingen besser Bescheid wissen als die Experten, sollten wir vielleicht besser das einstimmige Urteil dieses höchsten Gerichtes akzeptieren. Dieses Urteil stellt keine absoluten Wahrheitsansprüche, sondern zieht Folgerungen aus einem Text. Ganz einfach. Würde bedeutet Selbstbestimmung, auch im Tod.
        Und daraus wiederum folgt, dass man sich nicht auf dem Boden des GG befindet, wenn man z.B. aufgrund eines Glaubens-Dogmas oder aus welchen Überlegungen auch immer anderer Meinung ist und Sterbehilfe verbieten will. (Verbote und Übergriffe gegen den Willen anderer stehen doch sonst auch nicht so hoch im Kurs?)
        Dieser Meinung, dass Sterbehilfe eigentlich verboten gehört, darf man aber gerne sein. Vielleicht findet man dafür auch ein paar Argumente oder wenigstens eindeutige Textstellen aus heiligen Büchern. Dann kann man mit den Theologen diskutieren, was „Verantwortung vor Gott“ denn bedeutet. Das kann alles mögliche bedeuten. Nur ist man dann nicht mit dem GG konform. Soviel Konsequenz und intelektuelle Redlichkeit sollte sein.

      2. avatar

        R.Z-: Bevor wir uns jetzt zu Universalgenies aufschwingen, …

        … ähm, werter R.Z., ‚wir‘ geht gar nicht. Und nix für ungut, noch mal langsam von vorn lesen, nicht ich, das Urteil befindet nicht ‚auf dem Boden des GG‘.

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    Ja ist das denn zu fassen? Und das von einem Juristen! Kein Link zu einer Suizidberatung?

    Kein Warnhinweis:

    „Wir berichten nur in Ausnahmefällen über Suizide, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn sie Suizid-Gedanken plagen, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlose Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123. Die Deutsche Depressionshilfe ist in der Woche tagsüber unter 0800 / 33 44 533 zu erreichen.“

    Hab ich hier gefunden:

    https://www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-ueber-suizide-die-richtigen-worte-finden-100.html

    Ja so ist das rechtlich und auch vom Bundesverfassungsgericht höchstrichterlich bestätigt.

    Aber ich habe dabei immer ein wenig Magengrimmen. Wenn man noch einigermassen klar im Kopf ist und das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, hab ich dafür ein gewisses Verständnis.

    Was ich immer problematisch fand, waren Leute wie Walter Jens, der verkündete, er wolle lieber sterben, wenn er einen Punkt erreicht habe, wo er so verwirrt seien, dass er nicht mehr wisse, wer er sei, wo er sei und wenn er seine Familie nicht mehr erkenne.

    Sowas habe ich auch von anderen – vor allem Männern – dieser Generation gehört und da habe ich mich immer gefragt, ob das nicht der unmenschlichen und auch unchristlichen Ideologie des „unwerten Lebens“ entsprang.

    Sie schreiben das alles sehr schön formuliert und gut begründet. Ja, das ist schön, wenn man so etwas schreiben kann und zeugt von Ihrem Intellekt.

    Aber auch wenn das Hirn verfällt, bleibt man Mensch, und mich überzeugen die Worte des dementen Walter Jens genauso wie Ihr schöner Text, als er zu seiner Frau die Worte sagte: „Nicht totmachen, bitte nicht totmachen!“

    https://www.morgenpost.de/printarchiv/kultur/article104306297/Walter-Jens-Bitte-nicht-totmachen.html

    Ich weiss nicht, ob ich noch an Gott glaube und die Einzigartigleit der Schöpfung. Wenn ich über diese Geschichte von Walter Jens nachdenke, eher schon.

    Lieber Herr Walther,

    ich wünsche ein sonniges Wochenende!

    Ihr 68er

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      Lieber 68er,

      der Tod ist gross. Und wir wissen gar nichts über das Danach.

      Eine meiner drei Schwestern macht Palliativmedizin. Gibt Sterbenden das Morphium gegen die Schmerzen.

      Nach dem 500ten Todesfall wollte sie mal aufhören. Aber sie ist wohl schon drüber.

      Wer an ein Danach glaubt, tue sich leichter den Tod anzunehmen. Das weiss sie.

      Schönes Wochenende!

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        Als junger Mensch habe ich mir immer gesagt, der Tod sei dadurch definiert, dass ich mich selbst nicht mehr als ich srlbst wahnehmen könne und frech behauptet:

        Ich glaube erst an den Tod, wenn ich tot bin, und wenn ich das noch mitbekomme, bin ich ja nicht tot.

        Das ist natürlich eine formal falsche Argumentation, welche die zwei Wortbedeutungen von Tod gegeneinander ausspielt.

        Das Problem, dass wir Menschen haben, ist eher das des Sterbens und Verlassens bzw. des Verlassenwerdens bzw. des sich Auflösens oder der sich auflösenden Autonomie.

        Ich finde es schön, dass Sie dazu beitragen, dass die SM sich nicht weiter auflösen.

        MfG

        68er

    2. avatar

      Aber die Unterschiede zwischen Suizidassistenz, aktiver Sterbehilfe und „Vernichtung unwertem Lebens“, wie es die Nazis getan haben, sind doch auch klar? Letzteres ist sogar ein diametraler Gegensatz. Ich kann gar nicht nachvollziehen, wie man das durcheinanderbringen kann. Man bringt doch auch sonst nicht Gegensätze durcheinander, sondern allenfalls ähnliche Dinge.

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        Lieber EJ,

        ich versuche es noch einmal. Gerade die Generation meiner Eltern und Grosseltern sind mehr oder weniger von dem Gedanken geprägt worden, dass Menschen, die angeblich keinen Beitrag zur Gesellschaft leisten, unnütze Leben seien. Mein Urgrossvater erhängte sich in der Nazizeit, weil er seiner Familie nicht zur Last fallen wollte. Wo sehen Sie da einen Gegensatz?

        MfG

        68er

      2. avatar

        Ich bin nicht EJ, aber Ihre Frage nach dem Gegensatz richtet sich ja an mich: Die Nazis haben „unnützes Leben“ ausradiert, normalerweiser gegen den Willen der Ausradierten. Bei der Suizidassistenz geht es darum, Mensch, die sterben möchten, zu helfen. Nicht darum, das Leben als unwert abzuwerten Im Gegenteil: Es geht ja gerade um die Würde. Die wird gestärkt. Größer kann der Gegensatz eigentlich nicht sein. Bei den Nazis wurde die Würde abgeschafft. Bei der Sterbehilfe versucht man, den Willen und die Entscheidung eines Menschen zu unterstützen, bei den Nazis wollte man Menschen gegen ihren Willen beseitigen, also ermorden. Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung – das ist der Gegensdatz.
        Im Fall der „Kessler“-Zwillinge – das Beispiel, um das es hier geht – betrachtet niemand das Leben der Kesslers als unwert. Auch die Kessler selber nicht, so weit ich das beurteilen kann. Sie wollten am Ende ihres Lebens gemeinsam sterben. Das hat mit dem „unwerten Leben“ der Nazis so wenig zu tun wie… (ich verkneife mir lieber ein Beispiel).

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        Der Tod, lieber Roland Ziegler,

        ist das letzte Kapitel des Romans, den irgendwann jeder erfindet und den er dann für sein Leben hält. Die unzertrennlichen Kessler-Zwillinge sind so ein Roman.

        Oder ein 71-jähriger Kaiser, der seinen letzten Atemzug haucht im Heiligen Krieg. Auf dem Weg zum oder vom Heiligen Land. Als Opfer für das Gute wie Fritze Rotbart.

        Manchmal schreibt das Leben selbst das letzte Kapitel. Wie beim ollen Franz Josef Strauß. Herzinfarkt bei der Hirschjagd. Wie sich das für einen bayrischen Kurfürsten gehört.

        Ganz beliebt ist auch der Roman, in dem der weise alte Patriarch die Nachwelt an sein Sterbebett ruft, um noch einmal seine Lebensweisheit zusammenzufassen.

        Gunnar Heinsohn hat uns „kurz vor seinem Tod“ so was als Video hinterlassen. Na ja, den Rest reimen Sie sich jetzt mal zusammen. Reden wir nicht darüber.

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        Der Tod kann nicht das letzte Kapitel sein, denn „den Tod erlebt man nicht“. Das Sterben ist das letzte Kapitel. Die wenigsten schreiben dieses letzte Kapitel selber, sondern lassen es sich einfach irgendwie anfertigen. Von Ärzten normalerweise, denn so etwas wie einen „natürlichen Tod“ gibt es nicht (oder kaum), stattdessen Apparate-, und Paliativmedizin und unendliche Mengen an Medikamenten. Das ist ja auch gut so und völlig legitim. Die Sterbehilfe ist lediglich eine Option, die hinzukommt. Niemand muss die nutzen. Jeder kann sein Ende mit sich, seinem Gott, den Ärzten oder wem auch immer abmachen. Es sind heute ca. 0,1 % aller Sterbefälle, die diese zusätlziche Option nutzen und durch Sterbehilfe aus dem Leben scheiden. Und etliche der 99,9% wollen diesen 0,1 % ihren Weg verbauen.

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        Ja, das Sterben meinte ich auch.

        Übrigens verkürzt meist auch Palliativmedizin das Leben. Und dass Sie mich nicht falsch verstehen: Ist „trotzdem“ richtig.

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        Ja, genau. Und im Krankenhaus wird die Maschine auch oft einfach ausgeknipst. Heimlich, wenn klar ist, dass das keinen Zweck mehr hat.

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    B.W. ‚Verboten?
    Sich umbringen verboten?
    Noch mal: Finden Sie mir bitte ein einziges Gebot in der Tora, im „Alten Testament“, welches das verbietet!

    … schon geschehen. … irgendwann werden auch Sie die Gelegenheit haben das auszudiskutieren. 😉

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      Ich bin ja immer wieder bass erstaunt, lieber Hans:

      Hat David vom fünften Gebot nichts gewusst, als er Goliath tötete? Hatte Gott einen großzügigen Tag?

      Bei der Weihe des Salomonischen Tempels, lesen wir im Ersten Buch der Könige, wurden nicht weniger 22.000 Rinder und 120.000 Schafe geopfert. Gar nicht zu reden von den Libanonzedern, die für den Bau gefällt wurden. Auch das waren ja unbestreitbar Tötungen im weitesten Sinne des Ausdrucks.

      Vergessen wir auch nicht, dass im Dekalog bereits angekündigt wird, was wir weiter im Text dann geschildert finden und was – mit heutigen Begriffen – Völkermord wäre: „… auf dass du lange lebst in dem Lande, das ich dir geben werde.“ Dieses „Geben“ des verheißenen Landes war doch etwas, das durchaus nicht unblutig vor sich ging, oder wissen Sie Anderes?

      Wer auf das fünfte Gebot verweist, um sich eine differenzierte Lagebeurteilung zu ersparen, deutet es in aller Regel bereits in einer Weise, die der Satz – für sich genommen – überhaupt nicht hergibt: „Du sollst keine Menschen töten.“

      Ich sehe zwei theologische Auswege. Entweder: Die Tötungen von Feinden und Sündern, das Niederbrennen ihrer Städte und das Abschlachten ihrer Familien, das waren gar keine Tötungen durch Menschen, sondern Gott hat durch seine Diener getötet. Oder: Das Gebot lautet eigentlich (und sprachlich wäre das in der Tat korrekter) „Du sollst nicht morden.“ Ein Mord ist ohne Zweifel Definitionsfrage, was Spielräume eröffnet.

      Die Rechtstexte des Alten Testaments behandeln das Thema. Sie kommen jedenfalls nicht zu dem Schluss, dass Gott ein Volk wehrloser Lämmer gewünscht habe. Eher ist das Gegenteil zu bilanzieren.

      Da doch aber das Thema Töten – und wann und warum man es darf – in der Bibel so außerordentlich präsent ist, drängt sich doch auch dem Gläubigen die Frage auf, warum (zum Beispiel) das Unterthema Sterbehilfe nirgends klar auseinandergesetzt ist. Es hat doch ohne Zweifel auch die Zeitgenossen beschäftigt. Nehmen wir Saul, der nach verlorener Schlacht assistierten Suizid erbat und ihn schließlich selbst beging. Nicht einmal Judas‘ Selbstmord wird in der Bibel moralisch näher eingeordnet, wenn man es genau nimmt. Stattdessen: Zumeist beiläufige, nüchterne Erwähnungen, in manchen Fällen sogar positive Bewertungen des Geschehens.

      Ebenso wie bei analog gelagerten Debatten muss man also fragen: Wenn Gott dergleichen missbilligt, warum sind dem Basisgebot denn keine näheren Erläuterungen beigestellt, die diese Missbilligung klar zum Ausdruck bringen? Wo doch zugleich der Text so schmerzhaft deutlich zeigt, dass die Menschen der Bibel von einer solchen Missbilligung nichts wussten und auch nicht dafür bestraft wurden, sie nicht angenommen zu haben? Wenn Gott eine rigide Deutung befürwortet, warum ist man genötigt, weite Abschnitte der Bibel zu ignorieren, regelrecht zu verleugnen, wenn man sie vertreten will?

      Religion ist immer Rosinenpickerei. Ich mach’s genauso. Aber insgesamt, Hans, kann man als liberaler Mensch einen größeren Teil des Textkorpus sinnvoll integrieren.

      1. avatar

        @M.S.

        … nun werter M.S., Hr. Walther hat nach einem Tötungsverbot in der Tora gefragt. Das habe ich mit dem Dekalog beantwortet … und vornweg; die hebräische Bibel ist eine kulturelle Gedächtnisgeschichte und keine ‘Darstellung konkreter Ereignisse‘. Daher kann und will ich die Tora gar nicht weiter kommentieren. Das können andere besser.

        … aaaber; ‚die christliche Glaubenslehre kennt ein Naturrecht auf Notwehr und Selbstverteidigung. Das ist keine Perversion der Friedensbotschaft Christi, sondern ihre praktische Umsetzung. Die Aufforderung Jesu zum radikalen Gewaltverzicht in der Bergpredigt (Mt 5, 38ff.) bezieht sich nicht auf konkrete Handlungen, sondern auf die innere Haltung des Menschen, die praeparatio cordis (Haltung des Herzens), wie Augustinus es nannte. Die innere Haltung des Christen sagt ihm: Krieg ist ein Übel, auf das nur nach Ausschöpfung aller friedlichen Mittel zurückgegriffen werden darf. Die Voraussetzung eines Krieges ist immer die Verfehlung des Anderen, denn ’nur die Ungerechtigkeit der Gegenpartei nötigt dem Weisen gerechte Kriege auf‘ (Augustinus). Dieses Übel kommt in einem eschatologischen Sinne auch dem ungerechten Gegner zugute, da er so in die von ihm verlassene Ordnung zurückkehren kann. Mit dieser erzwungenen Umkehr orientiert man den Kriegsauslöser wieder auf Gott hin und trägt damit letztlich dadurch dem Gebot der Feindesliebe Rechnung. Ließe man den Ungerechten gewähren, entfernte er sich in dem Irrglauben, seine Ungerechtigkeiten würden sich lohnen, mehr und mehr von Gott, dessen letztem Urteil er sich jedoch nicht entziehen kann.‘ (zitiert)

        … kurz zu sogenannten ‚Sterbehilfe‘. Ein Schritt weiter und es ist Euthanasie. Die ‚Diskussionen‘ um den Schwangerschaftsabbruch sind der Beweis. Wer sind die Klaukschieter, die darüber urteilen was lebenswert oder lebensunwert ist?

      2. avatar

        Lieber Hans,

        ich nehme an, Sie meinen mit Euthanasie den Altenmord, den Krankenmord und den Mord an Menschen mit Behinderung. Eigentlich tut man dem Begriff damit unrecht, dass man ihn auf seine Indienstnahme im Nationalsozialismus verengt, denn er ist älter und weitläufiger. Aber das nur am Rande.

        Sie werden sich als Christ nichts vormachen und selbst erkennen, dass Ihre Argumentation inkonsequent ist: Ja, das Alte Testament ist kulturelle Gedächtnisgeschichte. Andererseits ist das darin Berichtete sehr konkret; sind die Texte auch für konkrete Zwecke entworfen (Geschichtsbericht, Rechtsgebrauch, Propaganderzählung und Einiges mehr). Konkret war es auch für Jesus und die Apostel, denn sie setzten sich damit auseinander, beriefen sich darauf, bekräftigten und deuteten. Altes und Neues Testament sind organisch verwoben – man kann nicht das erste beiseite schieben und auf das zweite bestehen. Ob es sich um tatsächliche Ereignisse handelt, ist eine andere Frage. Heute sehen das in Europa selbst die Verbissensten meist nicht mehr so. Tatsache bleibt: Das Tötungsverbot ist offensichtlich in der Geschichte des Judentums lange nicht so ernst genommen worden, wie man es angesichts der Absolutheit der Formulierung erwarten würde. Und diese Diagnose gilt unabhängig davon, ob man in den Texten Tatsachenberichte sieht oder mehr die Absichten von Chronisten, die Erwartungen ihrer Auftraggeber und die Bedürfnisse ihres Publikums. Man muss dafür auch kein Hebraist sein.

        Es amüsiert mich, dass Sie sich einerseits auf Augustinus berufen, der ja nichts Anderes getan hat, als das römische Konzept vom gerechten Krieg in die christliche Dogmatik einzubinden, während Sie andererseits fürchten, durch Abweichung vom Tötungsverbot bei Abtreibungen und Sterbehilfe würde uns die „Euthanasie“ drohen.

        Denn: Wer entscheidet, wann Notwehr berechtigt ist? Bis wohin sie reicht, was sie darf? Wann wird die Selbstverteidigung zur Aggression? Gegen was darf man sich überhaupt zusprechen, im Verteidigungsmodus zu sein, und was muss man ertragen? Wie ich Ihnen an anderer Stelle schon einmal sagte: Der eigene Hass ist immer gerechter Zorn, die eigene Aggression immer verzweifelte Abwehr. Es hat in den letzten zweitausend Jahren mit Sicherheit keinen Krieg gegeben, in dem der Agressor sich nicht für bedroht gehalten hat. Augustinus löst also nichts – außer den in der Bergpredigt geforderten Gewaltverzicht theologisch auf.

        Freilich: Jesus hat in der Bergpredigt ebenso gesagt „Gebt nicht das Heilige den Hunden; werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie diese nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.“ (Mt 7,6) Eigentlich hat man es als Christ also (wie ich finde) gar nicht so schwer, zu erkennen, dass auch absolute Formulierungen mehr Anspruchshaltungen darstellen und Vorsicht und Vernunft nicht außer Kraft setzen.

        Aber darum ging es Augustinus auch nicht. Es ging ihm darum, das Christentum als staatstragende Ideologie tauglich zu machen, und dieses Ziel hat er erreicht. Wo immer Christen im Namen Jesu Länder erobert und Völkermorde verübt haben, war Augustinus mit dabei. Das gilt bis heute.

        Beim Thema „Notwehr und Selbstverteidigung“ muss man den Dammbruch also fürchten, Hans. Er passiert verlässlich in allen Kriegen unserer Zeit. Bei Sterbehilfe hingegen nicht. Denn man kann es gut und schlüssig begründen, warum ein unheilbar Krebskranker selbstbestimmt sterben dürfen sollte, ein depressives junges Mädchen aber nicht. Warum zwei verdiente Künstlerschwestern, die die durchschnittliche Lebenserwartung ihrer Generation weit übertroffen haben und sich am Ende eines beschwerlichen Weges nicht trennen wollen, gehen dürfen. Einen Leidensdruck und seine Lösbarkeit sowie die Chancen, die das Leben einem Menschen noch bietet, kann man im Allgemeinen sehr gut ins Verhältnis setzen.

        Vielleicht sagen Sie: Das mag die Gegenwart sein; was aber, wenn das Konzept in einer schlechteren Zukunft etabliert ist und in grausamen Händen pervertiert wird? Ich denke, dieses Risiko dürfen wir eingehen. Denn dort, wo die Pervertierung tatsächlich stattgefunden hat – im Dritten Reich insbesondere – lag das an vielem. Aber sicher nicht daran, dass Sterbehilfe damals legal, tabubefreit und selbstverständlich gewesen wäre. Formal war sie die ganze Zeit strafbar.

        Das eigentlich Unbequeme für Hardliner ist ja, dass die Bibel hier – wie gesagt – eben nicht ohne Weiteres Antworten liefert. Ist das für Sie Klugscheißerei? Bitte, gern geschehen.

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